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Zwischen Aufschrei und Candystorm – wie das Netz die Debattenkultur verändert

Zum Auftakt von „Digitales Morgen“, unserer neuen Reihe mit „Süddeutsche.de“, fragen wir: Welchen Einfluss haben Empörungswellen im Digitalen auf unseren persönlichen und politischen Diskurs?

Als John Stuart Mill vor 200 Jahren seine berühmte London Debating Society gründete, hätte er sich wohl nicht träumen lassen, wie soziale Netzwerke einmal die politische Öffentlichkeit prägen. Der Nationalökonom und Sozialreformer, der bis heute als einer der einflussreichsten Verfechter des politischen Liberalismus gilt, hatte den Londoner Debattierclub ins Leben gerufen, um sich für die Einführung einer „reinen Demokratie“ einzusetzen. Mill hätte sicher seine Freude daran gehabt zu sehen, wie seine Visionen von einer direkten, die Bürger unmittelbar einbeziehenden Staatsform zu Beginn des dritten Jahrtausends greifbar geworden sind – zumindest in Ansätzen.

Die rhetorischen Figuren des Debattierens sind dabei, sich zunehmend der digitalen Moderne anzuverwandeln: Dem ökonomischen „Long Tail“-Prinzip, also der Idee einer digitalen „Vernischung“ folgend, ist eine wachsende Diversität unserer Debattenkultur zu beobachten, aber auch ein deutlicher Zugewinn an Partizipationsmöglichkeiten. Die kommunikativen Wertschöpfungsketten werden durch die digitalen Verästelungen nicht nur aufgebrochen, sondern zugleich filigraner. Verglichen mit der gehobenen Streitkultur von einst, die sich an strengen Sprachregeln und Ritualen orientierte, erscheint die digitalen Debattenära weniger elitär und nicht so stark intellektuell aufgeladen: Das Netz hat gerade die politische Debatte nivelliert und sie – ganz im Sinne John Stuart Mills – ins Herz der Zivilgesellschaft zurückgeführt. Der demokratische Streit ist nicht mehr als hohe Kunst zu verstehen, der nur eine gebildete Oberschicht nachgeht. Sie ist zum Kernelement partizipativer Selbstbestimmung herangereift, die weder publizistische Zugangsbarrieren noch geistige Hürden kennt: Schnell, unkompliziert, direkt und mitunter schmutzig steht sie den Bürgern näher als je zuvor.

Mit der Frage, wie tiefgreifend das Internet den zivilgesellschaftlichen Diskurs und damit den Grad der politischen Mitbestimmung stimuliert, sind Gelehrte, Sachverständige und Politiker aller Parteien schon seit geraumer Zeit befasst. Die 34-köpfige Enquete-Kommission „Internet und digitale Gesellschaft“ hat etwa mit einem Dutzend Projektgruppen nach knapp drei Jahren Amtszeit und 179 Arbeitssitzungen dickleibige Bestandsaufnahmen für den Deutschen Bundestag ausgefertigt. Sie hat darin auch prognostische Handlungsempfehlungen dazu verfasst, wie die „Herausforderungen der digitalen Gesellschaft gemeistert“ und wie „ihre Chancen am besten genutzt“ werden. Es geht den Kommissionsmitgliedern, wie auf ihrer Website nachzulesen ist, um eine Verortung offenkundiger Schlagworte, Konzepte und Perspektiven der digitalen Moderne – wie Medienkompetenz, Datenschutz, Bürgerbeteiligung, Urheberrecht und Verbraucherschutz, aber ganz allgemein auch um die Zukunftsaussichten von Bildung und Forschung, Wirtschaft und Arbeit, Staat und Demokratie. Weniger offenkundig an den Kommissionsberichten erscheint, dass die präsentierten Lösungsansätze immer auch vom Modus unserer Debattenkultur abhängen. Anders gesagt: Die Richtungen, die unsere „digitale Gesellschaft“ in den nächsten Jahren einschlagen oder nicht einschlagen wird, sind vor allem davon abhängig, wie wir über gesellschaftliche Themen diskutieren und über politische Inhalte streiten.

Die Idee, dass soziale Netzwerke die politischen Nischen erobern und ihre Anliegen direkter zum Wähler liefern, klingt da äußerst charmant. Das soziale Netz könnte das hypermoderne Verteilsystem für politische Argumente bilden, das der für viele Bürger inzwischen opake Politikbetrieb so dringend braucht. Es könnte die spezifischen Programme und unterschiedlichen Positionen der politischen Parteien zu größeren und kleineren Debattenthemen wie Elterngeld, Mindestlohn, Tempolimit, Energiewende oder Studiengebühren dort platzieren, wo das für diese Botschaften sensible Publikum sitzt. Und es könnte sich, gewissermaßen im Geiste der „Direktdemokratie“ Mills, zum glaubwürdigen Instrument der Mobilisierung seiner Mitstreiter entwickeln: in Bezug auf Petitionen, die Übertragung von Wahlkampfveranstaltungen mit Abstimmungsrechten oder virtuelle Parteiversammlungen.

Viel Reiz, wenig Thema

„Tue Gutes und rede darüber“ – lautet das älteste Erfolgsmantra der PR-Branche. Und genau diese Devise scheint die Politik für das Social Web zu begeistern. Oberflächlich betrachtet. Das millionenfache Twittern, Liken, Posten und der obsessive Umgang der Amerikaner mit Social-Media-Daten zu Wahlzwecken hat viele Politiker auch skeptisch gegenüber den Praktiken der „Politik 2.0“ gemacht, denn: Vergessen werden darf trotz der Euphorie über den kollektiven Diskursrausch nicht, dass die immer schnellere Kommunikation unberechenbare Dynamiken in unserem demokratischen Staatsgefüge freisetzt, die die Hygiene der Debattenkultur ernsthaft beschädigen könnten. Und das ist die Schattenseite der neuen Volksnähe: Dass der digitale Sofortismus den Akteuren aus Politik und Medien ein hohes Maß an Selbstdisziplin abverlangt, nicht jedes sozialpolitische Thema für seine Follower auf 140 Zeichen einzukürzen, nicht jedes Wahlkampftour-Foto vom Bratwurststand an seine politischen Freunde zu posten – und sei die Versuchung, sich ständig mitzuteilen, noch so groß.

Auch verstärken gerade Netzdebatten, die über einen längeren Zeitraum laufen, den Eindruck, als ginge es den Kommentatoren nicht um den konstruktiven Dialog. Im Gegenteil verlaufen manche Diskussionen oft spitzfindig, destruktiv und blutleer. Die Auseinandersetzungen reichen vom verbalen Scharmützel über ausgewachsene Verschwörungstheorien bis hin zum digitalen Lärm, in dem triftige Argumente selbst mit der Lupe schwer zu finden sind. Syrien, Israel, Gleichstellung oder Homo-Ehe: Beispiele für solche Reizthemen, die mitunter unsachliche Reaktionen auslösen und eine echte Debatte vermissen lassen, gibt es viele – davon singen selbst erfahrene, experimentierfreudige Online-Redaktionen ein Lied. Ob „Spiegel Online“, „Zeit Online“, „tagesschau.de“, „Rhein-Zeitung.de“, „Freitag.de“ oder „Süddeutsche.de“ – es gibt wohl kaum ein seriöses journalistisches Online-Angebot in Deutschland, bei dem emotionale User-Debatten nicht schon einmal die Justitiariate beschäftig hätten.

Angesichts solcher Verwerfungen bleibt fraglich, ob das Meinungsgeschwader im Social Web nicht langfristig einen Substitutionseffekt auf den Journalismus haben wird und vor allem: Welche Folgen das für die Nachhaltigkeit der politischen Öffentlichkeit hat, wenn sich alles Gesagte und Getane in der Politik über soziale Netzwerke ungefiltert seinen Weg zum Wähler bahnt. Es ist zu fragen, ob der Preis der Authentizität, die ja durch den Direktkontakt zum Wähler über Twitter, Facebook und Co. enorm erhöht wird, nicht zu hoch ist – wenn Politik weiter radikal beschleunigt wird. Offen bleibt auch, ob die Verlagerung des dialogischen Moments in letzter Konsequenz eine Aushöhlung der politischen Debatte bedeutet, wenn diese fortan ohne ritualisierte Abläufe und stabile Gefäße verhandelt wird. Dass die ständige Verfügbarkeit Politiker zu Getriebenen machen, wird vielleicht als Kollateralschaden hingenommen. Aber welche Tragweite die „Hektik der Jetzt-Politik“ (Franz Müntefering) für unser grundlegendes Demokratieverständnis hat, ist bei Weitem noch nicht absehbar.

Ungeachtet der Attraktivität sozialer Medien für die Politik sind deshalb die Pathologien unserer digitalisierten Medienwelt von Belang. Sie bestehen auch darin, dass sich Debattanten im Netz selten mit echtem Namen ausweisen, sondern den Nebel der Anonymität nutzen, um zu beleidigen, zu denunzieren oder sogar zu drohen. Dort, in der herrschaftslosen Zone, wird die kollektive Verunglimpfung immer populärer – die gierige Suche nach menschlichen Verfehlungen unserer Volksvertreter, die einzig und allein dem Zwecke dient, die „schwarzen Schafe“ unter den Abgeordneten in einem „Shitstorm“ an den Online-Pranger zu stellen. Joachim Gauck, Peer Steinbrück, Karl Lauterbach (beide SPD), Patrick Döring, Daniel Bahr (beide FDP), Volker Beck, Hans-Christian Ströbele (beide Bündnis 90/ Die Grünen), Dagmar Wöhrl (CSU), Jens Spahn (CDU), Christopher Lauer, Johannes Ponader (beide Piraten): Zahlreiche Spitzenpolitiker – quer durch alle Parteien – haben mit dieser Lawine aus digitalen Wutausbrüchen und persönlichen Hasstiraden unerquickliche Erfahrungen gemacht. Dass es als Pendant zur Entrüstungswelle seit einiger Zeit auch den digitalen Wohlfühlwaschgang, den „Candystorm“, gibt, macht die Sache nicht besser.

Blutleere Debatten statt blutiger Lippen

Man fragt sich angesichts dieser Selbstjustiz, welche moralischen Abgründe die politische Debattenzukunft im Netz noch für uns bereithält und was solche „virtuellen Vernichtungsfeldzüge“ eigentlich über das Substrat unserer Gesellschaft aussagen. Stellen sie eine Gefahr für die demokratische Öffentlichkeit dar? Können die Ur-Prinzipien einer sportlichen und fairen Kontroverse überhaupt rekultiviert werden – und wenn ja: wie? Um die Qualität politischer Auseinandersetzungen und der sozialen Selbstbestimmung sinnvoll zu fördern, wäre es wünschenswert. So, wie es vielen Zeitgenossen offenbar Schadenfreude bereitet, sich in die Tiefen der Kommentarghettos zurückzuziehen und getarnt mit ihren Pseudonymen eine derartig merkwürdige Form der Basisdemokratie zu leben, ohne zu ihren Beleidigungen mit Klarnamen stehen zu müssen, fällt es anderen, die sich erkennbar bemühen, gewissenhafte und strukturierte Debatten ohne lästige Trolle und obszöne Zwischenrufer zu führen, umso schwerer. Die Konstruktion des Social Web macht die Teilhabe heterogener gesellschaftlicher Gruppen erst möglich – soweit, so gut; aber sie verleitet eben auch dazu, Zwietracht zu säen.

Noch heute werden Parlamentsdebatten in der Ukraine, in der Türkei, in Russland, Südkorea, Mexiko oder Italien nicht nur lautstark, sondern traditionell auch unter Anwendung physischer Gewalt geführt – ausgeraufte Haare, zerfetzte Anzüge und blutige Lippen sind an der Tagesordnung. Eine waschechte Prügelei im Parlament ist mit Blick auf manche Unsitte dann doch um einiges aufrichtiger, als wenn ein Politiker im Netz gleich zur „Persona non grata“ degradiert und ihm übel nachgeredet wird.

Es fällt schwer zu behaupten, dass Diskussionen in der digitalen Sphäre per se als politische Arretierungsmarken taugen – Ausnahmen wie die Twitter-Aktion #Aufschrei, in der Anfang 2013 vor allem jüngere Frauen den alltäglichen Sexismus in unserer Gesellschaft sowie sexuelle Übergriffe beklagten, bestätigen die Regel. Gerade solche Diskussionen demonstrieren, dass auch in Deutschland Debatten von gesellschaftlicher Relevanz im Netz entstehen, die es – jenseits der Hektik des Hashtags – schaffen, „festgefahrene Perspektiven aufzubrechen und zu erweitern“, wie #Aufschrei-Initiatorin Anne Wizorek in der aktuellen „Wired“-Ausgabe schreibt.

So unberechenbar der Ausgang solcher Aktionen für den politischen Diskurs auch sein mag, so sehr die Gefahr gegeben ist, dass solche Debatten von Dritten vereinnahmt und gekapert werden und in eine vollkommen andere Richtung abdriften, konnte damit doch bewiesen werden, dass der Auslöser einer solchen Debatte, so Wizorek, „mittlerweile nicht mehr von einer offiziellen Institution ausgehen oder einer bestimmten Zielführung unterliegen muss“. Emotionales Echo nennt sie es, wenn Social Media ein Lagerfeuer entfachen, „um das sich alle spontan versammeln und ihre eigenen Erfahrungen zum Thema einbringen“.

Und vielleicht ist es genau das, was den Reiz, die Stärke des digitalen Debattierens ausmacht: Dass uns das Teilen von Ereignissen und Geschichten neu miteinander verbindet und somit neue politische Identitäten und Diskurse entstehen.


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Dieser Text ist Teil einer gemeinsamen Reihe von VOCER und „Süddeutsche.de“ zum Thema Digitalisierung der Gesellschaft.

Über die von Dr. Stephan Weichert aufgeworfenen Fragen und Antworten sowie das Thema Debattieren insgesamt haben wir diskutiert.

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