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Ein gefährlicher, virtueller Wirbelsturm

Illustration: Christiane Strauss

In den USA beschleunigt sich der Trend: 17 Prozent mehr Amerikaner als im Vorjahr haben sich 2011 über die Weltläufte online informiert. Während andere Dinosaurier-Medien wie Radio, Fernsehen sowie Zeitschriften ihre Marktanteile in etwa halten konnten, büßten die Tageszeitungen nochmals vier Prozent ihrer Auflage ein, in etwa so viel wie bereits im Vorjahr. Wie das „Project for Excellence in Journalism“ in seinem Jahresbericht („State of the News Media“) mitteilt, bricht in noch schwindelerregenderem Ausmaß den US-Zeitungsverlagen nur noch ihr Anzeigengeschäft weg, minus sieben Prozent – in absoluten Zahlen ist weniger als die Hälfte übrig als noch fünf Jahre zuvor.

Damit einhergehend schrumpfen die Redaktionen, die journalistische Infrastruktur wird löchriger. Immer weniger Reporter-Profis wachen über Gemeinderatssitzungen, Schoolboards und die mächtigen Regierungen der 50 Gliedstaaten. Absehbar werden so Machtmissbrauch und Korruption in Amerika aufblühen.

Ein findiger Verleger hatte in Kalifornien schon vor ein paar Jahren die absurde Idee, Berichte über Stadtratssitzungen nicht mehr von ortskundigen Reportern fabrizieren zu lassen. Stattdessen sollten – ungetrübt jedweder Lokal-Kenntnis – billigere Lohnschreiber in Indien die Sitzungen per Videostream verfolgen und so die Leserinnen und Leser „informieren“.

Wo professionelle Rechercheure und Filter zusehends fehlen, öffnen sich die Schleusen für Propaganda. Davon gibt nicht zuletzt das Rührstück Zeugnis, mit dem eine bis dato unbekannte und dubiose Non-Profit-Initiative es dieser Tage auf den Kriegsverbrecher und Kindersoldatenführer Joseph Kony Jagd machte, der sich irgendwo in Afrika versteckt hält. Die Organisation entfachte mit einem rührseligen Filmchen voller schrecklicher Vereinfachungen einen virtuellen Wirbelsturm. Allein auf YouTube wurden bislang mehr als 84 Millionen Klicks erzielt.

Der Rekord ist kein Sieg des „Guten“ über das „Böse“. Er zeugt indes auf erschreckende Weise von der Verführbarkeit und Uninformiertheit einer Generation, die vielleicht auch schon bald das Lesen verlernt haben wird.


Diese Kolumne wurde zuerst in der österreichischen Wochenzeitung „Die Furche“ veröffentlicht.