Das unabsehbare Ende des Social-Media-Booms
Stefan hat Red-Bull-Zigaretten für sich entdeckt. Thomas will sofort wissen, wo es die gibt. Ich kenne Stefan, hatte aber vergessen, dass er raucht. Thomas kenne ich nicht, muss einer von Stefans Freunden sein. Davon hat Stefan eine Menge, fast 500 Menschen zählt er zu seinen Facebook-Kontakten.
Ich mag Stefan. Fast jeden Tag bringt er mich zum Schmunzeln. Dabei haben wir uns in den vergangenen Jahren nur sehr selten gesehen. Eigentlich nur alle paar Jahre mal. Ohne Facebook und Twitter hätten wir uns längst aus den Augen verloren. Gut, dass es diese sozialen Netzwerke gibt. Und am Ende: auch wieder nicht so wichtig, oder? Doch. Sehr.
Seit es das Internet gibt, zumindest in seiner populären Variante, dem World Wide Web, neigen unbedarfte Beobachter dazu, vom Kleinen auf das große Ganze zu schließen. Greife ich mir nur Stefan und die Red-Bull-Zigaretten heraus, dann stimmt der Spruch von Blogs (alias Social Media) als den Klowänden des Netzes. Das Internet kann man aber nur begreifen, wenn man Abstand zwischen sich und die einzelne Veröffentlichung bringt.
Wie bei einem Mosaik fügt sich das Bild erst in der Totale zusammen. Betrachtet man das Internet aus dieser Perspektive, dann versteht man, dass es mächtiger ist als jede Netzinfrastruktur, die bisher Gesellschaften verändert haben. Mächtiger als die Eisenbahn, der Telegraph und städtische Abwasserleitungen zusammen. Das Internet baut unsere Gesellschaften neu. Wir bauen sie neu. Mit dem Netz. Nur wissen wir noch nicht, wie. Nur dass kein Bereich unseres Lebens unangetastet bleibt. Social Media spielt dabei eine entscheidende, ja, vielleicht die entscheidende Rolle.
Seismograph digitale Meute
Ein Wegweiser für unsere Reise in eine unbekannte Welt ist die digitale Meute, eine kleine Gruppe von Menschen, die immer vorne mit dabei ist, wenn es um das nächste große Ding online geht. Vor ziemlich genau fünf Jahren entdeckten sie Twitter für sich – einige von ihnen geben heute zu, dass sie den Kurznachrichtendienst dereinst noch nicht begriffen haben (ich gehöre dazu). Twitter war 2006 gegründet worden und schwappte Anfang 2007 nach Europa über. Facebook war da schon gut zwei Jahre alt, wurde aber erst viel später richtig populär in Deutschland.
Auf diese beiden folgten viele weitere Netzwerke. Für jede Lebenslage gibt es heute ein Eigenes. Wer will, kann sein ganzes Leben im Internet hinterlegen.
Folgt man der digitalen Meute, passiert etwas Seltsames: Man trifft auf jeder Plattform dieselben Leute. Manchmal zieht die Gruppe von einem Dienst zum nächsten, manchmal beißt sie sich fest und bleibt (auch gerne unter sich), nur selten zieht sie eine Mehrheit der Internetnutzer nach. Passiert das doch einmal, ist die Elite vermutlich schon weiter gezogen. Dann wird auch mal eine Plattform totgeschrieben, obwohl sie noch quicklebendig ist: Twitter sei konzeptionell am Ende, bloggte zum Beispiel der Social-Media-Berater Nico Lumma im Sommer 2011. Doch auch heute, mehr als ein halbes Jahr später, ist er noch jeden Tag dort unterwegs.
Facebooks unwahrscheinlicher Boom
Ohne Beispiel ist der Aufstieg von Facebook: vom Online-Netzwerk für amerikanische Elite-Studenten zur Kommunikationszentrale für alle. Facebooks Wachstum ist selbst für eine Internet-Plattform erstaunlich, und Grenzen scheint es nicht zu kennen. Zweifellos tut das auch alles dafür, um weiter zu wachsen. Am besten wäre es für Facebook, wir teilten dem Netzwerk alles mit, auch unsere Vergangenheit.
Erst kürzlich hat Facebook seine Chronik für alle freigeschaltet. Mit dem neuen Lebensarchiv arbeitet die Plattform gegen den Lauf der Zeit. Für Jugendliche und junge Erwachsene ist Facebook heute immer mehr das, was der Anrufbeantworter gegen Ende der achtziger Jahre war: Eine Organisation des eigenen Lebens ohne diese Kommunikationsplattform scheint schier undenkbar. Doch selbst die jüngsten Facebook-Nutzer von heute sind fast doppelt so alt wie das Netzwerk. Selbst die Jüngsten haben also fast die Hälfte ihres Lebens ohne eine digitale Facebook-Timeline verbracht, diese also auch nicht gefüllt.
Bei den meisten Nutzern ist es freilich noch deutlich mehr Lebenszeit, die nicht auf Facebook hinterlegt ist. Das können jetzt alle nachholen: die Filme von ersten Krabbel- und Gehversuchen, die Bilder vom ersten Schultag und von der fast vergessenen ersten Freundin. Geht das nun endlos so weiter? Vermutlich nicht. Wie viel können wir teilen? Vielleicht alles. Theoretisch. Aber Teilen geht nur, wenn man mit jemandem teilt. Ein Twitter-Account ohne Follower ist schlimmer als Urlaub allein. Twitter ohne Follower und Facebook ohne Freunde ist Einzelhaft im Internet. Die Zahl derer, denen wir zuhören können, ist endlich – und damit auch der Boom der sozialen Medien.
Ein erstes Indiz dafür, dass der Aufstieg des Teilens nicht endlos ist, liefern die gewesenen Netzwerke wie die Google-Dienste Wave und Buzz. Dann gibt es noch ein paar Totgeweihte: Oder glaubt noch jemand, dass die VZ-Netzwerke langfristig überleben werden?
Social Media ist ewig
Soziale Netzwerke können also sterben. Soziale Medien insgesamt allerdings werden überleben, so viel scheint sicher. Die Generation der heutigen Kindergartenkinder wächst in eine Welt hinein, in der die heutigen Schüler und Studenten Privatheit und Öffentlichkeit ebenso neu definieren wie Freundschaft – in beiden Fällen zum Schrecken der Generation, die sich in den Achtzigern gegen die Volkszählung gestemmt hat. Soweit, so normal. Die langen Haare der Hippies fand die ältere Generation der späten sechziger und frühen siebziger Jahre schließlich auch furchtbar.
Nur: Facebook, Twitter und ihre Nachfolger sind eben mehr als ungewohnte Frisuren. Sie bewirken einen tiefgreifenden Wandel unserer Gesellschaft, den wir bisher kaum ermessen können. Dieser Wandel findet statt, er ist global, und niemand kann ihn aufhalten, am wenigsten die deutsche Politik, indem sie, wie kürzlich wieder, strengere Regeln für Facebook fordert.
Das Teilen, oder besser das Veröffentlichen von Hinweisen zum Fortgang unseres Alltags wird nicht mehr weggehen. Es entsteht gerade eine neue Kultur, öffentlich zu leben. Die Entwicklung ist zugleich rasanter als alles, was wir und Generationen vor uns erlebt haben. Keine Kommunikationsform hat sich bislang schneller ausgebreitet als die sozialen Netzwerke, allen voran Facebook. Mehr als 750 Millionen registrierte Nutzer in nur sieben Jahren, das hat selbst im Netz noch kein Unternehmen geschafft.
Die Internetentwicklung erfährt seit Jahren eine Beschleunigung. Uns steht nicht nur immer mehr Bandbreite zur Verfügung, sondern auch immer neue Dienste, deren gesellschaftliche Bedeutung immer größer wird. Waren Newsgroups und Mailboxen (Bulletin Board System) nützliche Dienste für nur wenige Geeks, veränderte E-Mail – an sich nur ein elektronischer Brief – nicht nur Arbeitsplätze, sondern ganze Unternehmenskulturen. Soziale Netzwerke dringen nun ins Private vor, sie verändern den Begriff „Freunde“, sie beeinflussen Beziehungen. Weil wir sie lassen. Soweit und solange wir sie lassen.
Die Folgen des Booms
Bisher ist die Branche auf Wachstum aufgebaut, ebenso wie die Mobilfunkunternehmen zwischen 1995 und etwa 2007. Irgendwann aber wird es keine neuen Nutzer mehr geben für Facebook, weil jeder einen Account haben kann, genauso wie jeder, der will, heute ein Handy hat – im Schnitt besitzt jeder Deutsche 1,3 SIM-Karten. Und irgendwann werden die Nutzer eine Grenze ziehen zwischen sich und Facebook; jenseits dieser Grenze wird es kein Teilen mehr geben.
Natürlich ist die vollständige Aufzeichnung des eigenen Lebens denkbar, ein Video- und Fotoalbum, das wir dank sekundengenauer GPS-Markierungen auch sekundengenau nachfahren können. Technisch ist das (bald) möglich. Sozial nicht. Es muss und es wird Grenzen geben.
Auf dem Weg zu neuen Grenze, die jede Generation für sich definieren wird und die auch innerhalb von Altersgruppen nicht einheitlich sein wird, wird es aber noch weiter aufwärts gehen. Wir wissen nicht, ob die heutigen Kindergartenkinder als Jugendliche ihren Alltag noch per Facebook organisieren werden, wie es heutige Schüler tun. Die Chancen stehen gut. Doch selbst wenn Facebook dann schon (fast) vergessen sein sollte, zum Anrufbeantworter werden sie nicht zurückkehren, das ist sicher.
Für unsere Gesellschaft und unsere Wirtschaft bedeutet das Internet einen beschleunigten Wandel von Kommunikationskultur und damit nicht nur unseres Alltags, sondern auch von Geschäftsprozessen. Zugleich bedeutet das Netz eine umfassendere Parallelität von alt und neu. Schließlich gibt es, das vergessen die Protagonisten der digitalen Meute gerne, nach wie vor Anrufbeantworter, ohne die ihre Besitzer ihren Alltag nicht organisieren könnten.
Unternehmen werden junge Talente nicht für sich gewinnen, wenn sie ihnen am Arbeitsplatz den Zugang zu ihren Netzen verwehren. Gleichzeitig werden sie die Älteren verlieren, wenn sie die Unternehmenskultur allein auf neuen Kommunikationsformen aufbauen. Die Vermittlung zwischen den Generationen wird immer schwerer werden – und umso wichtiger.
Eine neue Kommunikationskultur entsteht, ja eine neue Form von Öffentlichkeit und damit auch eine neue Form von Privatheit. Verhindern können wir das nicht. Warum sollten wir eigentlich?
Sicher, diese unsere neue Welt wird auch von Konzernen wie Google und Facebook geschaffen. Doch am Ende – und auch das vergessen wir gerne – sind wir es, die die Plattformen nutzen. Für unsere Bedürfnisse. Und damit machen wir sie zu dem, was sie sind: groß. Der Erfolg von Facebook ist eine Abstimmung mit den Füßen, mit unseren Füßen. Genutzt wird nur, was Nutzen bringt. Nur der Nutzen erschließt sich nicht jedem auf den ersten Blick. Ein zweiter aber, der lohnt sich meistens.