„Wir kämpfen gegen das Vergessen“
Folter, Arbeitslager, Entführung, Vergewaltigung: In Ländern ohne Pressefreiheit müssen inhaftierte Journalisten mit allem rechnen – außer mit einem fairen Prozess. Zwischen politischer und juristischer Willkür können sie oft nur auf die Hilfe einer Organisation wie Reporter ohne Grenzen (ROG) hoffen. Seit 26 Jahren setzt sich die Menschenrechtsorganisation weltweit für die Pressefreiheit ein.
Auch Anja Viohl ist für die Organisation aktiv. Im Interview mit VOCER erklärt sie, was Journalisten in manchen Ländern erwartet, wie ROG hilft und welche Rolle das Internet für die Pressefreiheit spielt.
Wer gilt eigentlich als inhaftierter Journalist? Gehören dazu auch Reporter, die im Supermarkt geklaut haben?
Anja Viohl: Nein, natürlich nicht. Aktuell zählen wir mindestens 158 inhaftierte Journalisten weltweit. Das sind alles Fälle, bei denen wir uns sehr sicher sein können, dass die jeweiligen Reporter wegen oder während ihrer journalistischen Tätigkeit festgenommen wurden. Das sind Medienmitarbeiter, die schon mehreren Monaten oder Jahren im Gefängnis sitzen. Dazu kommen noch zahlreiche kurzzeitige Festnahmen von Medienmitarbeitern von mehreren Stunden bis zu mehreren Wochen. Diese Fälle tauchen noch gar nicht in unserer Statistik auf unserer Website, im so genannten Barometer, auf. Im vergangenen Jahr 2011 zählten wir, alle Kurzeit- und Langzeitfestnahmen zusammengerechnet, weltweit insgesamt 1044 Festnahmen von Journalisten. Das sind fast doppelt so viele wie im Jahr 2010.
Was mit den Protesten in der arabischen Welt zusammenhängen dürfte.
Genau, das ist ein Faktor für den starken Anstieg an Festnahmen. Die Berichterstattung über Demonstrationen und Aufstände erwies sich als schwierig und risikoreich. Wir haben nicht nur Verhaftungen dokumentiert, sondern auch Übergriffe gegen Journalisten. Die Informationen über Festnahmen und Inhaftierungen erhalten wir in erster Linie von unseren mehr als 140 Korrespondenten, die über den gesamten Globus verteilt sind.
Was erwartet die Journalisten im Gefängnis?
Inhaftierte Journalisten finden sich hauptsächlich in Ländern mit autoritären Regierungen wie zum Beispiel Eritrea, Iran, Syrien oder China. In einigen Gefängnissen sind die Haftbedingungen menschenunwürdig, die sanitären Verhältnisse sind katastrophal, die Versorgung in jeglicher Hinsicht unzureichend. Aus manchen Regionen erreichen uns sogar Meldungen von Folter, Zwangsarbeit, und Vergewaltigungen.
Zum Beispiel?
In einigen Gefängnissen werden die Insassen auf kleinstem Raum zusammengepfercht. Das andere weit verbreitete Extrem ist Isolationshaft. Ein iranischer Journalist berichtete uns von einer Einzelzelle so groß wie ein Grab – ein mal zwei Meter. Viele politische Häftlinge werden in den Gefängnissen körperlich und psychisch fertig gemacht. Einige tragen lebenslange gesundheitliche Schäden und seelische Wunden davon.
Was kann Reporter ohne Grenzen überhaupt für diese Berichterstatter tun?
Das Wichtigste ist unsere direkte Hilfe vor Ort. Wir sorgen beispielsweise für einen Anwalt oder setzen uns dafür ein, dass bei einem laufenden Prozess unabhängige Beobachteranwesend sind. In manchen Fällen unterstützen wir auch Familien von inhaftierten Journalisten, die nicht mehr wissen, wie sie sich versorgen sollen, weil das Haupteinkommen plötzlich wegfällt. Nicht zu unterschätzen sind zudem unsere Bemühungen, eine Öffentlichkeit für inhaftierte Journalisten herzustellen. Das ist auch ein sehr wichtiger Hebel, um gegen das Vergessen zu kämpfen.
Denn je bekannter ein Fall ist…
…desto größer ist der Druck auf die jeweilige Regierung, möglicherweise doch zu handeln. Unsere jahrzehntelangen Erfahrungen zeigen: Inhaftierte, auf deren Schicksal immer wieder international aufmerksam gemacht wird, haben im Durchschnitt eine bessere Chance, wieder freizukommen oder bessere Haftbedingungen zu bekommen. Leider trifft das immer noch bei weitem nicht bei allen Gefangenen zu. Wenn westliche Reporter im Ausland festgenommen oder entführt werden, sorgt das häufig weltweit für Aufsehen. Das ist sehr wichtig. Wir möchten erreichen, dass das Gleiche auch bei der Festnahme von einheimischen, lokalen Journalisten passiert, damit Informationen über ihren Verbleib und ihre Situation von autoritären Regierung nicht einfach unter den Teppich gekehrt werden können.
Seit 26 Jahren engagiert sich Reporter ohne Grenzen nun schon für inhaftierte Journalisten. Sind die Zahlen seitdem rückläufig?
Nein, blickt man auf die Zahlen der vergangenen Jahre, wird es eher schlimmer. Eine Ausnahme ist derzeit das südostasiatische Land Birma. Dort hat die Regierung vor wenigen Tagen 16 Journalisten von insgesamt 23 inhaftierten Reportern freigelassen.
Aber ansonsten ist die Situation eher schlimmer als besser? Hat das etwas mit dem Aufkommen des Internets zu tun? Immerhin hört man immer häufiger auch von inhaftierten Bloggern.
Ja, das Internet hat einiges verändert. In Ländern ohne oder mit wenig Pressefreiheit gibt es häufig keine oder kaum kritische Berichterstattung in den klassischen Medien. Das Internet mit seinen vielfältigen Möglichkeiten, Informationen zu verbreiten und als Autor oder Aktivist anonym zu bleiben, ist in vielen dieser Staaten das freieste Medium. Immer mehr Menschen fassen den Mut, ihre Meinung online öffentlich zu machen. Das lassen sich einige Regierungen nicht gefallen und reagieren mit Repressionen und Zensur. Das bringt viele Blogger, aber auch Internetnutzer, die einfach nur Berichte verbreiten – sie zum Beispiel verlinken oder weiterschicken – in Gefahr. Eine steigende Zahl dieser, ich nennen sie mal Online-Aktivisten, wird weltweit verfolgt und verhaftet. Aktuell sind weltweit mindestens 124 von ihnen hinter Gittern.
Was kann jeder einzelne von uns tun?
Jeder kann bei Reporter ohne Grenzen Mitglied werden und auf diese Weise unsere Arbeit unterstützen. Als unabhängige Nichtregierungsorganisation sind wir auf Mitgliedsbeiträge und Spenden angewiesen. Außerdem sammeln wir immer wieder Unterschriften für inhaftierte Journalisten. Die Petitionen werden direkt an die jeweilige Regierung übergeben und sind ein wichtiges Mittel, um Druck zu erzeugen. Aktuell sammeln wir zum Beispiel für zwei Blogger, die in Ägypten im Gefängnis sitzen. Jede Unterschrift hilft!
Dieses Interview entstand im Rahmen des ersten VOCER-Medialab-Projekts gemeinsam mit der Macromedia Hochschule für Medien und Kommunikation in Hamburg.