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Die Zukunft ist ein Puzzle

Neue Verbreitungswege für Informationen, aufgebrochene Unternehmensstrukturen, veränderte journalistische Rollenbilder: Die Fragmente der „neuen“ Medienbranche liegen direkt vor uns – doch so verstreut, dass sie noch kein vollständiges Bild der medialen Zukunft ergeben.

Die Welt befindet sich im Umbruch. Digitale Ströme durchziehen unseren Alltag und verändern dabei die Grundpfeiler der Kommunikation. Dank Internet, Mobilfunk und Computer senden und empfangen wir ohne Pause – und machen unsere Gesellschaft so zum Netzwerk, zur allgegenwärtigen virtuellen Wolke aus Informationen und sozialen Beziehungen. Die digitale Zukunft der Medien hat längst begonnen.

Die Medienbranche sucht nach Orientierung in dieser Zukunft. Zuviel ist passiert in Folge dieser erst zögerlich entstandenen, nun aber über die Verlage und Medienhäuser rollenden Welle der Digitalisierung. Das traditionelle Geschäftsmodell ist durch die Wucht dieses Aufschlages ins Wanken geraten. Zeitungen und Magazine drucken, an den Kiosk bringen und an Abonnenten verschicken – das alles reicht angesichts der zunehmend im digitalen Alltag verhafteten Medienkonsumenten und den ihnen folgenden Anzeigenkunden bald nicht mehr aus für den einst sicheren Mix von Werbeeinnahmen und Vertriebserlösen. Denn die schwindenden Geschäftsmodelle der Vergangenheit lassen sich noch nicht durch neue Einnahmequellen im Netz kompensieren. Klar ist nur eins: Die Medienbranche kann nicht einfach weitermachen wie bisher.

Die neue Medienwelt ist ein Puzzle. Sie ist noch zu fragmentiert, um sie bereits als Ganzes wahrzunehmen. Doch die vielen Einzelteile zeigen, wohin die Reise geht. Manches wird dabei auf der Strecke bleiben, viel mehr jedoch gewonnen werden.

Neue, digitale Haptik

Es gibt diesen Lichtblick. Seit Jahren warten wir auf das elektronische Papier der Zukunft, das die mit gedruckten Medien sozialisierte Gesellschaft in das neue Zeitalter führen könnte. Dünne Folien, die sich beliebig mit digitalisierten Inhalten befüllen lassen und dabei auch noch das wichtige haptische Gefühl bieten können, das die Leser von Magazinen und Zeitungen kennen. Jetzt ist diese Vision, an der Forscher der bedeutendsten Thinktanks weltweit schon so lange arbeiten, plötzlich Wirklichkeit geworden – und sie sieht ganz anders aus, als wir immer gedacht haben. Apple hat mit dem iPad erstmals einen Computer gebaut, der als Trägermedium für digitalisierte Nachrichtenagebote und Magazine funktioniert und dabei auch eine emotionale Botschaft an seinen Nutzer schicken kann. Wischen, blättern, Interaktion: Eine neue, digitale Haptik hat uns erreicht.

Was das elektronische Lesegerät Amazon Kindle im US-amerikanischen Buchsektor geschafft hat, gelang dem iPad dabei mit spielerischer Eleganz und viel bunter, intuitiver Dynamik: Nutzer sind plötzlich bereit, für digitale Inhalte zu bezahlen. Allerdings befindet sich dieser Umbruch noch ganz am Anfang, ebenso wie die immer wichtiger werdende mobile Komponente der Information, die durch die massenhafte Verbreitung von Smartphones mit großen Displays und schnellem Netzzugang immer mehr Anteil am Medienmix übernimmt. Denn moderne Mobiltelefone und bezahlbare Tarife für den mobilen Internetzugriff erreichen den Massenmarkt – der Siegeszug der Internet-Handys hat die Art und Weise geprägt, wie sich unser Alltag permanent mit einem unablässigen Kommunikations- und Nachrichtenstrom verknüpfen lässt. Und doch ist bislang ungeklärt, wie groß die ökonomische Perspektive dieser neuen Ausspielkanäle für Medienbetriebe tatsächlich ist.

Vor allem aber sind tragbare Touch-Computer wie das iPad und seine immer besser werdenden Konkurrenten nur ein kleiner Schritt in der Evolution, die wir auf dem Weg in die digitale Mediapolis gerade durchlaufen. Viel entscheidender für die Zukunft der Medien ist, was an anderer Stelle passiert.

Wikipedia ist nur der Anfang

Die alte Welt war ein Universum des abgeschotteten Wissens. Es überlebte in Archiven, eingelagert und nur mit gezielter Recherche einsehbar. Die Information der Gegenwart ist digital, sie ist zunehmend online und jederzeit im Netz abrufbar. Ein riesiger Wissenspool entsteht – und schafft so für die Medienkonsumenten eine neue Informationskonstante abseits des traditionellen Nachrichtenmonopols der Medien. Und auch die Wissensgenerierung ist nicht mehr nur traditionellen Medien überlassen: Das Netz macht Information zum gemeinschaftlichen Element, es entsteht durch ein Zusammenspiel aus traditionellen Quellen und der Allgemeinheit der engagierten Nutzer. Das Phänomen Wikipedia ist dabei nur der Anfang, die durch den Schwarm generierte und kontrollierte Informationsmasse wächst unaufhörlich.

Zudem ist der Ursprungsort einer Nachricht im Netz nicht mehr als der Ausgangspunkt für eine vernetzte Reise der Informationen zu den Lesern – denn diese suchen die Medieninhalte nicht mehr automatisch in den Angeboten der journalistischen Marken, sondern stellen sich zunehmend ihren eigenen Medienmix über speziell darauf ausgelegte Online-Dienste zusammen, durchforsten Nachrichtenüberblicke wie Google News oder stoßen durch Empfehlung von anderen auf Inhalte, die sie interessieren. Vor allem soziale Netzwerke wie Facebook oder der Microblogging-Dienst Twitter sorgen so für individuelle Nachrichtennetzwerke, in denen sich jeder User nach Belieben bedienen kann. Social Communitys sind die Kaffeehäuser der digitalen Ära – und schon längst haben sie die klassischen Medienportale in Bezug auf ihre Reichweite weit hinter sich gelassen.

Doch es geht gerade erst los: Facebook wird wie auch Google langsam zu einer eigenen Infrastruktur im Internet, die über ihre virtuellen Synapsen die Kommunikationsströme der Online-Nutzer transportiert. Der Facebook-Account könnte für den Mainstream so bald zum Eingangstor ins Internet werden, ein Dashboard für die digitale Kommunikation.

Neue Player im digitalen Nachrichtenmix

Dazu kommt das Phänomen Wikileaks. Spätestens seit der weltweit aufsehenerregenden Veröffentlichung von internen Dokumenten der US-Diplomatie ist klar, dass die Öffentlichkeit von Informationen in der digitalisierten Welt neu definiert werden muss. Und die Enthüllungsplattform ist nur der Anfang. Denn es hat sich etwas verändert seit 1972 zwei Reporter der Washington Post mit der Enthüllung von brisanten Informationen der sogenannten Watergate-Affäre begannen, die schließlich zum Sturz des US-Präsidenten Richard Nixon führten. Das Internet verändert die Gesetzmäßigkeiten, wie sich Informationen verteilen. War früher noch die konspirative Zusammenarbeit der Informanten mit einem Massenmedium zwingend notwendig, um Aufmerksamkeit zu erlangen, reichen heute dafür im Prinzip die Mechanismen des Netzes aus.

Das 2007 offiziell gestartete Wikileaks konnte sich innerhalb weniger Monate zur zentralen Anlaufstelle für die anonyme Veröffentlichung von geheimen Dokumenten im Netz entwickeln – nicht zuletzt aufgrund der sehr strategisch ausgerichteten Öffentlichkeitsarbeit des Portals, das gezielt auf aufsehenerregendes Material setzt und bei großen Enthüllungen weltweit Medien mit ins Boot holt, die den Informationsschatz dankend zu Titelgeschichten verarbeiten. Schon wird darüber diskutiert, ob Wikileaks die Rolle des Journalismus neu definiert – oder ihn sogar ersetzen kann.

Zumindest zeigt sich, dass Nachrichten nicht mehr an Medienmarken gebunden sein müssen. Die Möglichkeit, mit wenig Mitteln zum publizistischen Angebot zu werden, bringt neue Meinungsführer hervor. Es zeichnet sich sogar ab, dass sich in diesem Zusammenhang klassische Redaktionsmodelle reproduzieren: Aus Online-Projekten können eigene Medienmarken werden, die sich als Geschäftsmodell in den digitalen Nachrichtenmix integrieren und mit einschlägigen Thesen und Stellungnahmen den Medienkreislauf dominieren.

Informationen erreichen die Leser so über immer neue Kanäle – und vor allem: Sie sind zunehmend in jeder Aggregatsform und Lebenssituation abrufbar. Die über und durch Massenmedien sozialisierte Gesellschaft wird zur vernetzten Öffentlichkeit. Doch obwohl diese Entwicklungen als Puzzleteile vor uns liegen: Die Medienbranche hat noch nicht die passenden Antworten auf die digitale Revolution gefunden.

Online-Journalismus steht noch ganz am Anfang

Denn der Medienwandel hat auch den Journalismus kalt erwischt. Die meisten Redaktionen machten trotz der sich langsam abzeichnenden Abwanderung der Leser ins Netz lange so weiter wie bisher und verkannten, dass im Internet nicht einfach nur ein neuer Verwertungskanal entstand, sondern eine neue Öffentlichkeit, die nach ganz eigenen, zugeschnittenen journalistischen Arbeitsweisen und Vermittlungsformen verlangt. Und noch scheint niemand ein Geheimrezept gefunden zu haben, wie sich die neuen Potenziale des Internets sinnvoll und umfassend für den journalistischen Auftrag umsetzen lassen. Es herrscht zudem eine deutlich spürbare Verunsicherung, ob die Medienwelt der nahen Zukunft überhaupt noch die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen dafür bieten kann.

Sicher ist: Der Journalismus im Internet steht noch ganz am Anfang – und das klassische Rollenbild der Journalisten verändert sich gerade nachhaltig. Das alte Modell der publizistischen Einbahnstraße, in der die Medien Informationen verarbeiten und den Leser damit ohne Rückkanal beliefern, ist Vergangenheit. Das Zusammenspiel von Lesern und Journalisten wird die Arbeitsweisen und Darstellungsformen des zukünftigen Journalismus bestimmen. Die bisher zum Konsum verdammten Mediennutzer können die Arbeit von Journalisten nun ergänzen, erweitern und korrigieren. Es braucht daher neue Konzepte, um auf die veränderten Nutzungsgewohnheiten und Wahrnehmungsmuster weiter Bevölkerungskreise zu reagieren. Qualitätsjournalismus wird überleben, wenn er sich dieses gigantische Potenzial des Internet zunutze macht und seinen Weg in einen „New Digital Journalism“ findet.


Dieser Text erschien ursprünglich im Geschäftsbericht 2010 der Tomorrow Focus AG.

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