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„Sich mit einer Sache gemein machen? Sofort!“

„Dass moralisches Unrecht schwer zu fassen ist, regt mich auf“: Im Interview mit VOCER spricht Reporterin Carolin Emcke über den Unterschied zwischen Berichten aus Kriegs- und aus Krisengebieten, über Floskeln wie „unfassbar“ und ihr Lieblingswort „vielleicht“.

Frau Emcke, Sie haben mal in einem Artikel für das „Zeit“-Magazin geschrieben, dass das erste, was im Krieg stirbt, die Gewissheit ist – auch für den Journalisten vor Ort. Inwiefern unterscheidet sich der Einsatz in Kriegsgebieten mit dem Einsatz in Krisengebieten?

Aus meiner Sicht als Berichterstatterin vor Ort würde ich sagen, dass der erste und vorrangige Unterschied zwischen Krieg und Krise ist, dass ich im Krieg tatsächlich persönlich bedroht bin. Eine Region, die wegen einer Naturkatastrophe leidet, habe ich erstmals nach dem Erdbeben in Haiti besucht. Mir liegt das reine Berichten über  eine Naturkatastrophe nicht, weil es im ersten Moment primär um Nothilfe und weniger um Aufklärung oder Aufdeckung von Kriegsverbrechen geht. In Haiti habe ich es dann für eine Langzeitbeobachtung gemacht, die sich über ein ganzes Jahr zog. Aber es fällt mir schwerer.

Warum?

Carolin Emcke ©  Mein Eindruck ist, dass ich bei solchen Krisen eher eine Voyeursrolle einnehme. Es ist schwerer, bei Reportagen aus Gebieten, die von Naturkatastrophen heimgesucht werden, nicht in diese Position des unnützen Voyeurs gedrängt zu werden. In erster Linie braucht es dort Helfer, Mediziner, Ingenieure, nicht Journalisten. In Kriegsgebieten ist das schon anders.Bei Haiti habe ich mich darauf eingelassen, weil es mir darum ging, die politischen Prozesse danach, die Versprechen der internationalen Gemeinschaft, die Ankündigung des Nation-Building, tatsächlich zu prüfen, mit langem Atem zu beobachten, wie diese Aufbauhilfe dann in der Realität, jenseits des ersten Entsetzens und der geheuchelten Anteilnahme, aussieht.

Weshalb sind Sie ausgewiesene Kriegsreporterin geworden?

Eigentlich bin ich Philosophin und im Journalismus gelandet. An Kriegen interessieren mich mehrere Aspekte: Der eine ist der Zusammenhang zwischen Gewalt, Traumatisierung und Sprachlosigkeit, also das Opfer von langfristiger struktureller Gewalt zu sein und das Erlebte aufgrund einer tief gehenden Traumatisierung nicht beschreiben zu können. Das finde ich politisch und moralisch ein enormes Problem, weil dann, wenn die Opfer von Misshandlungen, Missachtung und Gewalt nicht mehr sprechen können, letztlich Unrecht siegt. Ich finde, das ist eine philosophisch und hermeneutisch riesige Aufgabe, mit Menschen zu sprechen, deren Geschichten unwahrscheinlich oder unverständlich klingen, und herauszufinden, was ihnen widerfahren ist.

Wenn wir zurück in die deutsche Geschichte blicken, gab es Berichte von Juden, die die ersten Vergasungen von Juden in Lastwagen beobachtet hatten und die zurück in die Dörfer kamen und sagten, was geschehen war, und viele haben es einfach nicht geglaubt – weil man es moralisch nicht glauben wollte, weil nicht der Zeuge so unglaubwürdig ist, sondern weil das Geschehen selbst so unglaubwürdig ist. Deshalb benutzen wir ja so oft diese Floskeln: unfassbar, unaussprechlich, unbegreiflich. All diese Worte, die immer wieder auftauchen, haben einen Kern, nämlich dass moralisches Unrecht schwer zu fassen ist. Und das regt mich auf. Wenn das so ist, dann empfinde ich das als riesiges Problem. Und das ist nun einer der Gründe, warum ich in diese Gegend fahre.

Wie halten Sie es im Hinblick auf Krisensituationen mit dem berühmten Zitat von Hans-Joachim Friedrichs, sich nicht gemein zu machen mit einer Sache, auch nicht mit einer guten?

Ich finde den Ausspruch von Friedrichs, den ich sehr verehre und auch persönlich kannte, ausgesprochen missverständlich. Und ich finde es enorm unglücklich, dass er dauernd verwandt und so als ethische Richtschnur für Journalisten ausgegeben wird. Ich glaube, dass sich der Satz einmal zunächst spezifisch auf die Rolle eines Fernseh-Anchorman bezog, was noch mal eine andere Rolle ist als die des Reporters irgendwo vor Ort. Das ist das erste. Und das andere ist, dass ich ihm sofort zustimmen würde, wenn es darum ginge, sich zum Beispiel nicht mit einer Partei gemein zu machen oder einer einzelnen Bevölkerungsgruppe oder einem Land oder einer bestimmten kollektiven Identität – aber sich mit einer Sache gemein machen: sofort. Sich nicht gemein zu machen hieße, in einer Situation, in der ich glaube, dass Kriegsverbrechen begangen werden, diese nicht zu benennen. Das wäre doch absurd. Es ist unsere Aufgabe, Unrecht auch als Unrecht zu benennen. Ich stelle mich gerne hin und sage, dass ich mich selbstverständlich mit einer Sache gemein mache: mit Menschenrechten, internationalen Verträgen und Normen.

Das heißt konkret?

Um mal ein Beispiel zu nennen: Ich habe im Kosovo-Krieg überhaupt kein Problem damit gehabt, zu benennen, wie Kosovo-Albaner aus dem Kosovo nach Mazedonien oder Albanien vertrieben wurden, und zu beschreiben, wie Menschen misshandelt, Frauen vergewaltigt wurden. Aber ich hatte auch genauso wenig Schwierigkeiten damit, anderthalb Monate später zu beschreiben, wie serbische Familien im Kosovo wiederum von Kosovo-Albanern angegriffen wurden. Die Unterstellung ist immer, dass jemand, der im Krieg eine Seite kritisiert, der jeweils anderen Seite zuzurechnen ist. Ich kann unparteiisch gegenüber konkreten Fraktionen in einem Konflikt sein und gleichzeitig kritisieren, wenn sich eine oder beide Seiten Verbrechen gegen die Menschlichkeit schuldig machen. Ich gehöre zur Partei der Menschenrechte und der Genfer Konventionen. Insofern finde ich den Satz von Friedrichs ausgesprochen unglücklich: gemein machen mit einer Sache? Na, selbstverständlich! Wenn ich diesen Maßstab nicht hätte, dann wären die ganzen anderen Normen wie etwa Neutralität auch hinfällig.

Wie stehen Sie denn zu solchen anderen Normen wie Neutralität und Objektivität?

Ich glaube, Objektivität gibt es nicht. Ob ich jemanden für glaubwürdig oder für unglaubwürdig halte, ist eine komplett subjektive Einschätzung. Davon hängt das Urteil ab, das ich in den Text hineinschreibe – aber mitunter natürlich auch mein Leben. Die Strategie kann nur sein, so genau wie möglich zu beschreiben, selbstkritisch über die eigene Subjektivität, die eigene Voreingenommenheit, die Grenzen der Recherche zu reflektieren und Zweifel auch in die Texte einfließen zu lassen. Eines meiner Lieblingsworte ist zum Beispiel vielleicht. Das taucht oft bei mir auf, das fällt gelegentlich auch Leuten auf. Es ist der einzige Schutz. Als ich zum Beispiel einen Gefangenen im Irak besucht habe, wähnte ich mich in einer dauernden Unsicherheit, ob der mir nur harmlos vorkommt, ich aber in Wirklichkeit auf jemanden hereinfalle, der eigentlich ein brutaler Terrorist ist. Das lässt sich unter solchen Umständen objektiv nicht überprüfen, mit dieser Unsicherheit lässt sich nur transparent und ehrlich umgehen.

Das sind Erfahrungswerte, die Ihnen in Ihren Einsätzen natürlich weiterhelfen. Wie bereiten Sie sich darüber hinaus vor?

Letztlich ist es absurd und illusorisch, sich auf ein Kriegsgebiet vorbereiten zu wollen. Natürlich gibt es da gewisse Handwerklichkeiten, natürlich gibt es auch eine bestimmte Erfahrung und Modi der Absicherung. Ich reise zum Beispiel niemals alleine. Natürlich haben wir auch ein ganzes Sicherheitsequipment von Helm bis zu einer schusssicheren Weste. Außerdem habe ich für alle Fälle den Koran dabei. Und enorm wichtig sind Landkarten: In der falschen Regionen vor einer falschen Gruppe die falsche Karte zu benutzen, zum Beispiel die der jeweiligen Gegner – das ist gar nicht witzig. Das Zentrale ist aber: Lektüre, Lektüre, Lektüre. Die beste Vorbereitung ist nicht eine schusssichere Weste, sondern Wissen. Das ist ganz banal.

Waren Sie zur Vorbereitung auch in Hammelburg in Bayern, wo die Bundeswehr Journalisten und Entwicklungshelfer für den Einsatz in Krisengebieten schult?

Ja, allerdings lange nachdem es für mich noch als Vorbereitung hätte zählen können, also zu einem Zeitpunkt, als ich schon lange in Kriegsgebieten unterwegs gewesen war. Ich war unter anderem dort, um zu schauen, ob ich noch was dazu lernen kann.

Und, konnten Sie?

Ja, es gab zum Beispiel eine didaktisch enorm sinnvolle Übung, von der ich sehr beeindruckt war. Die Ausbilder hatten ein fingiertes Minenfeld erstellt und darin einzelne Punkte markiert, sozusagen die sicheren Flecken in diesem Feld. Die Übung war, dass man sich als Paar zusammen tun sollte, was auch zutraf, weil ich mit dem Fotografen Sebastian Bolesch da war, also mit dem Fotografen, mit dem ich seit über zehn Jahren reise. Einer der beiden sollte verletzt hinten am Baum liegen, der andere sollte ihn aus diesem Minenfeld retten. Ich tapste also durch das Feld und hatte allergrößte Mühe, meinen großen Fotografen über die Schulter zu legen und scheiterte komplett bei dem Versuch, ihn auf den Rücken zurückzutragen und gleichzeitig noch in den Spuren zu bleiben. Das war insofern enorm eindrucksvoll, weil dir vorgeführt werden sollte, dass du manchmal nicht allein eine Lösung findest, sondern möglicherweise jemanden liegen lassen und Hilfe holen musst. Mein Fotograf sagte nur: „Mit dir gehe ich noch mal auf Reisen!“ Diese Erfahrung war wichtig, weil dir so etwas theoretisch jeder sagt, ich von mir selber aber trotzdem weiß, dass ich in solchen Situationen immer versucht hätte, meinen Partner da rauszuschleppen. Jetzt hoffe ich, dass mir im richtigen Moment diese Übung wieder einfallen würde.

Das heißt, dass man trotz aller Erfahrungen zu Selbstüberschätzung neigt?

Ich würde es anders formulieren: Erfahrungen machen dich natürlich nicht unfehlbar und beschützen dich auch nicht davor, in manchen Situationen falsche Einschätzungen abzugeben. Eine wirkliche Gewissheit gibt es sowohl über die eigenen Kräfte als auch über die Gefährlichkeit einer Situation nicht. Ich würde aber schon sagen, dass man im Laufe der Jahre mit den Kräften besser hauszuhalten lernt . Ich habe jetzt zum Beispiel im Irak mal einen Tag freigemacht. Das habe ich früher nie.

Inwiefern können Redaktionen bei der möglicherweise auch psychischen Vor- und Nachbereitung helfen?

Ich bin der Überzeugung, dass man sich psychologisch und moralisch gar nicht auf solche Situationen vorbereiten kann. Ich glaube aber auch, dass man es nicht richtig nachbereiten kann. Es wäre nahezu verharmlosend, wenn man glaubte, dass sich solche Eindrücke irgendwie verarbeiten ließen oder dass sichinstitutionalisiert damit umgehen ließe. Redaktionen könnten die Möglichkeit trotzdem anbieten und sei es nur, den Austausch unter Krisenreportern zu unterstützen.

Fühlen Sie persönlich sich bei ihren bisherigen Einsätzen genügend unterstützt von ihren Redaktionen?

Enorm unterstützt, wobei ich sagen muss, dass ich nun auch eine Luxusbiene bin: Ich habe zehn Jahre für den „Spiegel“ gearbeitet und jetzt für die „Zeit“. Das sind enorm enorm umsichtige Redaktionen, eher ängstlich, als dass sie einen irgendwo hintreiben wollten. Im Irak bin ich vom „Spiegel“ sogar einmal abberufen worden, weil die Redaktion das Gefühl hatte, wir seien zu lange da und würden den Instinkt verlieren für das, was gefährlich ist und was nicht. Da wurden wir zurückgeholt. Letztlich kann jedoch keine Redaktion der Welt die Entscheidungen vor Ort – wohin man geht, was man tut, was gefährlich ist und was nicht – beurteilen. Ich würde niemals Redaktionen dafür verantwortlich machen wollen, was Reporter vor Ort erleben. Die Reporter vor Ort können die Situation der meist gar nicht richtig beurteilen. Es ist wichtig, in diesem Sinne auch irgendwo mal festzuhalten, dass, sollte einem etwas zustoßen, das niemals Schuld oder Fehler der Redaktionen sein kann.

Bedeutet das nicht, dass Sie ständig damit rechnen, dass Ihnen etwas zustößt?

Wenn Sie einen Organspendeausweis haben, rechnen Sie ja auch nicht ständig damit, auf dem Weg zum Kiosk von einem Auto überfahren werden. Ich stelle es mir einfach schrecklich vor, wenn ich Chefredakteur wäre und einer meiner Journalisten geriete in Gefangenschaft, ich würde mir enorme Vorwürfe machen. In solchen Situationen kann niemanden wirklich eine Schuld treffen kann, nicht mal mich selbst. Erstens wird man nicht freiwillig zum Opfer und zweitens kümmere ich mich ja darum, so vorsichtig und bemüht wie möglich abzuwägen, wo Gefahren sind. Aber ich möchte in jedem Fall nicht, dass jemand anderes sich dafür schuldig fühlt. Es ist also insofern eher meine Fürsorge für die Verantwortlichen, als dass ich jetzt ständig im Hinterkopf habe, dass mir etwas zustoßen könnte.

Sich embedden zu lassen, wäre für Sie keine Alternative gewesen?

Nicht wirklich. Es müsste schon einen guten Grund geben, damit ich das als wirklich notwendig für eine Geschichte empfinde. Das interessiert mich einfach nicht.

Hat sich das Prinzip nicht mittlerweile ohnehin überlebt?

Ich glaube schon. Die Texte lasen sich zum Teil furchtbar, weil eben dann eine unschöne Art von Nähe entsteht. Aber ich würde nicht diejenigen kritisieren, die es gemacht haben, oder ihnen vorwerfen, was darüber herausgekommen ist – ich hätte da vermutlich genauso geschrieben, hätte ich es gemacht.

Wie würden Sie mit dem Klischee aufräumen, das Kriegsreporter lebensmüde seien?

Wenn Sie mich kennenlernen, merken Sie, dass ich nicht lebensmüde bin. Ich wundere mich aber ehrlich gesagt, dass manche Leute, die mit mir zum Beispiel Interviews führen, sich wundern, dass ich auch ganz lustig sein kann. Wieso denn nicht? Außerdem fahre ich ja nicht bewusst in Kriegsregionen, wo gerade Kämpfe toben. 95 Prozent meiner Aufenthalte sind wirklich harmlos. Und manchmal sitzt man herum und wartet, manchmal trinkt man stundenlang Tee. Das Bild, dass man da dauernd unter Beschuss läge und ununterbrochen Gefahr ausgesetzt wäre, das ist ein Klischee. Der Großteil dieser Reisen ist enorm anstrengend, wirklich brutal anstrengend und enorm deprimierend, aber nicht primär gefährlich. Außerdem meide ich auch Reisen, bei denen mir das Risiko unkalkulierbar hoch erscheint. Ich bin aufgrund der Sicherheitssituation bewusst viele Jahre nicht nach Afghanistan und nicht in den Irak gefahren.

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