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Digitaler Big Bang

Die hundertjährige Ära, in der Redakteure Zeitungsseiten mit Nachrichten befüllten und Unternehmen damit noch große Renditen einfuhren, geht zu Ende. Ein Essay über die digitale Revolution – und warum der neue Journalismus noch so aus der Zeit gefallen wirkt.

Der Journalismus befindet sich seit geraumer Zeit in einer aphrodisierenden Begriffswolke aus Neologismen: „Web 2.0“ und „Social Media“, „Crowdsourcing“ und „Crowdfunding“, Open contra „Closed Web“, „Freemium“, „Open Source“, „User Generated Content“ oder Microblogging – dies sind nur einige der aus der Nerd-Kultur adaptierten Schlagworte, die den Beruf und seine eigentliche Kernbestimmung zu vernebeln drohen: Einst zu Kennziffern eines zeitgemäßen Neo-Journalismus erhoben, taugen sie inzwischen nur noch als abgewetzte Marketingfloskeln. Bemerkenswert dabei ist, dass ihre umtriebigen Souffleure zu Gurus der postpubertären Internet-Aura hochgejubelt werden, weil sie der anschwellenden Kontroverse um das Pflichterbe des professionellen Journalismus einen geheimnisumwitterten Glamour verleihen. Sie werden auch hierzulande gern konsultiert, hofiert, angehimmelt.

„Journalisten dachten allzu oft, sie wären wie Hohepriester und stünden über allem und jedem“, erklärte vor einem Jahr etwa der Vorzeigeblogger Jeff Jarvis in einer Interview-Reihe von Focus Online. „Sie kanzelten sich also gegenüber ihrem Publikum ab“, so Jarvis, bloß funktioniere auf diese Weise das „Gemeinschaftsprinzip nicht mehr“. Journalisten sollten sich vielmehr wie ein Teil unserer Gesellschaft benehmen, meint Jarvis, sonst würden sie sich entfremden.

Chris Anderson, Chefredakteur des genialen Cyber-Magazins „Wired“, drückt es vielleicht noch am radikalsten aus: „Ich denke gar nicht mehr in solchen Kategorien wie ‚Journalismus'“, sagt er im Interview, „heutzutage hat eine überwältigende Mehrheit all jener Nutzer, die schreiben, Videos und Hörstücke produzieren – also alle denkbaren Arten von Inhalten produzieren, die vorher den traditionellen Medien vorbehalten waren -, nichts mehr mit berufsmäßigem Journalismus zu schaffen.“ Gerade diese Abertausende stünden nun „direkt mit qualifizierten Journalisten im Wettbewerb“, weil sie täglich – gemeinsam mit den Journalisten – um die Aufmerksamkeit und das Zeitbudget ihrer Mitmenschen konkurrierten.

Das Verschwinden der alten Publikationssilos

Es ist auffällig, dass viele Journalisten auf solche vollmundigen Diagnosen gereizt oder sogar verärgert reagieren, wenn sie sich anhören müssen, warum ihr Berufsethos womöglich ad absurdum geführt wird oder sich zumindest das journalistische Handwerk grundlegend wandeln muss. Im Club der Vordenker und Utopisten gibt es allerdings noch freimütigere Stimmen, die meinen, dass der gesamte Journalismus sogar bald überflüssig werden könnte – wenn er sich nicht endlich zur Anpassung an die neuen Medienumgebungen entscheidet. Ansichten wie etwa die des Blogger-Stars Jay Rosen und des Blog-Kritikers Andrew Keen lassen jedenfalls keinerlei Zweifel daran, dass mit den seit Jahren durch die Branche irrlichternden Worthülsen wie „multimedial“ oder „interaktiv“ kein Blumentopf mehr zu gewinnen, geschweige denn die Medienrevolution zu umschreiben ist: Wer ihre Zukunft im Netz wirklich heraufbeschwören will, muss bereit sein, gleich den Journalismus neu zu erfinden.

Clay Shirky, eine weitere intellektuelle Galionsfigur der Netzunterwelt, hat vor zwei Jahren in einem fulminanten Essay mit dem Titel „Newspapers and Thinking the Unthinkable“ im Zuge des Zeitungssterbens bemerkt, dass die Revolution durch das Internet eine eigenartige Umkehrung der öffentlichen Wahrnehmung bewirkte: Für gewöhnlich würden Leute als Pragmatiker angesehen, die nichts anderes als die Welt um sich herum beschreiben, während solche, die sich bunte Zukunftsszenarien ausmalten, als Radikale gelten würden. Doch heute, so Shirky, sei es nachgerade umkehrt – in den Redaktionen würden Pragmatiker so behandelt, als seien sie total verrückt geworden. Einstweilen würden diejenigen, die enthusiastisch ihre Visionen von populären Bezahlschranken- und Micropayment-Modellen verbreiteten, nicht als Scharlatane, sondern urplötzlich als Retter der Branche wahrgenommen.

Vorausgeschickt werden muss dieser leidlich konstruktiven Debatte über die Austapezierung frischer Perspektiven zur Zukunft des Journalismus, dass die wagemutige Expedition in die digitalen Kommunikationsnischen noch ganz am Anfang steht – und sich das klassische Rollenbild der Redakteure und Reporter gerade erst zu verändern beginnt: Die gezielte, mobile und zeitsouveräne Suche einer neuen Nutzergeneration nach Informationen ist nur der erste Vorgeschmack auf das, was noch kommen wird, wenn die Journalisten es denn zulassen.

Die „Brave News Worlds“, so der vielsagende Titel eines Zukunftsreports von International Press Institute und Poynter Institute, lassen jedenfalls erahnen, dass die Mehrdimensionalität des Internet mit ihrer andersartigen Informationstiefe und Nachrichtendichte die hergebrachten Kanäle abschleifen, zusammenbinden und unsere gesamte Medienarchitektur umkrempeln wird: Wenn die Unterscheidung zwischen Fernsehen und Zeitungen, Radio und Büchern also keinerlei Bedeutung mehr hat, werden die monolithischen Publikationssilos verschwunden und an ihre Stelle eine völlig neue Infrastruktur getreten sein. Nur die dazu passenden Angebote, die auf die veränderten Nutzungsgewohnheiten und Wahrnehmungsmuster weiter Bevölkerungskreise reagieren, gibt es (noch) nicht.

Suchmaschinengesteuerte Fließbandarbeit

Natürlich gibt es erste Modellversuche, die offenkundig funktionieren, zumindest wirtschaftlich gesehen: So genannte Content-Farmen wie Demand Media liegen mit einem Gewinn von einer Million Dollar im letzten Quartal (bei einem Umsatz von 73,5 Millionen Dollar) weit über den Erwartungen von Branchenkennern. Lässt man märchenhafte Erfolgsgeschichten wie die der von AOL für verblüffende 315 Millionen Dollar aufgekauften „Huffington Post“ oder des im Sommer 2009 von MSNBC.com für mehrere Millionen Dollar übernommenen hyperlokalen News-Portals „EveryBlock“ des Chicagoer Journalisten und Computer-Programmierers Adrian Holovaty einmal außer Acht, stellt Demand Media eher die Ausnahme als die Regel im Geschäft mit Inhalten dar.

Dabei ist ihr Geschäftsmodell ebenso simpel wie ausbeuterisch: Freie Mitarbeiter produzieren Texte, Videos und Fotos, die per Suchmaschinenoptimierung möglichst viele Klicks erwarten lassen – und dem Anbieter über gezielte Online-Werbung entsprechende Einnahmen bescheren. „Sueddeutsche.de“ berichtet, dass bei Demand Media ein Heer von inzwischen mehr als 10.000 freiberuflichen Autoren und Amateurfilmern täglich mehr als 5.000 Artikel und Videos auf die angeschlossenen Partner-Seiten wie das Fitnessportal livestrong.com oder den Clip-Riesen YouTube pumpt.

Wenn journalistische Angebote nun jedoch auf der schlichten Idee basieren, Nachrichten nur noch auf Werbe-Nachfrage hin zu generieren, werden Journalisten dann nicht zu Dumdum-Geschossen der PR-Maschinerie? Es geht ja um nichts weniger als den Tausch der sozialen Realität gegen kühle Algorithmen, die Aufgabe der journalistischen Wahrheitssuche zugunsten von mathematischen Suchmaschinenanfragen und der absoluten Dominanz des Brot-und-Spiele-Mottos über einen ureigenen Rechercheansatz.

Ist das nicht genau das Publizistikverständnis, vor dem uns Herbert Riehl-Heyse zu seinen Lebzeiten, als Inhalte noch kein „Content“ waren, immer gewarnt hat? Sobald der Journalismus kein Frondienst mehr an der Gesellschaft ist, sondern im Stil von Demand Media oder dem deutschen Pendant content.de zu Keyword-gesteuerten bestellten Wahrheiten mutiert, ist das, was bisher Journalismus genannt wurde, nur mehr Fließbandarbeit ohne öffentlichen Auftrag. Die suchmaschinengetränkte Informationsverdünnung bringt also nicht nur herbe Zugeständnisse an das journalistische Berufsethos mit sich. Sie ist auch, wenn man so will, das Ergebnis einer Kapitulation des Aufklärungsideals vor der Kommerzialisierung. Dieser Kotau des Journalismus ist übrigens schon seit Jahren in den USA zu beobachten, wo – abseits nationaler Krisen und Ausnahmezustände wie nach dem 11. September – der Markt häufig tonangebender zu sein scheint als das Demokratie-Prinzip. Was an den Börsen nicht performt, ist nichts wert – ein Dogma, das jetzt auch immer mehr für den Journalismus gilt.

Weniger zentralisiert als früher, weniger hierarchisch und durchlässiger wird sich der neue Journalismus zeigen, so vermutet man: Die Information der Gegenwart kommt in der Nutzung geografie- und zeitlos daher, in der Anwendung ist sie jedoch durch einen starken hyperlokalen Bezug geprägt. Und sie ermöglicht einen immensen Wissenspool abseits des klassischen News-Mainstreams. Das Netz macht Information damit zum Gemeinschaftserlebnis, das durch eine Kollaboration traditioneller Quellen mit engagierten Nutzern entsteht. Es gibt inzwischen etliche Beispiele, die belegen, dass dies auch wirklich funktionieren kann, vom Guttenplag-Wiki bis zu den Wikileaks-Enthüllungen.

Dennoch hat bisher niemand, zumindest niemand aus den Entwicklungsredaktionen der etablierten Medienunternehmen das Geheimrezept gefunden, wie sich das Netz-Potenzial des Internets sinnvoll für den Journalismus ein- und umsetzen lässt. Im Gegenteil: Es herrscht eine spürbare Verunsicherung, ob die Medienzukunft überhaupt noch den strukturellen, medienpolitischen und wirtschaftlichen Rückhalt für einen gleichermaßen hochwertigen wie hochqualifizierten Journalismus bietet.

Über tollkühne und experimentierfreudige Netzaktivsten

Große Hoffnungen für professionellen Qualitätsjournalismus, wie er gern genannt wird, ruhen zurzeit auf Social-Media-Anwendungen, die zum einen den Prozesscharakter deutlich akzentuieren. Zum anderen erzeugen auch sie, im Ganzen gesehen, eine Art Parajournalismus, der sich am Aufkommen der neuen sozialen Bewegungen im Netz mit ihren interaktiven und sozialen Elementen orientiert. Im Grunde steuert die Presse ideologisch damit wieder auf die historischen Wurzeln zu, aus denen sie entsprungen ist: Aus dem Räsonnement der Bürger, als ein bloßes Organ des Informationstransports und noch kein Bestandteil einer Konsumentenkultur“, wie Jürgen Habermas einst philosophierte.

Jedoch gibt es kaum Anzeichen dafür, dass sich das Netz als der für unser Zusammenleben in höchstem Maße beanspruchte kontrollfreie Erscheinungsraum auch wirklich eignet für ein Projekt der bürgerlichen Imagination, wie es der britische Medienforscher Roger Silverstone einmal nannte. Denn offenkundig, das haben zuletzt die Wikileaks-Aktivitäten eindrucksvoll gelehrt, braucht solcherlei Gemeinschaftspublizistik von Amateuren und Professionellen andere handwerkliche Konzepte und moralische Kodizes, wie Informationen ausrecherchiert, verarbeitet und verbreitet werden – und auch Diskurse, wie unsere Gesellschaft künftig damit umzugehen hat.

Julian Assange ist natürlich kein Journalist im klassischen Sinn. In seiner verkappten Robin-Hood-Manier ist er wohl eher ein politischer Aktivist, der Journalisten mit Informationen versorgt (hat), die ihm die eigentliche redaktionelle Kärrnerarbeit – also Analyse, Einordnung und Kommentierung – willfährig und teilweise auch eher unkritisch abgenommen haben. Dennoch verkörpert er ein modernes, kantiges Abenteurerimage innerhalb des Mediensystems, das schon lange als verloren galt: ein Fürsprecher der Unterdrückten, ein Widerständler gegen „die da oben“ und ein Aufdecker dunkler Mächte und Machenschaften. Assange eignet sich auch deshalb so gut zum Heldentum, weil er – ganz öffentlich – darauf spekuliert, dass die Nutzer sich als aktive Teilnehmer an der Aufarbeitung der Daten beteiligen, wie es auch der „Guardian“ und andere Blätter an einer Reihe von Fällen triumphierend bewiesen haben.

Journalistische Archetypen wie Assange sind letztlich der Grund, warum sich manche Medienschaffende teils technologisch überrumpelt, teils auch intellektuell überfordert fühlen: Genährt aus dem Geist der Aufklärung und des Protestes ist der Journalismus irritiert, wenn sich die Grundformen journalistischer Aktivität mit politischem Aktivismus vermischen. Was sich auf der Makroebene an den rejustierten Berufsprofilen zeigt, wenn plötzlich Selfmade-Blogger wie Richard Gutjahr, Michalis Pantelouris oder Daniel Fiene ihre Duftmarken setzen, macht sich auf der Mikroebene an den neuen Gefechtsstellungen hyperlokaler und themengebundener Blogs wie dem heddesheimblog.de oder dem regionalen Amateurfußballportal FuPa.net bemerkbar, die siegreich auf den Verbreitungsgebieten der ehemaligen publizistischen Platzhirsche, der „Passauer Neuen Presse“ und des „Mannheimer Morgen“, wildern.

Auch in deutschsprachigen Medien etabliert sich ein solcher Typus: tollkühne und meist experimentierfreudige Blog-Pioniere, die Aufklärung um einer bestimmten Sache Willen betreiben, meist ungeachtet eines persönlichen oder kommerziellen Vorteils, darunter Markus Beckedahl von Netzpolitik.org, Stefan Niggemeier oder Mercedes Bunz .Sie zaudern nicht, sie machen – jeder auf seine Weise – einfach den digitalen Journalismus, der in ihren Augen zeitgemäß ist. Und sie fassen ihren Job nach dem Motto auf, das „Zeit Online“-Chef Wolfgang Blau über Twitter ausrief: „I know its unfair, but I am feeling sick of online manifestos and ‚2020‘-predicitions. How about working, experimenting, testing, practicing?“ Also, wie wär’s mit Arbeiten, Experimentieren, Ausprobieren, Praktizieren? Ja, warum eigentlich nicht!

Das Netz weder unter- noch überschätzen

Auf der anderen Seite gibt es die Anwälte der reinen Printlehre. Stefan Plöchinger zum Beispiel, frisch bestellter Chefredakteur von „sueddeutsche.de“, sagte in einem kurzweiligen Interview einen bemerkenswerten Satz. Auf die Frage, ob Online-Journalismus überschätzt werde, antwortet er: „Man sollte das Netz schätzen – nicht unter- oder überschätzen. Er sei kein Anhänger der These, dass sich der Online-Journalismus grundlegend von TV- oder Printjournalismus unterscheide. Unser Handwerk bleibt letztlich das gleiche, zeigte sich Plöchinger sehr überzeugt, die Menschen konsumieren uns heute nur anders als vor zehn Jahren.

Deutschlands Blog-Pioniere

Markus Beckedahl, netzpolitik.org

Matthias Spielkamp, irights.info

Hardy Prothmann, heddesheimblog.de

Jens Matheuszik, pottblog.de

Alfons Pieper, wir-in-nrw-blog.de

Christian Kreutz, frankfurt-gestalten.de

Enrico Seppelt, halleforum.de

Christoph Zeuch, altona.info

Peter Arnegger, nrwz.de

Ulrike Langer, medialdigital.de

Jürg Vollmer, maiak.info

Stefan Niggemeier, stefan-niggemeier.de

Plöchingers Aussage klingt natürlich nobel, in gewisser Weise liegt er sogar richtig, wenn er behauptet, der real existierende Online-Journalismus mancher Web-Angebote unterscheide sich kaum vom herkömmlichen Zeitungsestablishment – wenn sie vom amtierenden Chef einer respektierten Online-Marke kommt, ist das jedoch überraschend. Plöchinger ist Jahrgang 1976, kein Digital Native zwar, gehört aber zu einer Generation, die ab etwa der Hälfte ihres Lebens mit dem Internet in Kontakt gekommen ist und es seitdem als Arbeits- und Freizeitinstrument täglich exzessiv nutzt. Zuvor war Plöchinger beim Leitmedium „Spiegel Online“ tätig, bei „Financial Times Deutschland“ und „Abendzeitung“, er ist zudem Absolvent der Deutschen Journalistenschule in München, hat also für sein noch junges Alter schon viele Karrierestationen durchlaufen, die von einem richtigen Journalisten auch erwartet werden.

Aber hat Plöchinger wirklich Recht, wenn er glaubt, das Handwerk bleibe gleich, lediglich der Konsum ändere sich? Überblickt ein durch das Internet sozialisierter Journalist wie er die vage Zukunft des gesamten journalistischen Feldes? Und ist seine Aussage, man dürfe das Netz weder „unter- noch überschätzen“, sondern es als weitere Publikationsplattform betrachten, nicht schon als reaktionär zu werten? Abgesehen davon, dass er als Aushängeschild von „sueddeutsche.de“ wohl kaum zur Revolution des Portals trompeten wird, wie Insider meinen, zeugt es von einer gewissen Anmaßung zu behaupten, die „Menschen konsumieren uns heute nur anders“. Denn mit Blick auf die Plagiats-Affäre von Karl Theodor zu Guttenberg hat ja gerade niemand darauf gewartet, dass der „Spiegel“ uns erklärt, ob die Dissertation des Ministers ein Plagiat ist oder nicht – vielmehr haben fleißige Fact-Checker auf GuttenPlag Wiki bewiesen, wie effizient-korrekt die Community zusammenarbeiten kann.

Bei aller Euphorie muss am Ende des Tages allerdings eine ehrliche Zwischenbilanz gestattet sein: Was hat die „Social-Media-Revolution“ dem Journalismus bisher wirklich gebracht – außer zusätzliche Vernetzung, massive Eigenwerbung und die „Veredelung“ journalistischer Beiträge durch Like-Buttons und Retweets? War das, wenn es irgendwann vielleicht vorbei sein sollte, nicht ein einziger Medien-Hype mit viel Getöse, ohne den richtigen Kick, der uns handwerklich und intellektuell weitergebracht hätte? Und fühlte sich von dieser angeblichen Umwälzung letztlich nicht nur eine Medienelite angesprochen statt der Journalistenmasse?

Aktuelle Studien belegen immerhin, dass Social Media bislang überschätzt wird: Mehr als interessante Hinweise, Links oder Seitenblicke können Twitter, Facebook und Co. – schon aufgrund der Kürze des jeweiligen Formats – häufig nicht leisten. Ohnehin beziehen sich Nutzer, wenn sie über Social Media kommunizieren, auf die vorhandenen Quellen aus dem klassischen Journalismus. Eigene Geschichten, originäre Recherchen? Fehlanzeige!

Der Weckruf der Wiki-Plattformen

Ist also der gern gepredigte „Prozessjournalismus“, der die Presse in ein vermeintliches „Goldenes Zeitalter“ (Wolfgang Blau) geleiten soll, bloß eine Schimäre? Geht es für die meisten Journalisten im Netz wirklich um etwas anderes als den Wunsch nach digitaler Prominenz oder Selbstbespiegelung? Und ist der „Prosument“, dieses mediale Zwitterwesen zwischen Produzent und Konsument, vielleicht doch heiße Luft? Dass die Möglichkeit für viele Nutzer seit längerem besteht, sich journalistisch zu betätigen, ist ja gar nicht in Zweifel zu ziehen. Nur ob und wie diese Möglichkeit auch genutzt wird, bleibt nebulös. Festzuhalten ist vorerst, dass sich der Beruf weiterhin in Richtung eines prozessualen Denkens und Arbeitens öffnen muss, wenn er nicht den Anschluss an die Öffentlichkeit verlieren will. Die digitale Architektur, innerhalb derer der Journalismus als Instanz der Aufklärung weiterhin eine zentrale Rolle spielen will, baut auf professionelle Werte wie Kontinuität, Verlässlichkeit, Vertrauen und Glaubwürdigkeit – daran wird sich auch in 20 Jahren nur wenig geändert haben.

Doch hat der Big Bang in den meisten deutschen Redaktionen offenkundig noch nicht stattgefunden – auch nicht bei der Regionalpresse: Noch ist die Stimmung vielerorts zu kommod, als dass in absehbarer Zeit ein tiefgreifender Sinneswandel zu erwarten wäre. Allerdings ist seit den Wikileaks-Enthüllungen, der Spesenbetrugs-Affäre britischer Parlamentarier, aber auch seit den denkwürdigen Revolutionen in Tunesien, Ägypten und Libyen oder der Atomkatastrophe in Japan bei vielen Journalisten die Bereitschaft stetig gewachsen, ihren Beruf eben nicht mehr als Einbahnstraße zu verstehen, sondern sich kontinuierlich mit der Außenwelt zu vernetzen.

Dass der Weckruf der Wiki-Plattformen langsam erhört wird, hat – in einer Nussschale – der Fall zu Guttenberg gezeigt. Hier wurde deutlich, wie kreativ und zugleich ergiebig die graduelle Verschiebung vom Festungs- hin zum Netzwerkjournalismus sein kann: Indem sich Hunderte an der Dokumentation der plagiierten Textpassagen beteiligten, sorgten sie in Rekordzeit für ein hohes Maß an Transparenz. Doch liegt die Benchmark für guten Online-Journalismus nicht nur in einer gesättigten Linkkultur und Fehlerkorrekturen.

Sachverwalter der digitalen Mediapolis

Qualitätssicherung im digitalen Informationsuniversum heißt auch, das dauerhafte Datenchaos zu bändigen: „Andy Carvin, Chef für digitale Strategien und Social Media Spezialist des US-Radionetzwerks NPR, hat aus seinem US-Büro heraus die interessantesten Tweets zur Revolution in Ägypten zu einem kontinuierlichen, verlässlichen und informativen Nachrichtenstrom zusammengestellt“, reportiert die Medienjournalistin und Bloggerin Ulrike Langer in ihren Linktipps zum Wochenstart vom 13. Februar 2011. „Kuratieren“ nennt sie diese Funktion, wenn Journalisten als Sachverwalter der digitalen Mediapolis die weit verstreuten Informationen bündeln, einordnen, prüfen und für ein Nachrichtenpublikum aufbereiten.

Social-Media-Quellen können also eine entscheidende Rolle im Informationsfluss spielen – wenn mit ihnen journalistisch sauber und nach allen Regeln der Kunst umgegangen wird. Der rasend schnelle Austausch mit Amateuren und Profis kann bestenfalls – Beispiel Kairo und Japan – zu einem integeren Netzwerk aus Kollegen, (Hilfs-)Korrespondenten und so genannten Stringern““ heranreifen, die den professionellen Reportern zu einer vielstimmigen, in höchstem Maße authentischen Krisenberichterstattung aus aller Welt verhelfen.

Redaktionell betreutes Community-Reporting wie bei Augsteins Wochenzeitung „Freitag“ oder sorgfältig gefiltertes Crowdsourcing wie bei dessen britischem Verlagspartner „Guardian“, den viele Beobachter inzwischen zur Speerspitze des neuen Qualitätsjournalismus im digitalen Zeitalter zählen, deuten darauf hin, dass die massenhafte Teilhabe der Nutzer allmählich ernstzunehmende Blüten treibt. Gescheitere Micro-Funding-Versuche wie bei der „taz“ oder die unzähligen, inzwischen aus finanziellen Gründen wieder eingestellten Blogs vieler Tageszeitungen sind nur kleinere Wehrmutstropfen zum Erreichen höherer Ziele. Im Big Picture des digitalen Journalismus gehören solche experimentellen Kollateralschäden schlicht mit dazu, denn sie zeigen vor allem eines: Dass die Möglichkeiten nicht ausgeschöpft sind und die Branche einen langen Atem braucht, bis ein praktikables Community-Modell gefunden ist.

Eine der wichtigsten Voraussetzungen für den neuen Journalismus im Netz sind neben den offenen Schnittstellen die sinnvolle Integration von Social Media auch auf lokaler und hyperlokaler Berichterstattungsebene: Überall dort, wo sich die Nutzer gerne informieren und unterhalten, können personalisierte Empfehlungspraktiken, ob geographisch oder thematisch zugeschnitten, von Reportern und Redakteuren nicht nur zu Recherchezwecken eingesetzt, sondern auch um einen redaktionellen Mehrwert ergänzt werden, der sich (vermutlich) irgendwann monetarisieren lässt.

Das bisweilen hochprofitable Geschäftsmodell des Internet-Rabattmarkenanbieters Groupon lässt sich – zumindest konzeptionell gesehen – für journalistische Inhalte vorstellen: Der Erfolg des regionalen Dienstes basiert bei genauerem Hinsehen auf Neuigkeit, Kontinuität, Überraschung sowie räumlicher und psychologischer Nähe zum Nutzer, also im Grunde alles Kriterien, die auch im professionellen Nachrichtenjournalismus hohe Gültigkeit besitzen.

Hinzu kommt die Kettenbrief-Methode: Erst wenn sich eine belastbare Anzahl Leute für eine ausgerufene Rabatt-Aktion interessiert und diese weiterempfiehlt, kommt der Rabatt auch zustande – inklusive einer Provision für Groupon. Übertragen auf den Journalismus bedeutet das idealerweise, dass der Mapping-Gedanke geosozialer Plattformen wie Foursquare zusammen mit den Social-Payment-Services wie bei flattr und kachingle zu etwas Neuem verschmilzt. Der von MSNBC gekaufte hyperlokale News-Aggregator EveryBlock ist ein Angebot, das diese Fusion in Ansätzen bereits ausprobiert.

Das ambivalente Potenzial der Social-Web-Orgien

Wenn wir uns erinnern, war ja auch für journalistische Angebote schon immer eine kritische Masse an zahlenden Nutzern notwendig, um den redaktionellen Aufwand gegen zu finanzieren, sprich: Der vergleichsweise kostengünstige, werbeaffine Regionalteil einer Zeitung finanzierte stets das teurere Auslandsressort oder die investigative Recherche quer. Im Social Web ist aber nicht in erster Linie die ökonomische Transaktion in Form des Verkaufs von Werbefläche oder eines Produkts ausschlaggebend, sondern die Aufmerksamkeit einer kritischen Anzahl an Nutzern, generiert und beschleunigt durch ein spiralartiges Empfehlungsmoment.

Diesen Gedanken zu Ende gedacht, wird also auch im Journalismus die gelebte (und vermutlich einzige) Leitwährung die Qualitätszeit sein, die das Publikum einem publizistischen Gewerk zubilligt – und nicht etwa die geldwerte Übereignung eines physischen Datenträgers. Strukturell haben wir es also neben einer vollkommenen Entbündelung journalistischer Arbeit künftig häufiger mit „wandernden Inhalten“ im Netz zu tun, die eben nicht mehr direkt über die Portale redaktioneller Marken, sondern vorrangig über nicht-journalistische „Gatekeeper“ wie Facebook oder Twitter an einen potenziellen Adressatenkreis gelangen.

Um dieses digitale Nomadentum der Nachrichten aufzufangen oder ihm zumindest professionell entgegenzuwirken, werkeln auch einige deutsche Regionalzeitungen wie die „Rhein-Zeitung“ oder der „Trierische Volksfreund“ und auch manche überregionale Marken wie „Zeit Online“ an klugen Community-Konzepten: Es geht dabei um die Nutzung von Social Media als zusätzliche Verbreitungskanäle, aber auch um das Absenken redaktioneller Hürden für diejenigen Nutzer, die normalerweise keine Mails oder Leserbriefe schreiben würden. Denn den Dialog mit dem Publikum hat es immer schon gegeben. Neu aber ist, dass die Nutzer die Themenschwerpunkte und Plattformen nach ihren Präferenzen und Vorstellungen gleich selbst mitbestimmen können.

Das alles ist kein „Journalismus auf Bestellung“, sondern vielmehr der Versuch, die Chance zum unmittelbaren Feedback zu stimulieren. Die Nutzer sollen – natürlich auch im Sinne des Selfmarketings – zu Fan-Gemeinschaften herangezüchtet werden, die sich zur Marke bekennen und deren Angebote per Mundpropaganda oder genauer gesagt: per Retweet an ihren Freundeskreis verbreiten oder via Facebook „teilen“.

Ob das Social Web nun ein Zeitfresser oder wahrer Klugmacher unter den neuen Medien ist, indem sie einen höheren Intensitätsgrad an Partizipation und die Publikationsautonomie der Nutzer beflügeln, sei dahingestellt. Gewiss scheint aber, dass das Mitmach-Prinzip eine logische Fortentwicklung des Journalismus ist, der noch nie taub oder blind gegenüber den Vorlieben seiner Nutzer sein durfte und konnte – alleine schon deshalb nicht, weil er am Markt bestehen musste.

Zu wenig New Digital Journalism

Dass trotz der Web-2.0-Orgien allerdings noch kaum ein Cent für den Journalismus übrig bleibt, wird auch in Zukunft die Gemüter erhitzen. Denn die Personaldecken in den Sendern und Verlagen werden monatlich dünner, ihre Investitionsbereitschaft in Recherche, Technikausstattung und Ausbildung ist rückläufig (Ausnahmen wie Axel Springer Verlag oder öffentlich-rechtliche Rundfunkanbieter bestätigen die Regel), ihre Experimentierlust gezügelt und auch die Arbeitsmoral in den Redaktionen könnte, gelinde gesagt, intakter sein.

Alles in allem atmet das, was heute journalistisch umgesetzt wird, schlicht noch zu wenig den Geist eines New Digital Journalism, wie er zum Beispiel an der Aufbruchsstimmung in Amerika abzulesen ist, wo Projekte wie ProPublica, „Wired“ oder die inzwischen etablierte „Huffington Postzu unschlagbaren Online-Zugpferden wurden. Um die hiesige Branche anzufixen, sind die Einschläge einfach noch nicht nahe genug. Erst wenn bei uns großflächig die ersten Zeitungen sterben, werden die Verlage vielleicht williger sein, die Zukunft des Journalismus wenigstens ein Stück weit in die Hände ihrer Community zu legen.

Sie würden gut daran tun, denn neben einer Vielzahl erweiterter Funktionen im Social Web, die über den reinen Vernetzungsgedanken, eine kommerzielle Besetzung von Nischen oder die Erschließung frischer Zielgruppen hinausweisen, werden die sich langsam stabilisierenden Partizipationskanäle der Nutzer immer mehr die Defizite des darbenden Pressewesens ausgleichen müssen, etwa in politischen Krisenregionen, wo Journalisten keinen direkten Zutritt ins Land oder keinen offiziellen Kontakt zum Volk haben. Oder in Katastrophengebieten, wo sie auf die unmittelbare Zeugenschaft der Betroffenen angewiesen sind.

Ungeachtet solcher zivilgesellschaftlichen Prothesen wird Journalismus dabei doch Journalismus bleiben (müssen) – solange er kein Produkt unter vielen ist, dessen Wert sich alleine am Umsatz messen lassen muss. Denn gerade wegen ihrer schrumpfenden Ressourcen müssen sich Unternehmen, die Journalismus bislang verkauft haben, in Acht nehmen und auch auf alternative Wege gefasst sein. Der vielleicht erhoffte Zaubertrank des weisen Druiden Miraculix wird bekanntlich nur in abgeschiedenen gallischen Dörfern gebraut, nicht in Verlagsetagen.

Zentral für „die Suche nach dem dritten Weg“, wie ihn die Doyenne der Kommunikationswissenschaft, Marie Luise Kiefer, kürzlich in einem luziden Beitrag für das Fachorgan „M&K“ beschrieb, ist hingegen „die Trennung zwischen Journalismus und Medien“: Journalismus müsse zukünftig als eigenständige, unabhängige Institution begriffen werden, die nur noch losgelöst von den wirtschaftlichen und strukturellen Zwängen der Medienorganisationen überleben könne. „Der technische und gesellschaftliche Wandel“, glaubt Kiefer, untergrabe im Wesen deren „ohnehin ambivalentes Potenzial der Journalismusfinanzierung“. Das Abenteuer, auf das sich unsere Gesellschaft mit einem anderweitig finanzierten Journalismus, etwa über Stiftungen, einlasse, erscheine auf Dauer weitaus ungefährlicher, als die künstliche Beatmung eines Journalismus, der am Markt ohnehin nicht mehr bestehen kann.

Die hundertjährige Ära, in der professioneller Journalismus noch große Renditen einfahren konnte, mag damit endgültig zu Ende gehen. Doch das gesellschaftliche Versprechen, auf ein Goldenes Zeitalter mit einem marktunabhängigen, handwerklich weiterentwickelten und medienpolitisch gestärkten Journalismus zuzusteuern, rechtfertigt den „dritten Weg“ allemal.

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