Warum es richtig sein kann, geheime Dokumente zu veröffentlichen

Mittlerweile steigt Markus Beckedahl und Andre Meister zumeist ein Lächeln ins Gesicht, wenn sie an jene turbulenten Tage denken, die sie in so ziemlich jede deutsche Nachrichtensendung katapultierten. Vor etwa einem Jahr erhielten die Journalisten von netzpolitik.org die Mitteilung, dass wegen Landesverrats gegen sie ermittelt werde. Die Veröffentlichung eines Etatpostens des Verfassungsschutzes könnte, so die These, der Verrat eines Staatsgeheimnisses gewesen sein. Der Staat zückte sein schärfstes Schwert gegen zwei bis dato recht unbekannte Männer. Es entwickelte sich eine „Staatsaffäre“, an deren (schnellem) Ende Generalbundesanwalt Range entlassen wurde.

Unterhalb der Empörungsschwelle war rasch klar, dass diese Affäre genauso enden musste, wie sie geendet hat: mit Einstellung der Ermittlungen. Zu offensichtlich war, dass das, was Beckedahl und Meister veröffentlicht hatten, kein Staatsgeheimnis war. Der Vorwurf des Landesverrats? Vor allem ein Konstrukt von Verfassungsschutzpräsident Maaßen, um unliebsame Kritiker einzuschüchtern: geschwätzige Geheimdienstler und Journalisten, die interne Dokumente veröffentlichten. Man muss sich in diesem Streit auf keine Seite schlagen, um festzustellen, dass Maaßens Plan gescheitert ist. Interne Papiere wandern weiterhin zu netzpolitik.org und erscheinen dort im Volltext.

Neues Leak enthüllt verfassungswidrige Massenüberwachung

Vor einigen Tagen veröffentlichte Andre Meister wieder ein Dokument, das die Frage noch dringlicher stellt, ob er das durfte. Es geht um einen Bericht der Bundesdatenschutzbeauftragten Voßhoff, in der sie dem BND dutzende Gesetzverstöße und die Missachtung des Grundgesetzes vorwirft. Voßhoff beschreibt detailliert, wie der BND eine zu Teilen verfassungswidrige Massenüberwachung globaler Kommunikation durchführt, dessen Existenz Regierungspolitiker trotz der Snowden-Enthüllungen immer wieder verneinten. Kurzum: Meister veröffentlichte Skandalöses, das ein mediales Echo nach sich zog und den politischen Diskurs – etwa im NSA-Untersuchungsausschuss des Bundestages – vorantreiben wird.

Allerdings war der Bericht „geheim“. Es ist die zweithöchste Geheimhaltungsstufe, mit der Ministerien Informationen unter Verschluss halten. Per Definition kann in solchen Fällen „die Kenntnisnahme durch Unbefugte die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland oder eines ihrer Länder gefährden oder ihren Interessen schweren Schaden zufügen“. Zum Vergleich: Was 2015 zu den Ermittlungen gegen netzpolitik.org führte, war lediglich als „Verschlusssache: vertraulich“ gekennzeichnet und damit eine Stufe unter dem aktuellen Papier.

Kollektive Verunsicherung: Dürfen wir das?

Ob die Aktion die Grenzen des Erlaubten überschreitet, wird vor allem juristisch diskutiert. Klar ist: Wer 2015 einen Landesverrat-Vorwurf konstruieren wollte, könnte bei einem „geheimen“ Papier wieder probieren, Journalisten und ihre Informanten verfolgen zu lassen. Die Autoren schienen sich dessen bewusst zu sein. Markus Beckedahl kommentierte, die Redaktion habe sich „nach einer langen Abwägung entschlossen“, den geheimen Prüfbericht im Volltext zu veröffentlichen. Der zeitgleich berichtende Rechercheverbund von NDR, WDR und Süddeutscher schrieb hingegen nur, man habe das Papier „einsehen“ können – und wies auf netzpolitik.org hin. So weit wie das Blog wollte der mächtige Verbund offenbar nicht gehen.

Es fehlt innerhalb der Medienbranche zwar an offener Kritik an den Methoden von Meister, Beckedahl & Co. Mutige Unterstützer finden sich jedoch ebenso selten. Die Redaktion der Welt etwa brachte es nicht übers Herz, netzpolitik.org als Quelle der BND-Enthüllung zu nennen und schrieb stattdessen, der Bericht sei mittlerweile „im Internet“.

Medienvertreter sind verunsichert: Dürfen wir das? Oder sind solche Veröffentlichungen illegal und von der Pressefreiheit nicht mehr gedeckt?

Journalisten müssen aktiv Öffentlichkeit herstellen

Journalisten müssen bei diesen Debatten stärker die grundsätzliche Frage stellen, was eigentlich ihre Aufgabe ist. Der Journalistikprofessor Horst Pöttker etwa meint, die Funktion des Journalismus bestehe in der aktiven „Herstellung von Öffentlichkeit“ und damit in der „Übertragung des jeweils isolierten Erfahrungswissens in eine ‚offene’ Sphäre, um so für alle die Möglichkeit der Partizipation am gesellschaftlichen Ganzen zu sichern“. Was meint er damit?

Eine Gesellschaft ist stark ausdifferenziert in verschiedene „Teilsysteme“. Politik, Wirtschaft, Kultur, Justiz, Wissenschaft, Bildung – es gibt diverse dieser Systeme, die alle einer in sich stimmigen Logik folgen. Aus der Logik der Politik etwa mag es plausibel sein, solche Berichte als „geheim“ zu stempeln, weil Probleme im eigenen System gelöst werden sollen. Es wäre aber falsch, Journalismus allein an einer Logik zu messen.  Wer so argumentiert, hat die Funktion des Journalismus in einer demokratischen Gesellschaft nicht verstanden.

Politik missbraucht das Recht auf Geheimhaltung

Aufgabe des Journalismus ist es, Teilsysteme zu beobachten, sie zu verstehen und Informationen – „isoliertes Erfahrungswissen“ – zu recherchieren. Er hat dafür Qualitätskriterien entwickelt, wonach Berichterstattung zum Beispiel aktuell sein sollte, relevant für die Gesellschaft, faktisch korrekt und verständlich aufbereitet. Journalismus unterwirft sich dabei aber nicht der Logik eines Teilsystems, sondern überträgt das „isolierte Erfahrungswissen“ in die „offene Sphäre“, um der Gesellschaft unabhängige Information und einen Diskurs über sich selbst zu ermöglichen. 

Das heißt nicht, dass Journalisten keine Gesetze befolgen müssen. Sie stehen nicht über dem Recht. Bei Geheimdiensten missbraucht das politische System jedoch rechtliche Normen, um Journalisten an der Erfüllung ihrer gesellschaftlichen Aufgabe zu hindern. Indem jede Information über Geheimdienste zur geheimen Verschlusssache deklariert wird, entziehen sich diese Behörden der Kontrolle. Mitten im demokratischen Staat entsteht eine Blackbox, die abgeschottet von jeder Kritik ein Eigenleben führt.

Kerckhoffs’sches Prinzip für Geheimdienste

Es gibt in der Kryptographie, der Wissenschaft der Verschlüsselung, das sogenannte Kerckhoffs’sche Prinzip. Ein Verschlüsselungsverfahren gilt demnach als sicher, wenn der Schlüssel geheim bleibt, das Verfahren jedoch offiziell bekannt ist. Anders formuliert: Den Schlüssel zu meiner Wohnung darf ich nicht weitergeben, aber wie das Schloss funktioniert, sollte jeder wissen. Denn wenn alle überlegen, wie die Funktionsweise des Schlosses verbessert werden kann, macht man es Einbrechern schwerer, die Tür aufzubrechen.

Der Kerckhoffs’sche Grundgedanke steckt auch in der demokratischen Kontrolle von Geheimdiensten: Kein Journalist wird ernsthaft fordern, dass der BND eine Liste der mutmaßlichen Terroristen offenlegen soll, die er gerade beobachtet. Ein Geheimdienst muss natürlich Geheimnisse haben dürfen, weshalb es Paragraphen wie den des Landesverrats gibt. Aber mit welchem Verfahren der Geheimdienst arbeitet, muss die Gesellschaft wenigstens zu einem Mindestmaß wissen – zumal seit den Snowden-Enthüllungen die Sorge besteht, dass der BND eben nicht nur Terroristen, sondern große Teile der Bevölkerung überwacht.

Pauschalverbot unvereinbar mit der Pressefreiheit

Nicht der BND selbst, sondern die Gesellschaft muss darüber streiten, wie ihr Geheimdienst arbeiten soll. Dafür benötigt sie unabhängige Informationen. Es ist die ureigene Aufgabe des Journalismus, diese Informationen zu recherchieren und anhand eigener Standards zu entscheiden, ob eine Veröffentlichung dieser Informationen im öffentlichen Interesse liegt oder nicht. Der entscheidende Maßstab ist die Gesellschaft, nicht allein die Logik aus Politik und Justiz.

Es kann daher richtig sein, geheime Dokumente zu publizieren. In ihrem letzten Scoop haben die Journalisten von netzpolitik.org ein Papier veröffentlicht, in dem die unabhängige Bundesdatenschutzbeauftragte im Auftrag der Gesellschaft den Geheimdienst kontrolliert hat. Es beweist, dass der Geheimdienst systematisch fundamentale Grundrechte genau der Menschen missachtet, die er eigentlich schützen soll. Es ist richtig, solche Dokumente nach gewissenhafter Abwägung ins Netz zu stellen. Die Veröffentlichung ist ein mutiger Schritt der Redaktion. Er führt allen Journalisten vor Augen, dass sie ständig Gefahr laufen, sich der Logik eines anderen Systems zu unterwerfen. Gerade in Zeiten der „Lügenpresse“-Rufe bietet größtmögliche Transparenz aller Gesellschaftssysteme die Chance, dass sich Menschen unabhängig informieren können.