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Das Internet braucht Grenzen

Das Internet bietet viele Möglichkeiten – es ist aber nicht alles erlaubt. Und das ist gut so, schreibt Lothar Mikos in seinem Plädoyer für eine Zivilisierung des Webs.

Das Internet. Was ist in den vergangenen Jahren nicht alles darüber gesagt und geschrieben worden – nicht nur online, sondern auch ganz „old school“ auf gedrucktem Papier. Lange schien es so als würden die Hippieträume der 1960er Jahre von einer Welt in Frieden und Wohlstand endlich wahr werden. Doch diese Vorstellungen, die mit dem Internet verbunden waren, hatten mit der Realität wenig zu tun. Sie haben sich als Illusionen entpuppt. Umso größer ist die Enttäuschung bei denjenigen, die diese illusionäre Ideologie massiv gestützt und verbreitet haben. Seit der Aufdeckung der globalen NSA-Spionage durch Edward Snowden ist selbst Sascha Lobo skeptisch geworden und hat seiner Enttäuschung Luft gemacht. Jüngst hat Mercedes Bunz verkündet, das Internet sei nun in der vierten Phase seiner Entwicklung angekommen, dem der Ernüchterung, denn so konstatiert sie im Tagespiegel vom 17. Mai diesen Jahres: „Der utopische Glaube an eine bessere Welt dank des Internets ist verflogen.“ Auch weil mit dem Internet nicht automatisch demokratisches Handeln verbunden sei. Nicht nur die NSA-Überwachung auch Shitstorms aller Art, Mobbing und die Verbreitung von Kinderpornographie haben nicht gerade zu einer demokratischen Kultur einer Zivilgesellschaft beigetragen.

Das Internet hat sicher viele Dinge vereinfacht, die Möglichkeiten der weltweiten Kommunikation mit dem Austausch von Texten, Tönen, Bildern, Videos etc., die Möglichkeiten der weltweiten Ausspähung von Bürgern, Wirtschaftsunternehmen, Verbänden und staatlichen Institutionen, den weltweiten Zugang zu Produkten ebenso wie zu Kultur, die Möglichkeiten der Partizipation, aber eben auch die Möglichkeiten der Denunziation und der Beleidigung. War der Stammtisch früher eine örtlich begrenzte Teilöffentlichkeit, die als Negativfolie für politische Partizipation und soziales Engagement galt, ist er nun in der Öffentlichkeit des Internet angekommen. Dies mag auch damit zusammenhängen, dass sich die Grenzen zwischen Privatheit und Öffentlichkeit verschoben haben – das Private ist zwar politisch, aber nicht unbedingt öffentlich. Der Terror der öffentlichen Privatheit führt nur zum Verschwinden von politischer und sozialer Partizipation, weil sie den Ort der Öffentlichkeit als Ort der gesellschaftlichen Kritik diskreditiert.

Das Internet ist nicht frei, es bietet lediglich eine technische Infrastruktur, die von globalen Konzernen bereitgestellt wird, um damit Geld zu verdienen. Als technische Struktur ist es weder demokratisch noch undemokratisch, weder frei noch unfrei, weder privat noch öffentlich, weder moralisch noch unmoralisch. Es kommt auf die Anbieter und die Nutzer an, auf den Staat und gemeinnützige Organisationen. Das Internet an sich hat keine Bedeutung, sie wird ihm von Konzernen, die mit ihm Geld verdienen wollen, und von Nutzern, die es zu eigenen Zwecken nutzen – wenn sie denn darin frei sind. In seinem neuen Buch hat Jaron Lanier noch einmal darauf hingewiesen, das das Internet oft mit dem Wilden Westen verglichen werde, „mit einen Pionieren und Banditen und dem Versprechen von kostenlosem Land“. Doch im wahren Westen war dieses Land nur über eine Eisenbahn zu erreichen, die das Monopol auf die schnelle Eroberung des Westens hatte. Und im wahren Internet ist die vermeintlich kostenlose Freiheit nur zu erreichen, wenn man Internetanschlüsse von Unternehmen der Telekommunikationsbranche nutzt, und wenn man Suchmaschinen und soziale Netzwerke nutzt, die Big Data sammeln, um diese an Werbekunden zu verkaufen. Die geneigte Nutzerin hat lediglich die Wahl, welchem Telekommunikations- und Internetkonzern sie zu mehr Profit und mehr Macht verhelfen will.

Das Internet existiert nicht unabhängig von den Gesellschaften, in denen es genutzt wird. Daher bedeutet das Internet in China etwas anderes, als in Ägypten oder Schweden. Es bietet die technische Möglichkeit Informationen grenzenlos zu verbreiten und Kommunikation über große Entfernungen zu ermöglichen, jeder Anbieter ist irgendwo auf der Welt lokalisiert, und dort gelten bestimmte juristische, ökonomische, politische und soziale Bedingungen. Das gleiche trifft auf die Nutzer zu. Während ein Nutzer für eine öffentliche Kritik am politischen System in Russland verurteilt und ins Arbeitslager geschickt werden kann, kann ihm dies in Deutschland nicht passieren, weil der Arm des russischen Gesetzes nicht bis nach Deutschland reicht. Während eine Nutzerin in Deutschland für illegale Downloads von Filmen verurteilt werden kann, würde ihr dies in China vermutlich nicht widerfahren. Die Beispiele zeigen, dass man im Internet längst nicht alles machen kann, auch wenn dies manchmal so scheint. Und das ist gut so.

Das Internet braucht Grenzen, genauso wie Kinder Grenzen brauchen, wenn sie zu einem sozial verantwortlichen Individuum erzogen werden, das gemeinschafts- und gesellschaftsfähig ist. Das Internet ist davon noch weit entfernt. Während in Unternehmen und Institutionen Compliance-Regeln und sogenannte „Code of Conducts“ ein ethisches Grundverständnis definieren, und in sozialen Zusammenhängen wie Vereinen und Verbänden oder Orten sozialer Zusammenkunft wie Restaurants geschriebene und ungeschriebene Regeln des Miteinanders gelten, scheint dies im Internet nicht der Fall zu sein.

Kürzlich hat das Deutsche Institut für Vertrauen und Sicherheit im Internet (DIVSI) einen Bericht vorgelegt, der den Titel trägt: „Braucht Deutschland einen Digitalen Kodex?“. Die Antwort fällt positiv aus, auch wenn konkrete Vorschläge für einen Kodex nicht gemacht werden. Stattdessen werden Bereiche definiert, in denen die Verhaltensregeln greifen sollen, ein sachlicher, ein inhaltlicher und ein persönlicher Anwendungsbereich. Ein digitaler Kodex müsste für Plattformen, für Anbieter und für Nutzer gelten. Der Staat bzw. die Staatengemeinschaft könnte bei der Implementierung eines digitalen Kodex eine wichtige Rolle spielen, und das muss er auch, da seine Regulierungsbestrebungen nur schwer durchsetzbar sind. Ein digitaler Kodex müsste zumindest die Selbstverpflichtung aller Akteure beinhalten, sich diesen Verhaltensregeln zu unterwerfen.

Das Internet kann und sollte nicht außerhalb der Zivilgesellschaft existieren, es muss in sie integriert werden. Das Internet muss zivilisiert werden, um die Phase des Wilden Westens hinter sich zu lassen. Es muss sich den allgemeinen Regeln unterwerfen, die eine gelingende Zivilgesellschaft ausmachen. Erst dann wird es seiner kulturellen Rolle gerecht.


Dieser Beitrag von Lothar Mikos ist zuerst in „Politik & Kultur“ des Deutschen Kulturrats erschienen.

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