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Zu viel Dramatik, zu wenig Wissen

Im Essay „Warum Worte Werte Werte prägen“ warfen Sanja Stankovic und Carolin Neumann den Journalisten vor, mit falschen Begriffen das Bild vom Internet zu verzerren. Kommunikationswissenschaftler Sandor Ragaly antwortet: Es ist nicht nur ein Sprachproblem. Journalisten kennen ihre Themen zu wenig.

In ihrem VOCER-Essay „Warum Worte Werte prägen“ kommen Stankovic und Neumann zu dem Ergebnis, die journalistische Sprache bei der Berichterstattung über das Internet und seine Probleme sei unangemessen. Sie enthalte viele abwertende, dramatisierende Schlagworte und fehlleitende Neuschöpfungen wie die „Datenkrake“, den „Internettäter“ oder „Internetaktivisten“.

Ich kann nicht alle Beispiele der Autorinnen teilen, weil sie in zu freier Weise vom Rezipienten ausgehen, beziehungsweise davon, was dieser bei den betroffenen Begriffen denken könnte.

Die Begriffe an sich sind jedoch recht sachlich, die Handlungsweise der Journalisten, was die Begriffsbildung für sich genommen angeht, ist mithin nicht das Problem: „Cyberkriminalität“, die RTL2-Sendung „Tatort Internet – Schützt endlich unsere Kinder“ (wohlgemerkt, hier geht es zunächst nur um die Begriffe), Pädokriminelle, als „Internettäter“ bezeichnet, „Cybermobbing“ – das sind, bis auf das reißerische „Tatort Internet“, Fälle, die zwar je nach Art und Intensität der Verwendung und der Einstellung der Rezipienten Ängstlichkeit hervorrufen können, die aber per se relativ sachlich sind: Kriminalität, Mobbing und Kindesmissbrauch, bei denen das Internet das zentrale Mittel, beziehungsweise auch den Ort der Handlung darstellt, sind mit zusammengesetztem Begriffen korrekt bezeichnet. So, wie es andererseits Mobbing an Schulen gibt, gibt es das spezifische „Internetmobbing“; wie es Drogenkriminalität oder Taschendiebstahl gibt, gibt es „Internetkriminalität“.

Auch abgrenzende Begriffe wie „Nerd“ versus „Internetausdrucker“ halte ich für recht „softe“ Gruppendefinitionen, die ausgesprochen wenig Ressentiments enthalten, fast etwas Neckendes haben. Die Konnotation von „Nerd“ wandelt sich ja sogar zunehmend ins Positive, man schaue sich nur mal die Piratenpartei an.

Anders sieht es dagegen mit bildhaften, hoch aufgeladenen und zugleich vage-phantasieanregenden Begriffen aus. Etwa der „Datenkrake“ (Google, Facebook), die tatsächlich dramatisieren und entsprechend abschrecken kann, gerade Netz-Unerfahrene, zum Beispiel – aber nicht nur – ältere Menschen.

Schlagwort, Stereotyp – nützlich oder schädlich?

Schlagwörter wie „Datenkrake“ sehe ich als die für Journalisten handliche Spitze des Eisbergs, die zugleich aber inhaltlich teils im Nebel steckend und deswegen schwierig ist. Man stelle sich einmal vor, dieser Eisberg beherberge im Ganzen die gesellschaftliche Kommunikation über einen geradezu revolutionären Wandel infolge digitaler (Netz-)Technologie. Das heißt als Folge der Dynamik und Durchschlagskraft der zweiten breiten Computerrevolution, nämlich der netzbasierten (als die erste bezeichne ich die breiten Umbrüche im Zug der Heimcomputer- und PC-Revolution seit den achtziger Jahren). Dieser Wandel bringt eine starke Neuorientierung in vielen Bereichen mit sich, neue Werte (oder neue Prioritäten, siehe etwa im Fall von „Transparenz“), Hoffnungen und Enthusiasmus und auch viele Ängste und Unsicherheiten (sowie ihre unter anderem journalistische Ausnutzung), was sich entsprechend in der Kommunikation und in einzelnen Begriffen niederschlägt.

Aufgrund der Rasanz und Tragweite des Themas fällt die Kommunikation darüber recht vielfältig-bunt, oft vage, unausgegoren und zum Streit auffordernd aus. Schlagworte wie „Datenkrake“, stereotype Wendungen, Klischees und Kampfbegriffe spitzen die dynamisch-unruhige Kommunikation über die Internet-Thematik zu, und besonders Journalisten greifen unter dem Druck des raschen Routinebetriebs bei dem oft komplexen Thema auf sie zurück.
Das ist verständlich und auch nicht ausschließlich negativ – auf den konkreten Fall kommt es an. Walter Lippmann, der Journalist und Pionier auf dem Gebiet der Stereotype, schrieb bereits 1922 in seinem Buch „Public Opinion“:

In the great blooming, buzzing confusion of the outer world we pick out what our culture has already defined for us, and we tend to perceive that which we have picked out in the form stereotyped for us by our culture.

Stereotype helfen uns, sie sind zum Teil sogar unverzichtbar, um komplexe und – wie in diesem Fall – neuartige Phänomene handlicher zu machen, die Komplexität auf ein Maß zu reduzieren, das nicht überfordert. Zugleich können sie sich aber auch, etwa in Verbindung mit Ressentiments und im Übermaß (bis zur Hineinsteigerung) sehr negativ auswirken. „Nerd“ und „Datenkrake“ sind solche Stereotype, die teils die Probleme der Menschen mit neuen Entwicklungen ausdrücken. Sie werden auch im Rumpf des Eisbergs kommuniziert, zugespitzt aber auch in Form von Schlagworten debattiert.

Ausgrenzung statt Integration

Schlagworte wie die „Datenkrake“, aber auch die oft naiv-positive Verwendung von „Transparenz“ dramatisieren und verschleiern teils wichtige Inhalte rund um das Internet. Leidtragende dürften vor allem die Netz- und Computer-Unerfahrenen, tendenziell eher ältere Bürger, beziehungsweise technikfernere Menschen sein; zur Zeit des ersten Siegeszugs der „Mikrocomputer“ ab den Achtzigern wären hier auch Frauen aufzuzählen gewesen.
Bürger dieser Gruppen werden durch die aufgeheizte, häufig negativ konnotierte Sprache unter Umständen abgeschreckt und/oder sie weisen größere Verständnisprobleme auf.

So kann letztlich ohne Not eine gewisse Ausgrenzung und ein sich selbst verstärkender Prozess stattfinden: Internet-Unerfahrene lassen sich durch die Medienberichte in ihrer Zurückhaltung bestärken und verzichten von da ab umso mehr darauf, wichtige Informationen zum Thema aufzunehmen, sich mit ihm noch mal zu befassen. Von potenziellen Nachzüglern werden sie zu „Abgehängten“, und die Kluft zwischen ihnen und schon den gewöhnlichen, mäßigen Internetnutzern wird immer größer.

Das aber ist nicht akzeptabel in einer Gesellschaft, die zwar noch mitten im Übergang in die Netzgesellschaft steht, in der das Internet aber bereits jetzt weitgehend wesentliche Basisaufgaben übernommen hat.

Wissensmängel als Ursache

Mit dem Lippmann-Zitat wurde bereits eine zentrale Rolle von Stereotypen aufgezeigt, die auch das Handeln der Journalisten erklären helfen kann. Näher betrachtet lassen sich die folgenden Gründe differenzieren:

Eine Wurzel sind dabei die Kapazitätsmängel der Redaktionen und Journalisten, die wissensmäßig mindestens teilweise überfordert sind durch die kurzen Innovationszyklen und die revolutionsartige Dynamik im Bereich digitaler Vernetzung. Zu wenig zu wissen beziehungsweise den Fakten hinerherlaufen zu müssen, begünstigt Verschiedenes (Dies sind zum Teil erste Überlegungen und Beobachtungen).

  • Unter anderem eine falsche Einschätzung von Risiken, in Verbindung mit vorhandenen Ängsten und Unsicherheiten des Journalisten oder dem Abzielen auf solche des Publikums (oder beidem): systematische Verzerrung nach oben/Übertreibung von Risiken;
  • Zugleich jedoch: Mitgerissensein/Naivität/Mitläuferprinzip infolge allgemeiner Euphorie beziehungsweise einseitig positiver Deutungsmuster des Mainstreams zu bestimmten Themen. Das heißt: aus Wissensmangel und mangelnder eigener Meinungstiefe werden wichtige Sachverhalte unkritisch-naiv beurteilt, etwa in Form des geradezu „Anstaunens“ der Piratenpartei in früheren Phasen, selbst durch Spitzenpolitiker anderer Parteien, durch Medien und durch die sie trotz aller Vagheit wählenden Bevölkerung, obgleich Strukturprobleme absehbar waren. Oder auch was die Begriffe „Transparenz“, „Offenlegung“, „Information(sfluss)“ angeht, die häufig als uneingeschränkt positives Prinzip präsentiert werden. So war es zum Beispiel bei Wikileaks, auch wenn deren Skandal der zuletzt wahllosen Massenveröffentlichung von Dokumenten einen Dämpfer gab. Und nicht zuletzt bei Hypes, wie dem um Apple. Wie häufig wird oder wurde vor lauter Mitmachen erwähnt, dass eine iPad-„Tastatur“ aus unnachgiebigen „Glastasten“ schlecht sei?
  • Fehlendes Wissen begünstigt aber auch die bewusste Verschleierung, indem Berichterstatter statt klar definierter Begriffe eine vage Metaphernsprache und multi-dimensionale Bilder mit entsprechendem Freiraum für den Leser bei der Interpretation im Einzelnen verwenden.
  • Und schließlich: Fehlendes Wissen kann gegebenenfalls durch eine umso energischere Meinungsgebung oder Bewertung kaschiert werden. Ja, es kann sogar die Behandlung eines Themas erleichtern, sich dabei nicht von allzu viel Faktenkenntnis zu Differenzierungen zwingen zu lassen.

Negativismus hat „Nachrichtenwert“

Bei genauer Betrachtung der Problematik komme ich jedoch – gegenüber dieser reinen Kapazitätsfrage – zu einem anderen, größeren Problem, das meines Erachtens erst den Kern der oft dysfunktionalen Kommunikation über Internet- beziehungsweise digitale Themen ausmacht: Das Hauptproblem mit den Schlagworten, das auch primär für eine Abschreckung internetferner Bürger sorgen dürfte, ist der Negativismus der Berichterstattung in diesem Bereich. Dieser zieht sich sowohl durch die Schlagworte, aber auch generell durch die Inhalte der betreffenden Artikel – durch den gesamten Eisberg also.

Vielleicht, um im Bild zu bleiben, ist sogar das weniger plastisch auftrumpfende Negative im Rumpf des Eisbergs aufgrund von Menge und schlechterer Erkennbarkeit die größere Gefahr – auch die Titanic scheiterte nicht an der Spitze des Eisbergs, die bekanntlich aus dem Wasser herausragt, sie fuhr gegen dessen unsichtbaren, aber riesigen und tödlichen Rumpf.
Das Negativismusproblem betrifft mithin Schlagworte, Stereotype und Kampfbegriffe, aber auch überhaupt den Ansatz und den Inhalt von Medienbeiträgen. Und die Haupttriebfeder für Journalisten und Medien, das Thema in dieser Weise systematisch in einseitiger Weise negativ darzustellen, ist wiederum mit einer empirisch sehr bewährten medienwissenschaftlichen Theorie begründbar: der Nachrichtenwerttheorie, deren Erkenntnisse sich auch als professionelle Normen in journalistischen Lehrbüchern finden.

In diesem Fall geht es um das Motto: „Only bad news are good news!“ Entspricht ein Ereignis, Sachverhalt oder auch zuvor erschienener Beitrag dem so genannten „Nachrichtenfaktor“ Negativismus, so erhöht das seine Chance, von Journalisten ausgewählt und veröffentlicht zu werden – letztlich, weil angenommen wird, und das ist empirisch zu einem Teil ebenfalls nachgewiesen, dass das Negative auch den Leser besonders anziehen wird. Es ist eine berufliche Norm im Journalismus, die jedoch von Fall zu Fall auch stark übertrieben angewendet wird, gerade auch im Bereich Internet-Berichterstattung.

Zusätzlich wirken in diesem Fall noch andere Nachrichtenfaktoren, etwa Betroffenheit und Tragweite: Je mehr Menschen von einem Sachverhalt betroffen sind – im Fall von Google sind das oft sehr viele – desto höher die Chance auf Publikation.

Doch Negativismus kann als besonders wichtiger und klassischer Faktor gesehen werden. Er führt dazu, dass (auch potenzielle) Schäden, Konflikte, Probleme und Gefahren in Zusammenhang mit Netzthemen, bevorzugt ausgewählt und mit dicken Lettern ausgeschmückt werden, weil sie die Publikationswürdigkeit aus journalistischer Sicht stark erhöhen. Ihre Publikation ist für den intensiveren Netznutzer dabei oft so durchschaubar dramatisiert, dass ich sagen möchte, diese Berichte richten sich an die Nicht-Nutzer, die die Argumente nicht falsifizieren können – umso weniger, da es um ein neues, komplexes Thema geht, bei dem selbst Experten an ihre Grenzen stoßen, wenn es darum geht, die weitere Entwicklung vorherzusagen. Anspruchsvollere Fachangebote wie „c’t“ oder auch „Chip“ dagegen könnten sich solche „Angstmache“ gar nicht leisten – sie würden bei ihren kundigen Lesern bald ihren Ruf verspielt haben.

Negativismus als Handwerk

Anders jedoch als redaktionelle Wissensmängel betreffen solche Nachrichtenwert- beziehungsweise kommerziellen Triebkräfte journalistische Muster, die zum großen Teil Usus, „bewährte“ Arbeitsroutine sind, und die vor allem mehr oder weniger gelernte, bewusst praktizierte und redaktionell gewünschte Strategien zur Steigerung der Leserschaft darstellen.

Das bedeutet, dass es hier im Gegensatz zur Frage der Kapazitätsverbesserung nicht etwa nur um die Schwierigkeiten geht, etwas grundsätzlich Gewünschtes und Wichtiges zu realisieren – hier geht es vielmehr um einen prinzipiellen normativen Konflikt, um Kritik an eingefleischten sprachlichen und inhaltlichen Mustern des Journalismus, die zwar vermutlich negative gesellschaftliche Folgen nach sich ziehen, dem betroffenen Massenmedium jedoch (zumindest vordergründig) nützen.

Daher ist mir unklar, in welcher Weise an diesem Punkt angesetzt werden könnte. Kampagnen (von welchem Akteur auch immer), Selbstverpflichtungen, Branchenvereinbarungen? Eventuell ist die Problematik nicht brisant genug oder sie lässt sich zu schlecht kommunizieren. Womöglich sind die Handlungsmuster zu tiefgehend, als dass solche Ansätze realistisch wären. Vermutlich bleibt nur der moralische Appell an den einzelnen Journalisten und die Möglichkeit, dass etwaige Verbesserungen journalistischen Wissens sich positiv auswirken.

Verbesserung der Wissensbasis

Auf diesem Gebiet ließe sich eher etwas verändern. Hier geht es nicht um einen tiefen Eingriff in die Strukturen journalistischer Nachrichtenauswahl und Professionsnormen. Vor allem und im Gegensatz zum Negativismusproblem werden ja die Kapazitätsprobleme des internetbezogenen Journalismus den Redaktionen von der raschen Innovationsfolge, der Komplexität der Neuerungen und der bei dieser Dynamik kaum abschätzbaren Richtung aufgezwungen.

Einer Verminderung ihrer Schwächen werden sie also wohl grundsätzlich positiv gegenüberstehen. Hier geht es – als Professionalisierungsansatz – darum, die Kenntnisse der Journalisten, ihre Aus- und Weiterbildung kontinuierlich zu verbessern, aber auch, bereits in der Schule den intuitiven „Draht“ und die Kritikfähigkeit gegenüber den betroffenen Technologien entwickeln zu helfen. Was die permanente Aus- und Weiterbildung angeht, so ist es an den Medien und Journalisten, Zeit und Geld in solche Kapazitätsbildung zu investieren.

Derzeit ist das sicherlich schwierig angesichts der ökonomischen Probleme der Presse. Eventuell könnte das zunehmende technische Wissen in der Bevölkerung  mehr und mehr dazu führen, dass Vorreiter-Medien bezüglich der Internetberichterstattung auch mehr Leser an sich ziehen. Dies läge zugleich im individuellen Eigeninteresse der Journalisten, sich „fitter“ zu machen für die Zukunft. Und schließlich wären durchaus auch Initiativen des Staates sinnvoll, die für die Aus- und Weiterbildung – auch von internetferneren Bürgern – Ressourcen bereitstellen.
Die Problematik wird mit steigendem Wissensstand, steigender Erfahrung und Intuition auf Dauer immer mehr marginalisiert werden.

Bis dahin jedoch werden sich viele Bürger weiterhin ausgegrenzt fühlen, wenn nicht bereits vorher aus journalistischer und medialer Initiative heraus eine Veränderung des Schlagwortstils, des negativen Aufbauschens und Schwarzmalens stattfindet.

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