In Hückeswagen kocht die Volksseele. Endlich ist Geld für die Umgehungsstraße da, doch sie soll schnurstracks durch das Naturschutzgebiet führen. Die einen freuen sich – die Anwohner der Hauptstraße, die im Lastwagenverkehr schier ersticken. Sie hoffen auf ruhigere Tage. Die anderen aber sind empört und protestieren gegen die Naturzerstörung. Montagsdemos am Rathaus sind angekündigt. Die Bauern haben sich auch gemeldet und wollen keinen Quadratmeter hergeben. Mittendrin im Meinungsstreit: die Lokalredaktion, die bisher kaum mit solchen Wutbürgern zu tun hatte.

Ihre gut gemachte Chronistenpflicht klappt nicht mehr. Von allen Seiten schlägt ihnen die Kritik entgegen: „Wie könnt ihr nur neutral bleiben bei diesem Thema?“ Jede Streitpartei fordert ein klares Bekenntnis der Zeitung. Die aber fühlt sich der journalistischen Objektivität verpflichtet. Wie kommt die Redaktion aus der Bredouille? Welche Ideen und Konzepte greifen, damit die Leser merken, hier sind ehrliche Makler am Werk? Beratung tut Not, und zwar von Kolleginnen und Kollegen, die mit ähnlichen Situationen konfrontiert waren, die schon „durchs Feuer“ gegangen sind. Und die nicht für einen Tag in den Ort einfliegen wie überregionale Medien und sich um das Danach nicht zu kümmern brauchen. Was heißt da Bürgerzeitung für alle? Wie haben die Stuttgarter Zeitungen den Streit um Stuttgart 21 begleitet? Was war gut? Wo haben sie Fehler gemacht? Wie haben sich die Zeitungen im Wendland im jahrelangen Streit um Gorleben verhalten?

Ein Netzwerk von „Lokaljournalisten für Lokaljournalisten“ hilft sich selber und findet sich unter dem Dach des Magazins „Drehscheibe“ zusammen. Einmal im Monat in Print und täglich im Internet gibt es Informationen, Tipps und Ratschläge zu den Alltagsproblemen der noch immer mehr als 1.500 Lokalredaktionen in Deutschland. Entstanden sind die Dienste aus der Community des Lokaljournalistenprogramms der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb). Auf Modellseminaren werden Trends und Entwicklungen im Lokaljournalismus sowie Themen aus Politik, Wissenschaft und Gesellschaft vertieft. Die Ergebnisse finden sich in den „Drehscheibe“-Heften wieder. Konzepte wandern ins Archiv und sind für die Abonnenten jederzeit abrufbar. Dort finden sich zahlreiche Fallbeispiele, wie Zeitungen mit Bürgerprotesten umgegangen sind – in den Lokaltipps, den Ideenlisten, in den zahlreich en Interviews und Videos.

Von Stuttgart und Gorleben lernen

Es ist spannend und erhellend nachzulesen, dass die „Stuttgarter Zeitung“ Tag und Nacht mit Leuten vor Ort war, als die Proteste gegen S21 eskalierten. Der Nutzer kann nachvollziehen, wie recherchiert wurde, wie viele Kollegen ständig mit der Geschichte befasst waren, wie die Zeitung sich verhielt, als sie zwischen allen Stühlen saß, und wie sie online die Leser in die Diskussion eingebunden hat. Gleichzeitig können die Nutzer nachlesen, was ein Lokalredakteur der „Allgemeinen Zeitung“ aus Uelzen über die fast jedes Jahr wiederkehrenden Proteste gegen die Castor-Transporte nach Gorleben zu erzählen weiß, wie man dort mit Polizei und Protestlern umging und zusammenarbeitete. Wer will, kann von den Erfahrungen der vielen Redaktionen profitieren – ohne dass er sie eigens dafür aufsuchen muss.

Egal um welches Thema es sich handelt – um einen Moscheebau, eine Flughafenerweiterung, eine Lärmschutzwand, um Windräder oder um eine Umgehungsstraße. Die Lokalredakteurinnen und -redakteure können mit ein paar Klicks von einer Fülle an Erfahrung profitieren – mit gewieften Kolleginnen und Kollegen reden, die sie vielleicht niemals im Leben kennengelernt hätten, die E-Mail-Adressen und Telefon-Nummern sind im Service inbegriffen.

Und das ist längst nicht alles. Denn Redaktionen können sich von der „Drehscheibe“ auch inspirieren lassen, welche journalistischen Formen sie wählen können, um den Konflikt auf spannende Art zu begleiten. Sie werden Beispiele dafür finden, wie Zeitungen umstrittene Themen in einem Pro und Contra diskutieren ließen und sie werden auf Online-Foren stoßen, die von Zeitungen eingerichtet wurden, können erfahren, wie Bürgerplattformen beim Leser ankommen. In der Internetwerkstatt der „Drehscheibe“ oder in einer der Online-Ausgaben zum Thema kann man sich darüber informieren, welche datenjournalistischen Möglichkeiten es gibt, ein Thema interessant zu bearbeiten. Wie können Slideshows und Videos verwendet werden, wie kann man einen Live-Ticker einrichten, wenn die Situation hochkocht? Wie funktionieren neue Tools wie Timeline JS, Storify oder Vine?

„Die ‚Drehscheibe‘ hat Antworten. Sie inspiriert mich und spornt mich an. Sie zeigt mir, dass es immer Kolleginnen und Kollegen gibt, die bessere Ideen haben als ich. Wenn wir voneinander lernen und beweglich bleiben wollen, müssen wir uns aneinander reiben. Keine Idee kann schräg genug sein, wenn es darum geht, auf das Lokale – und damit auf die Zukunft der Zeitung – zu setzen“, sagt Regina Krömer, journalistische Büroleiterin der Chefredaktion der „Main-Post“ in Würzburg.

Herausforderung: Twitter & Co.

Vieles hat sich verändert in den vergangenen Jahrzehnten. Kaum ein Lokalredakteur sitzt noch allein hinter seinem Schreibtisch und zerbricht sich den Kopf darüber, wie er bei einem Thema vorgehen soll. Denn der Lokaljournalismus im Jahr 2013 ist vernetzt. Mit den Bürgern, aber auch untereinander. Auch wenn es manche Medienkritiker noch nicht mitbekommen haben und ihre provinziellen Vorurteile pflegen: Die Fenster und Türen der Lokalredaktionen sind weit geöffnet – der Wind des gegenseitigen Austausches weht durch die Redaktionsräume.

Und dieser Austausch ist wichtiger denn je. Denn in einer Welt, in der alle Informationen immer nur einen Klick weit entfernt sind, kommt dem Lokaljournalismus eine Schlüsselfunktion zu. Was aus dem Kinderspielplatz um die Ecke wird, welche Entscheidung der Stadtrat in Sachen Parkraumbewirtschaftung getroffen hat oder wie der Streit um die Umgehungsstraße weitergeht – das erfährt der Leser eben nicht in der „Tagesschau“. Er erfährt es vor allem aus seiner Lokalzeitung. Und er erfährt es auf lokalen Online-Portalen, via Tablets und Smartphones, auf Facebook, Twitter und anderen sozialen Kanälen. Er erfährt es in vielfältigen multimedialen Erzählweisen. Und: Er soll und kann sich daran beteiligen.

Das als Lokaljournalist alles erfolgreich zu bedienen, ist eine gewaltige Herausforderung. Wie der moderne Leser angesprochen und eingebunden werden muss, ist eine kollektive Herausforderung für den heutigen Lokaljournalismus. Keine Redaktion kann die journalistischen Chancen aller neuen Tools und Plattformen alleine ausloten. Hierüber müssen sich die Blattmacher austauschen. Hierfür brauchen sie Plattformen. „Gerade in Zeiten der Arbeitsverdichtung im Lokalen ist es möglich, gute Ideen mehr als einmal zu nutzen und damit zeitlich effektiv eine qualitativ anspruchsvolle Zeitung zu produzieren. Die „drehscheibe“ soll Impulse geben und Themen setzen“, beschreibt Prof. Dr. Sonja Kretzschmar von der Bundeswehr Hochschule in München das Lokaljournalistenprogramm der bpb, das sie einige Jahre begleiten durfte.

Netzwerk und Ideenschmiede

Eine dieser besonderen Austauschbörsen ist die „Drehscheibe“, im Lokaljournalismus vermutlich die wichtigste. Die „Drehscheibe“ ist mehr als ein Magazin – sie ist Netzwerk und Ideenschmiede zugleich. Sie bringt Journalisten aus dem ganzen deutschsprachigen Raum zusammen. Sie klärt über die aktuellen Entwicklungen im Online-Bereich auf. Hier steht es, wenn jeder Mitarbeiter der Rhein-Zeitung angehalten wird, verstärkt Twitter als alltägliches Tool zu nutzen, wenn die Schwäbische Zeitung ein regionales iPad-Magazin auf den Markt bringt oder die Passauer Neue Presse mit einer Verkehrs-App aufwartet.

Die „Drehscheibe“ liefert Ideen und Konzepte, die hilfreich sind auf dem Weg in die Zukunft des Lokaljournalismus. Sie ist die Ideenbörse fürs Lokale, ein Marktplatz für journalistische Geistesblitze, Forum, Netzwerk und Archiv zugleich. Und sie vermittelt ein journalistisches Selbstverständnis. Egal für welches Medium und in welcher medialen Form in Zukunft aus dem Gemeinderat oder dem Gerichtssaal berichtet wird: Für eine demokratische, kommunal strukturierte Gesellschaft ist es von großer Bedeutung, dass überhaupt weiterhin Lokaljournalisten vor Ort sind. Dieses Selbstbewusstsein, auch innerhalb der Redaktionen, entsteht durch Vernetzung. Feuilletonisten, bundespolitische Berichterstatter, Wirtschaftskorrespondenten – sie alle konnten sich immer schon in der Arbeit der Kollegen bestätigen, spiegeln oder Anregungen holen. In der digitalen Welt ist dies inzwischen noch viel einfacher für die Lokaljournalisten möglich.

Die Regionalverlage und Lokalredaktionen haben längst begonnen, dies zu nutzen. Kaum eine Zeitung oder ein Verlag,die nicht mit Formaten und Kanälen experimentieren. Die Herausforderung wird – gewiss nach anfänglichem Zögern -inzwischen mit Freude und Lust an der Veränderung angenommen. Der Lokaljournalismus steht vor einer einzigartigen Renaissance. Und doch: die einfachen Wahrheiten und Ansprüche bleiben bestehen: Er deckt Korruption auf, sensibilisiertfür Ungerechtigkeiten, macht Politiker verantwortlich für ihre Versprechen. Er informiert Bürger und Konsumenten, hilft eine öffentliche Meinung zu bilden, erklärt komplexe Themen und befeuert das Gespräch in der Gemeinde, damit die Demokratie lebendig bleibt – im ganzen Land und natürlich auch in Hückeswagen.