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Demokratie braucht Zeit

Dem Trend zu Schnelligkeit, Mobilität und permanenter Erreichbarkeit können sich auch Politiker nicht entziehen. SPD-Bundestagsabgeordneter Franz Müntefering fordert ein Tempolimit, um Entscheidungen mit Bedacht treffen zu können.

Fortschritte in der Mobilität sind mögliche – seit Menschengedenken in der Realität genutzte und wirkungsstarke – Formen der Produktivitätssteigerung, also potentiell nützlich für Wohlstandsmehrung. Insofern ist verbesserte Mobilität Chance zur Verbesserung der Lebensqualität für – viele – Menschen. Sie hat in den letzten Jahrhunderten auch dazu beigetragen, in größeren Populationen Demokratie, wie wir sie auf der Grundlage unseres Grundgesetzes kennen, praktikabel zu machen.

Diese Mobilität hat sich insbesondere in Bezug auf Informations- und Kommunikationstechniken in den letzten Jahrzehnten noch einmal tiefgreifend verändert, nämlich differenziert und beschleunigt. Das wiederum hat Auswirkungen für Gesellschaft und Wirtschaft, national und international. Es hat die Idee der Globalität in eine neue historische Kategorie katapultiert.

Für unser Thema – die Arbeit im Parlament und die Demokratie als solche – hat das deutliche Konsequenzen. Demokratie braucht menschenadäquates Tempo. Sie braucht Zeit für die Information an alle Entscheidungsträger, mindestens an die, die demokratisch zur Entscheidung legitimiert sind. Sie braucht Zeit fürs Nachdenken und Abwägen, Zeit für Gedankenaustausch, Meinungsfindung und Entscheidungsbildung bei einzelnen MdB (um es auf diese Ebene zu bringen) in den Expertenkreisen, in der Fraktion, in den Ausschüssen, im Plenum des Bundestages.

Entscheidungen im Schulterschluss

Man kann sagen und zwar mit recht: Es ist doch gar nicht üblich, das MdB’s für alle Entscheidungen wirklich diesen skizzierten hohen Anspruch haben und ihn auch nutzen, wenn die Zeit dafür gegeben ist. Denn Abgeordnete – das gilt auch vergleichbar für andere Berufe – sind doch Spezialisten und vertrauen den Entscheidungen der Experten unter den Kollegen und Mitarbeitern, oft begleitet vom Meinungsaustausch mit Wissenschaft und Praxis. Sie durchdringen nicht jedes Thema wirklich und kennen nicht alle Details. Stimmt, und das war auch schon 1975 so. Aber es gab immer – scheinbar oder anscheinend? – die Fachpolitiker, eben die wirklich Sachkundigen, die in ihrem Thema klaren Blick und Übersicht hatten, die die Details kannten und die in der Kontinuität thematischer Debatten lebten und deshalb Zusammenhänge klar beschreiben und Handlungsalternativen verdeutlichen konnten. Es gab Entwicklungen in der Vergangenheit und es gab Ziele in der Zukunft.

Es gab auch – scheinbar oder anscheinend? – die weitgehende Souveränität in den eigenen nationalen Grenzen, man hatte die Verantwortung für das eigene Land und man konnte sie auch – ob nun sinnvoll oder nicht, ob ratsam oder nicht – auch praktizieren. In der Realität (oder in der Illusion?) waren die Nationalstaaten gut beraten, Schulterschluss und Abstimmung mit nahen und ferneren Nachbarn zu suchen, aber sich doch in der Lage zu sehen, unabhängig davon letztlich ihren eigenen Weg entscheiden und gehen können.

Ein Tempolimit gegen Finanzkapitalismus

Das alles ist im Zeitalter der totalen Mobilität nicht mehr so. Zum ersten mal in der Phase der praktisch-politischen Organisation der Deutschen Einheit hatte ich das Gefühl, ohne hinreichende Abwägung und trotz zahlreicher offener Fragen Entscheidungen treffen zu müssen, die schwerwiegend waren. Es gab kein Lehrbuch mehr und keine Erfahrung. Allerdings: Nie stand der Primat der Politik in Frage, also die Gewissheit, die Dinge politisch und demokratisch legitimiert entscheiden und verantworten zu können, nötigenfalls auch später mit gleicher Legitimation nachjustieren zu können. Es war eben primär doch eine nationale Kategorie, in der wir uns bewegten.

Ungleich problematischer und gesteigert durch die Entwicklung der Informations-Techniken wiederholt sich dieser Eindruck verschärft in den Entscheidungslagen um die internationalen Finanzmärkte. Dabei wird die Unzulänglichkeit demokratisch legitimierter Politik im Rahmen dieser internationalen Zusammenhänge offensichtlich. Es dominiert das ungenierte Spiel der Protagonisten des Finanzkapitalismus, ohne Rücksicht auf die Menschen und auch ohne Respekt vor dem Willen der nationalen Demokratien. „Geld regiert die Welt“ – das sagen diese Herrschaften auch offen. Dabei spielen das Tempo, die Geschwindigkeit und Beliebigkeit der Geldbewegungen und die unzureichende Zeit für demokratische Entscheidungsbildung, eine wesentliche Rolle. Ein Tempolimit (Finanztransaktionssteuer?! Rüttelstrecken und Poller!) kann eine hoffentlich gute Wirkung haben. Mindestens muss das mit Nachdruck versucht werden.

Mediengegacker

Medien spielen eine große Rolle beim Temporausch. Einmal, weil ihre Attraktivität und damit ihre Marktchancen auch davon abhängen, wie früh sie Fakten wissen, auswerten und gezielt einsetzen können. Aber auch, weil sich die Politik nicht wirklich immer und konsequent diesem Rausch verweigert. Politik ist zu oft bereit, angefordert oder selbstaktiv, unfertige Gedanken und Themenrudimente in die Medien zu geben, mit ihnen zu spielen, statt sich Zeit zu nehmen fürs Nachdenken und verantwortliche Handeln. Aber auch mit besonders lautem Gegacker kann man keine ungelegten Eier ausbrüten.

Der demokratische Staat muss seine Interessen bedenken und Bedingungen formulieren und muss durchsetzen, was der vernünftige Umgang mit Zeit und was demokratische Regeln erfordern. Das ist allerdings nicht einfach und hat grundsätzliche und praktische Fragestellungen. Der Obersatz lautet: Wer die Zeit nicht beherrscht, fällt aus ihr heraus. Er scheitert.

Hektitk der Jetzt-Zeit-Mentalität

Zeit ist in zweifacher Hinsicht relevant für das Gestalten von Politik. Politik muss beiden Aspekten gerecht werden: Der Nachhaltigkeit des Gesellschaftsentwurfs. Und den persönlichen Lebensentwürfen, die die Einzelnen zu realisieren versuchen. Es geht um die Zeit der Gesellschaft in Kontinuität und die millionenfache individuelle Lebenszeit. Man kann sagen: Die objektive und die subjektive. Beides sind Formen von Zeit, die eine Dimension haben, eine Dauer. Und sie sind aufs Engste aufeinander bezogen, aber nicht identisch und natürlich sind sie Prozesse, in keinem Augenblick statisch und starr.

Die Hektik der Jetzt-Zeit-Mentalität und -Politik, die wir erleben und die im wesentlichen Folge der totalen Mobilität ist – im Speziellen der Informations- und Kommunikations-Mobilität -, tangiert diese Zusammenhänge massiv, objektiv und subjektiv. Eine Antwort muss deshalb sein, Zeiten und Räume zu setzen und zu prägen, die dauerhafte Zusammenhänge verdeutlichen und anstreben. Also eine Politik der Nachhaltigkeit, der langen Zeit, zu praktizieren – und eine des internationalen, in diesem Falle: des europäischen Zusammenwachsens.

Praktisch heißt das: Der Nachhaltigkeit großes und verbindliches Gewicht geben in Legislative und Exekutive. Auch der Tatsache genügen, dass wir länger leben und dass Bevölkerungszahl und Altersstrukturen und Wanderungsbewegungen vieles verändern. Und: Eine funktionierende Demokratisierung der EU als eine Chance zu nutzen, zu lernen und zu zeigen, wie unter den neuen Mobilitätsbedingungen Demokratie auch in größeren Räumen und Populationen gelingen kann.

Beides, die Nachhaltigkeit und die Demokratie-EU, gelingt nicht mit übertriebenem Zentralismus, sondern mit angemessen viel Subsidiarität. Die kleinen Einheiten – die Regionen – gewinnen im Größerwerden an Gewicht. Entschleunigung kann nicht bedeuten, Kommando zu geben und die Zeit anzuhalten oder zum Jetzt-Zeit-Punkt zu verschmelzen. Der wesentliche Zeitgewinn muss durch die Setzung größerer Zeiträume gelingen.

Webstühle zerschlägt man nicht

Nur ein mutiger und verlängerter Blick in die Zukunft kann erreichen, eine gesichertere Zielsetzung zu haben und den Weg dahin zu finden – und zu erkennen, was geht und schnell getan werden kann oder muss, ohne den weiteren Weg und das Ziel zu gefährden.

Entschleunigung wird nur sehr bedingt gelingen, wenn modernen Informationstechniken Bremsen angelegt werden – trotzdem sie sinnvoll sind. Es geht im Kern darum, auf der Grundlage der zentralen demokratischen Werte der eigenen Politik Zeiträume zu eröffnen und Sicherheit im Prozess.

Das Problem der Informationsvielfalt und -geschwindigkeit ist eben nicht das Tempo. Webstühle zerschlägt man nicht. Es ist ihre Tendenz zur Zerstörung der Zeit, zur Ballung, zur Konzentration auf den Jetzt-Punkt, zur Ablenkung von der Perspektive. Wo Gegenwart Vergangenheit überdeckt und Zukunft vernebelt, ist Fortschritt nicht möglich. Es geht um die richtige Balance. Gelebt wird jetzt, und jetzt muss gehandelt und geholfen werden. Die Gegenwart ist entscheidend, keine Frage. Aber wenn die Perspektive fehlt, kann selbst die Gegenwart nicht gelingen. Und da hakt es.

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