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Keine polemischen Exzesse mehr!

Wie gehen Medien mit der Debattenkultur auf ihren Plattformen um? Ein Appell zur Entstörung der Kommunikation in Web-Foren.

359 Likes zählte der Facebook-Post von Timon Ruge, nachdem der Online-Chefredakteur der „Lübecker Nachrichten“ am 12. Juni sekundiert hatte, dass die Redaktion der Regionalzeitung ab sofort keine Beiträge zur Flüchtlingsproblematik mehr posten würde: Aus Sorge vor weiteren überschäumenden Hasstiraden seiner Facebook-Gemeinde, die sich als Reaktion auf die Berichterstattung über eine Lübecker Erstaufnahme-Einrichtung für 600 Flüchtlinge in Befürworter und Gegner spaltete.

„Diese polemischen Exzesse“, hieß es in dem Post, „widersprechen unserer Netiquette und auch der ansonsten freundlichen und sachlichen Gesprächskultur auf diesem Kanal, die wir weiter pflegen wollen.“ Grund für den plötzlichen Kommentarstopp sei die Masse der justiziablen Anfeindungen, die „einfach nicht mehr zu handhaben“ gewesen seien.

Immerhin: 359 Leser zeigten sich öffentlich einverstanden, dass ihre Lübecker Heimatzeitung derlei Verbalattacken nicht mehr dulden wollte und streckten ihren Facebook-Daumen als öffentliches Zustimmungsbekenntnis nach oben. Doch die meisten der 176 Kommentare und der Aberhundert Ko-Kommentare, die sich immer noch unter Ruges Facebook-Eintrag finden, lassen schnell erahnen, wie die Stimmung auf der Social-Media-Repräsentanz des Lübecker Verlagshauses in den vergangenen Monaten zeitweise gekippt sein muss.

Lackmustest für Redaktionen

Vor allem die sogenannte Lügenpresse überschüttet der Social-Media-Pöbel auch diesmal mit reichlich Häme und Kritik: Von „Problemen totschweigen“ und „dem Hass nachgeben“ ist die Rede, von einem „breiten Kreuz“, das der Redaktion offenbar fehle und davon, dass „Journalismus anders geht“.

Beinahe stoisch antwortet Ruges Mannschaft immer wieder auf ätzende Kommentare, dass die Redaktion selbstverständlich weiter auf der Homepage berichte, nur eben nicht auf der eigenen Facebook-Seite. Alleine es nützt nichts: Weiter wird verbal auf die Redaktion eingeprügelt, die Vorwürfe der Selbstzensur mehren sich eher noch. Emotional gelassen bleibt kaum ein Mitdiskutant.

Dass Leser zu etlichen Themen immerwährend Stellung beziehen, indem sie das Daumensymbol bei Facebook anklicken, kommentieren, Beiträge teilen, retweeten und liken, um sich damit gegenseitig Zuneigung oder Antipathie zu bekunden, ist nichts Neues. Doch die Intensität und Dynamik, mit der sie ihre Meinungen seit geraumer Zeit kundtun, hat sich potenziert: ungefilterter, ungehemmter, ungestümer geht es derzeit in den Echokammern der „Filterblase“ (Eli Pariser) zu. Das Einhegen des öffentlichen Diskurses, der Umgang mit Störern und Trollen, wird für viele Redaktionen zum Lackmustest: Die einen sehen durch diesen Trend das publizistische Ökosystem gestört. Andere wittern einen Angriff auf die Professionalität des Journalismus oder fürchten zumindest eine Abnahme seiner Relevanz.

Irgendwo dazwischen liegt die Wahrheit. Dass die Einschläge näherkommen, merken unmittelbar solche Journalisten, die sich an der Social-Media-Front durchzukämpfen versuchen: Die Einbindung der Nutzer kann zeitraubend sein. Sie kann für Störungen im geordneten Redaktionsbetrieb sorgen und Journalisten von ihrer eigentlichen Arbeit abhalten.

Viele Redakteure murren, wenn sie Forenkommentare im Schichtdienst wegmoderieren. Das ist nachvollziehbar, denn wer stundenlang verbales Unkraut jätet, stumpft ab und klickt irgendwann alles Mögliche weg. Auch die konstruktiven Beiträge. 1000 Kommentare und mehr pro Stunde neutral zu bewerten – das machen auch die biegsamsten Gehirne nicht mit.

Es ist schon lange ein offenes Berufsgeheimnis, dass Journalisten im Umgang mit ihren Lesern und Zuschauern verzweifeln. Bloß laut auszusprechen, dass sich viele von ihnen vielleicht verrannt haben und inzwischen an einem dialogischen Motivationstiefpunkt angekommen sind, traut sich kaum jemand. Dass das Niveau in den Kommentarspalten gerade journalistischer Angebote so drastisch ins Bodenlose abdriftet, hatte niemand in Erwägung gezogen. Auch nicht, dass es für Journalisten so aufreibend werden könnte, sich dem Publikumsdialog zu stellen. Die Hoffnung, dass das Gros der Nutzer zur Räson zu bringen wäre, war wohl größer als die Befürchtung, dass die Dialogisierung scheitern könnte.

Auf der anderen Seite nimmt das Publikum seine Rolle als Kritik- und Kontrollinstanz der Medien vergleichsweise wenig und allenfalls selektiv wahr, weshalb auch das neumodische Paradigma vom Publikum als der „fünften Gewalt“ ins Leere greift. So sehr diese Floskel in Gelehrtenkreisen einigen rhetorischen Charme entfalten mag, ist sie doch realitätsfremd: Eine neue publizistische
Gewaltenteilung, in der sich Nutzer zu Kontrolleuren der Journalisten aufschwingen, wäre erst gegeben, wenn es überhaupt eine kritische Masse gäbe, die sich erstens weniger punktuell in den öffentlichen Diskurs einbringen würde und, zweitens, die Masse der hämischen Kommentatoren wie in der Flüchtlingsdebatte nicht derart überwöge.

Alptraum der Schwarmbosheit

Die meisten Nutzer wollen in Debatten vor allem den eigenen Standpunkten Sichtbarkeit verleihen. Und dafür scheint ihnen jedes Mittel Recht – Hauptsache geräuschvoll und provokant. An einer sachlichen Argumentation ist nach wie vor nur ein Bruchteil interessiert. Zugleich werden die Beteiligungsoptionen für Nutzer noch zu wenig vom Publikum her gedacht: Es fehlen offenkundig konkrete Vorschläge, welche Formen der Partizipation im Journalismus gefördert und gefordert werden. Erst hinter wenigen Angeboten wie „Krautreporter“ und „Correctiv“, aber auch „ZDF heute +“ oder dem schicken Jugendangebot „ze.tt“ des Zeit-Verlags stecken kluge Köpfe, die sich profunde Strategien zum Publikumsdialog überlegen.

Doch die gelebte Praxis ist mühsam: Gerade bei Reizthemen wie der Ukraine-Krise, Syrien, Pegida oder – wie im Falle der „Lübecker Nachrichten“ – der aktuellen Asylpolitik der Bundesregierung hat der öffentliche Diskurs einen gehörigen Schluckauf. Immer wieder kommt es zu überschäumenden Verbalexzessen, die wegen personeller Engpässe von den meisten Redaktionen kaum zu stemmen sind. Oft jagt ein Shitstorm den nächsten, zahlreiche Anfeindungen sind justiziabel, so dass vor allem kleineren Redaktionen schnell Puste und Personal ausgehen: In der Regel scheitert es daran, dass bei nachrichtlichen Großlagen gar nicht alle Kommentare gesichtet, geschweige denn nach einer Systematik gewichtet werden können, um die Kritikwellen zu bändigen. Und dieses Dilemma gilt für fast alle Redaktionen.

Aus dem Traum von der Schwarmintelligenz ist ein Alptraum der Schwarmbosheit geworden. Vor allem bei antisemitischen oder ausländerfeindlichen Netzdebatten zeigt sich, dass es in den Kommentaren nur so von Unwissen und etlichen Verschwörungstheorien wimmelt. Es ist also kein Wunder, dass viele Onliner niedergeschlagen sind, manche sogar überfordert. Einige von ihnen gehen mit einem Magengrimmen in den Feierabend, nichts wirklich Produktives geleistet zu haben. Hinter vorgehaltener Hand sagen viele von ihnen, sie hätten das Gefühl, die Kärrnerarbeit im Newsroom
zu verrichten, während die anderen Kollegen von unterwegs so tolle Dinge tun wie für Reportagen und Features zu recherchieren oder Videos zu drehen.

Netiquette als Kosmetik

Im Spott des Social-Media-Mobs artikuliert sich kein Angriff auf die Pressefreiheit, sondern einer, der an das journalistische Gewissen appelliert: Dass Vor-Ort-Reportagen inzwischen als journalistisches Luxusgut gelten zeigt einmal mehr, warum die Grundfesten des Berufs wanken. Ein Grund dafür ist der Tunnelblick vieler Journalisten, der sich verstärkt, je seltener sie mit
unvoreingenommenen Nutzern Kontakt haben. Stattdessen müssen sie sich mit Trollen herumschlagen, während umgekehrt immer weniger Nutzer kaum noch mit unabhängigem Journalismus in Berührung kommen.

Ginge es nach den Suchmaschinenoptimierern, würde sich der Wert des Journalismus wahrscheinlich nur noch an seiner Auffindbarkeit im Netz bemessen, aber keinen Wert an sich darstellen, egal wie erfolgreich er investigativ arbeitet.

Der prototypische Netznutzer ist anscheinend aus einem anderen Holz gemacht als der, den sich viele Redakteure gerne geschnitzt hätten: Einer, der nicht nur motzt, sondern der engagiert mitdenkt, mitdiskutiert und im besten Fall auch noch bereit ist, für sein Mittun Geld zu bezahlen: Eine Armee eierlegender Wollmilchsäue, die Redakteuren einen Teil ihrer Arbeit abnimmt und sie am Ende dafür honoriert – das war die Idealvorstellung vieler Journalisten, bevor sie sich in die Abgründe der sozialen Netzwerke begeben haben, also dorthin, wo gepöbelt, gestänkert und gemobbt wird – je kontroverser das Thema, desto lauter das Gezänk.

Viele Redaktionen denken deshalb neuerdings über Frühwarnsysteme für Shitstorms nach und erarbeiten sich interne Verhaltenskodizes für Kritikwellen. Weil sich die Medientechnologien rascher entwickeln, als die Redakteure mit adäquaten Regelwerken hinterherkommen, ist die hergebrachte Netiquette häufig nicht mehr zeitgemäß und in vielen Fällen nur noch reine Kosmetik. Waren etwa bis vor einem halben Jahr Snapchat oder WhatsApp kaum Thema, brennen viele Redaktionen heute darauf, diese Plattformen als zusätzliche Vertriebskanäle zu nutzen. Und mit diesen Kanälen ändert sich schlagartig auch die Debattenqualität im Netz.

Immerhin gibt es in einigen Redaktionen inzwischen Bestrebungen, ihren intuitiven Verhaltenskodex für Debatten in sozialen Netzwerken in feste Richtlinien zu gießen: Das Social-Media-Team des NDR versucht etwa, den Umgang mit Kritikwellen und Shitstorms mittels eines internen Memos in den Griff zu bekommen. In Ergänzung zu den bestehenden Richtlinien, die auf der Website zu finden sind, werden Kommentarstrategien für NDR-Mitarbeiter empfohlen, um einen möglichst zivilisierten Diskurs zu gewährleisten: „Geht eine Redaktion transparent, sachlich und freundlich mit Kritik
um, verlaufen Debatten erfahrungsgemäß zivilisierter und ebben schneller ab“, heißt es in dem Memo. Und weiter: „Offensichtliche Kampagnen für Themen, die nicht im Programm stattgefunden haben, insbesondere Verschwörungstheorien und Hatespeech, können gelöscht werden.“

Privatsache Tweet?

„Für immer mehr Redakteurinnen und Redakteure im NDR gehört der Umgang mit Kommentaren und Debatten zu ihrer täglichen journalistischen Arbeit. Dabei sollen ihnen solche Guidelines helfen“, sagt Niels Rasmussen, Leiter des Online-Bereichs im NDR. Es steht zu hoffen, dass die Redaktionen durch derlei – zweifellos gut gemeinte – Richtlinien die leidigen Verbalattacken allmählich in den Griff bekommen. Immerhin ist das ein Anfang.

Um die Nutzer behutsam zu zivilisieren, aber zugleich nicht ihre Debattierfreudigkeit einzuschränken, muss das Übel bei der Wurzel gepackt werden. Einer der Gründe für die dissoziale Debattenkultur im Netz ist offenbar, dass öffentliche und private Sphäre der Absender von Kommentaren in den sozialen Foren nicht mehr eindeutig zu trennen sind: Jeder Kommentar eines Privatnutzers ist zugleich für alle anderen Nutzer öffentlich einsehbar. Aber auch jeder private Tweet eines Politikers bemüht sich meist auch um politisches Agenda Setting, jeder Facebook-Post eines Journalisten ist niemals nur Privatsache – oder etwa doch?

Gerade diese Grauzone, was öffentlich, was Privatsache ist, kann als eine der Hauptursachen für die Verrohung der Sitten im Netz gelten. Weil nur noch wenige Nutzer es überhaupt für notwendig halten, ein Blatt vor den Mund zu nehmen, sich also gar nicht erst bestimmten Benimmregeln unterwerfen, ist die Tonlage rauer und der Schlagabtausch härter geworden.

Insofern ist vielen Beobachtern klar, dass es für die Etablierung einer intakten Debattenkultur nicht ausreicht, darauf zu hoffen, dass irgendwann von allein Ruhe in den Kommentarspalten einkehrt. Den Draht zum Publikum von Redaktionsseite einfach zu kappen wäre jedoch ein zu radikaler, wenn auch nachvollziehbarer Schritt – hätte er nicht so fatale Auswirkungen: Schließlich ist der Zensurvorwurf unter Nutzern ein Dauerbrenner, die Unterbindung der freien Rede und vor allem der Gegenrede wird von vielen als Eingriff in die Meinungsfreiheit und damit als Angriff auf unseren demokratischen Wertekanon interpretiert, der mehr Hetze und Pöbelei hervorruft und letztlich der Diskussion um die Lügenpresse neuen Auftrieb gibt.

Publizistisches Rückgrat gefordert

Auf andere Nutzer wirkt es so, als knickten die Redaktionen vor den Trollen ein (womit sie nicht ganz falsch liegen) oder als bewiesen diese kein publizistisches Rückgrat, kein „breites Kreuz“ gegenüber dinjenigen, die einen engagierten Diskurs vorsätzlich unterwandern, wie es zuletzt auch den „Lübecker Nachrichten“ vorgeworfen wird. Gegenüber der Trollfraktion, so bemängeln diese Nutzer, würden sie eine Schwäche zeigen, die den gegenteiligen Effekt einer Debatte auf Augenhöhe habe: Statt den Störern mit Sachargumenten zu begegnen, zensierten sich die Redaktionen kurzerhand selbst.

Enttäuscht sind am Ende, wen wundert’s, beide Lager innerhalb der Community. Und die Redaktionen gewinnen nichts. Im Gegenteil riskieren sie, dass sich Leser und Zuschauer von ihrem angestammten Medienangebot dauerhaft abwenden.

Erwarten Journalisten zu viel von ihrem Publikum? Wahrscheinlich. Gibt es konstruktive, inspirierende, geistreiche Nutzerbeiträge im Netz? Natürlich. Aber vermutlich weniger, als Journalisten es sich wünschen. Aber was erhoffen sich die Redaktionen dann eigentlich von der Nutzerpartizipation? Steht der Dialog auf Augenhöhe im Vordergrund, der Journalisten zu bedingungslosen Leserverstehern macht und sie scheibchenweise ihrer Autonomie beraubt? Oder geht es darum, Nutzer davon zu überzeugen, für die exklusive Teilhabe zu bezahlen – Stichwort „Clubkultur“? Und bedeutet das im Umkehrschluss, dass Medienunternehmen diesen Dialog mit ihren Nutzern notfalls wieder abbrechen würden, wenn sie es satt haben, dass sich ihre Investitionen in Social-Media-Abteilungen nicht in harter Währung auszahlen?

Die gestörte Debattenkultur kann auch anders entstört werden: Abhilfe schaffen könnte eine Erziehung der Nutzer zur Selbsthygiene. Damit eine faire Debattenkultur entsteht, braucht es eine aktive Mitwirkung am zivilgesellschaftlichen Diskurs über den Wert der öffentlichen Meinung. Ansatz einer solchen digitalen Medienkompetenz wäre, die Verantwortung an das Publikum zu übertragen in dem Sinne, dass es seine neue Rolle konstruktiv annehmen und einen Entwicklungsbedarf vorrangig auch bei sich erkennen muss. Die Krux könnte somit die kommunikative Nähe sein: Sobald es Medienschaffenden gelingt, ihre Nutzer nicht von oben herab zu behandeln und – sei’s drum – sich vielleicht hin und wieder auf das Niveau und die Tonlage der Diskussionen herabzulassen, ohne respektlos zu werden, wird sich etwas ändern.

Eine beherzte Moderation, die in Debattenforen bei „Bild.de“ über „Spiegel Online“ bis „Zeit Online“ inzwischen üblicher wird, ist eine weitere nachhaltige Maßnahme: Trolle werden demotiviert und trollen sich, seriöse Diskutanten fühlen sich in ihrer Mitwirkung bestärkt. Ähnliches gilt für den kreativen Direktaustausch mit dem Nutzer schon bei der redaktionellen Ideen und Themenfindung wie bei „heute+“. Was ebenfalls zu funktionieren scheint, sind selbstironisierende Zugänge wie die der Facebook-Seite „Der Die Welt Praktikant“, die im mitunter zynischen Umgangston selbst den übelsten Kommentatoren auf die Schliche kommen.

Schließlich lässt die Einführung von Klarnamen auf einen Ausweg aus dem Dilemma hoffen. Das Magazin „Cicero“ hat die Regelung erfolgreich eingeführt und erlaubt prinzipiell keine anonymen Nutzerkommentare mehr auf der eigenen Homepage. Das hat viele Vorteile und schont nicht nur die Nerven der Kommentatoren. So kommen die Redaktionen erst gar nicht in die Verlegenheit, für Kommentare strafrechtlich belangt zu werden, die Nutzer posten.

Technische Tricks

Vielleicht ist das Bekenntnis zur eigenen Meinung aber noch nicht radikal genug gedacht: Ein dritter, zu entwickelnder Weg könnte die automatisierte Kanalisierung von Nutzerfeedback mittels technologischer Filtersysteme sein, sprich: eines Algorithmus, der per Sprachoder Syntaxerkennung die guten von den schlechten Kommentaren trennt, aussortiert und letzten Endes löscht. Dies wirft freilich ethische Fragen des Einflusses von Algorithmen auf unser Nachrichten-Ökosystem auf, die in der Redaktionspraxis jedoch längst gang und gäbe sind.

Clevere Entwickler der Datenjournalismus-Agentur Open Data City haben ein solches Tool mit dem lustigen Namen „Trolldrossel“ getestet, mit dem Störenfriede nicht nur identifiziert, sondern verbannt werden konnten: Michael Kreil und Linus Neumann forderten auf einem Blog Trolle zur Eingabe von Captchas – Sicherheitscodes zur Unterscheidung von Mensch und Maschine – auf und obwohl diese Eingaben womöglich korrekt waren, wurden die Trolle immer wieder zur erneuten Eingabe aufgefordert – bis sie frustriert aufgaben.

Eine weitere Versuchsanordnung dieser Trolldrossel war das „Hellbanning“: Den per Texterkennung als Trolle identifizierten Nutzern wurden ausschließlich Beiträge von anderen Trollen – der Kommentarhölle – angezeigt, so dass sie wegen ausbleibender Reaktionen vom Rest der Community irgendwann freiwillig das Weite suchten. Diese Form der intelligenten Ghettoisierung scheint eine
nicht ganz redliche, jedoch ungemein effektive Variante zu sein.

Nach allem, was Psychologen über das Verhalten von Trollen und Hatern herausgefunden haben, könnte auch ein System von Belohnung (seriöser) und Bestrafung (beleidigender Wortbeiträge) erfolgreich sein: Feldversuche zeigen, dass solche lernpsychologischen Stimulationen antisoziales Verhalten in Kommentarfeldern tatsächlich reduzieren helfen. Entzieht man Trollen gemäß der
Maxime „Don’t feed the trolls“ also ihre Bühnen der öffentlichen Denunziation, verlieren sie die Lust zu stänkern, wohingegen ein übermäßig raues Kommunikationsklima in den Foren deren unliebsame Aktivitäten noch verschärft.

Anstrengende Debattenkultur

Egal, um welche Kompromisse es in Zukunft gehen wird: Fast alle Verantwortlichen beteuern derzeit, dass sie die Kommentarmöglichkeit für ihre Nutzer nicht abschaffen wollten und dass es ihnen in erster Linie um bessere Steuerungsmöglichkeiten gehe. Das eigentliche Problem ist, dass niemand so genau weiß, was die Mehrheit der Nutzer eigentlich möchte, weil sich auch bei einschlägigen Umfragen in der Regel nur eine Minderheit zu Wort meldet. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass viele Nutzer einfach in Ruhe gelassen werden und schon gar nicht von einem Mitspracherecht, das ihnen Journalisten einbläuen, Gebrauch machen wollen.

Dass Partizipation in diesem scheinbar libertären Kommunikationsraum automatisch zur digitalen Mündigkeit führt, ist ein fataler Trugschluss: Die technologische Evolution macht den öffentlichen Diskurs im Hinblick auf Klassengegensätze, Geschlecht und Herkunft weder grundsätzlich herrschaftsfreier noch ökonomisch unabhängiger. Die digitale Öffentlichkeit ist, im Gegenteil, aus den an Profitmaximierung orientierten Digitalkonzernen hervorgegangen, die zum Beispiel eine Intervention politischer Interessengruppen erst hoffähig gemacht haben und somit die journalistische Unabhängigkeit unterminieren. Die Digitalkultur läuft insgesamt auf eine Monokultur zu, die sich nicht nur kommerzieller und publizistisch einfältiger zeigt, sondern in der auch das Abschalten des Dialogs mit den Nutzern als Ultima Ratio erscheint.

Die verfehlte Flüchtlingsdebatte symbolisiert letztlich eine Kommunikationskrise, die Störer und Trolle ständig befeuern – eine Art Phantomschmerz, der der gescheiterten Vision eines egalitären Diskurses geschuldet ist. Wenn wir jedoch unter dem Siegel der Digitalisierung zu einer partizipativen Selbstbestimmung finden wollen, muss unsere Zivilgesellschaft schon im eigenen Interesse einen gelebten demokratischen Austausch fördern. Die Sensibilität, die Journalisten derzeit gegenüber Hetzern abverlangt wird, aber auch der Krieg „Jeder gegen Jeden“ ist symptomatisch für eine anstrengende Debattenkultur. Sie wird zum politischen Problem, wenn es niemandem gelingt zu vermitteln, dass Politiker und Journalisten, aber auch die Bürger eine Mitverantwortung tragen, wenn sie diese Partizipationsmöglichkeiten nutzen.

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