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Mut und Harakiri

Journalisten arbeiten zu viel und meistens nicht gut genug. Das Internet macht alles nur noch schlimmer. Und damit steht es schlecht um deutsche Regionalzeitungen.

Als ich anfing, mit 19, schrieb ich für eine kleine Lokalzeitung in einer mittelgroßen Stadt. Ich war Lokalreporter und bekam 20 Pfennig pro Zeile, was auch für damalige Verhältnisse wenig war, und rockte am Tag manchmal sechs oder sieben Termine herunter. Zum Nachdenken hatte ich, ehrlich gesagt, keine Zeit. Am Monatsende hatte ich 800 oder auch mal 1.200 Mark verdient.

Ich konnte es mir nicht leisten, groß zu recherchieren, ich ging zu Terminen, ließ mir von den Veranstaltern etwas erzählen und gab das dann wieder. Wichtig war eigentlich nur, dass die Namen richtig geschrieben waren und dass kein Anzeigenkunde oder gar Freund des Chefredakteurs sich beschwerte.

Es ist nicht um jede Zeitung schade

Später schrieb ich für eine große Regionalzeitung. Das war schon besser. Manchmal konnte ich mir den Luxus leisten, an einem Tag nur einen einzigen Text zu schreiben. Ich durfte – manchmal – so lange an einem Artikel herumtüfteln, bis er mir gefiel. Parallel dazu redigierte ich eine Seite, und zwar täglich. Wenn ich Urlaub machte, musste ich meine Seite vorher gut vorbereiten, damit ein Kollege aus einem anderen Ressort, der von meiner Seite nur eine schwache Ahnung hatte, halbwegs zurechtkam. Als ich, relativ spät im Leben, für Blätter wie „Geo“ oder die „Zeit“ zu arbeiten begann, lernte ich eine völlig andere Art von Journalismus kennen. „Geo“ schickte mich wochenlang auf Reisen, ich wohnte in Mittelklassehotels, nicht mehr im billigsten Haus am Platz, und wenn ich das Gefühl hatte, dass ich zwei oder drei zusätzliche Tage für meine Recherche brauchte, dann war das kein Problem.

Die Kollegen saßen manchmal wochenlang an einem einzigen Artikel – okay, einige von ihnen waren einfach nur lahme Enten, aber bei den meisten spürte man, was gute Arbeitsbedingungen ausmachen, auch bei dem Produkt „Text“.

Ich erzähle das, um klarzumachen, dass „Journalismus“ ein ebenso schwammiger Begriff ist wie „Literatur“. Literatur kann klischeehaft und billig sein, Literatur kann so sein, dass sie einigen Lesern nie wieder aus dem Kopf geht. Beim Journalismus ist es ähnlich. Wenn jetzt über die Zukunft des Printjournalismus diskutiert wird, der vom Internet bedroht wird, weil ganze Anzeigenmärkte für immer verschwinden und weil im Netz fast alles kostenlos zu haben ist, dann denke ich, dass es nicht um jede Zeitung schade ist.

Ich sage das mit einem schlechten Gefühl im Bauch, weil ich einige Kollegen vor mir sehe, die ich damals kannte, die ihren Beruf liebten, die aus den miesen Bedingungen Tag für Tag das Beste herausholten, die unter besseren Bedingungen sehr gut gewesen wären und von denen einige ziemlich jung an ihrem Knochenjob gestorben sind, wie Bergleute oder Chemiearbeiter. Verrate ich sie?

Zwei potentielle Zensurinstanzen

Es gibt das Phänomen der deutschen Regionalzeitung, die in ihrem Verbreitungsgebiet ein Monopol hatte und jahrzehntelang gut verdiente, dabei Honorare zahlte, die gerade mal zum Überleben reichten, und die jedem Konflikt mit den Mächtigen aus dem Weg ging (ich sage nicht, dass alle Regionalzeitungen so sind).

Überall im deutschen Journalismus, wahrscheinlich auch im Fernsehen, gibt es zwei potentielle Zensurinstanzen. Die erste Instanz sind die Werbekunden, ohne die es keine Zeitungen geben kann, und mit denen man sich, verständlicherweise, nicht gerne anlegt. Die zweite Instanz sind die Chefredakteure und Verleger, die alle Freunde haben, in dem einen oder anderen Honoratiorenkreis verkehren und, verständlicherweise, ihre Ruhe haben möchten (die einen mehr, die anderen weniger).

Zeitungen haben eine gesellschaftliche Funktion, sie müssen eine Plattform auch für unangenehme Meinungen und für unangenehme Nachrichten sein, gleichzeitig sind sie gewinnorientierte Unternehmen. Das ist der unauflösbare, unvermeidliche Widerspruch, in dem sie sich bewegen und täglich Kompromisse suchen. „Unvermeidlich“ ist dieser Widerspruch, weil eine private Presse, trotz allem, immer freier sein wird als eine staatlich gelenkte.

Deswegen hat guter Journalismus etwas mit Mut zu tun, manchmal sogar mit Harakiri. Wer frei seine Meinung sagt oder wer eine brisante Story recherchiert, tritt immer jemandem auf die Füße oder macht sich irgendwo unbeliebt. Das Internet sorgt nun dafür, dass Meinungen und Meldungen schwerer unterdrückt werden können als früher, es gibt kein Monopol auf öffentliche Äußerung mehr.

In einigen Gegenden machen inzwischen lokale Webseiten den lokalen Monopolzeitungen das Leben schwer, das ist, was die Informationsfreiheit und den Pluralismus der Meinungen betrifft, sehr gut. Die Webjournalisten sind zum Teil sogar ihre eigenen Herren, sie brauchen dann weniger Mut, haben dafür allerdings auch noch weniger Geld. Die meisten Verleger reagieren auf sinkende Einnahmen, indem sie versuchen, die Kosten zu senken. Ich polemisiere gar nicht dagegen, ich beschreibe nur. Ich behaupte auch nicht, dass ich eine Alternative wüsste. Ich verstehe nicht viel von Ökonomie. Man kann Redaktionen ausdünnen, man kann Honoraretats senken, man kann Ressorts verschiedener Zeitungen zusammenlegen, man kann die Zeitungen dünner machen, und all dies wird getan.

Starker Konkurrenzdruck

Im Ergebnis werden die Zeitungen natürlich schlechter, nicht sofort, nicht durch jede Einzelmaßnahme, aber nach und nach eben doch. Besonders deutlich spürt man dies als Leser derjenigen Zeitungen, die schon vor der großen Internetkrise nicht besonders gut waren. Ich verstehe, wie gesagt, nicht viel von Ökonomie, aber ein Produkt, das unter starkem Konkurrenzdruck steht und dabei auch noch an Qualität verliert, befindet sich auf dem Markt wohl in einer fast ausweglosen Lage, in einer Abwärtsspirale.

Ich glaube zu wissen, wie die Zukunft der Printmedien aussieht. Vieles wird verschwinden. Überleben werden diejenigen, die auch in anderen Branchen überlebt haben, in denen es Modernisierungskrisen und Konzentrationsprozesse gab – die ganz Billigen und die ganz Luxuriösen. Der mittelprächtige Tante-Emma- Laden macht zu, Aldi und Lidl und die edle Feinkost-Etage im „KaDeWe“ bleiben. Das anspruchslose Nachrichtenblatt für ein paar Cent bleibt, aber auch ein paar sehr gute überregionale Zeitungen und Magazine.

Für das, was dazwischen liegt, wird es schwierig. Aufwendige Reportagen, komplizierte Recherchen, exklusive Texte unverwechselbarer Autoren, all das kostet viel Geld und ist deshalb im Internet eher selten zu finden, es gibt aber einen Markt dafür. Dass es „Geo“ und der „Zeit“ offenbar relativ gut geht, bestätigt meine These, dass Aufwand und Imagepflege sich auszahlen.

Ob die Leute jemals bereit sein werden, für Texte im Internet nennenswerte Beträge zu bezahlen, weiß der Himmel. Ich selber bezweifle es, aber von Prophetie verstehe ich noch weniger als von Ökonomie. Was sich jetzt schon abzeichnet:

Das Internet verwandelt mittelmäßig oder schlecht bezahlte Journalistenjobs bei Zeitungen in schlecht oder sehr schlecht bezahlte Journalistenjobs bei Internetportalen. Das Internet wird außerdem mehr und mehr zu dem Ort, an dem die Debatten stattfinden, es entmachtet tendenziell die Meinungsseiten und die Feuilletons. Sie wirken langweilig, langsam und ferngesteuert, verglichen mit der zauberhaften Anarchie und Vielfalt des Netzes. Man muss auf die Wochenzeitung „Freitag“ achten, den ersten deutschen Versuch, nicht Printjournalismus im Internet zu verkaufen, sondern umgekehrt etwas von der Kreativität des Internets in den Printjournalismus zu übertragen.

Ambivalentes Verhältnis zum Netz

Trotzdem habe ich ein ambivalentes Verhältnis zum Netz, ich liebe es und ich fürchte es. Als ich anfing, musste ich, um zu leben, unaufhörlich Text produzieren. Später ließ meine Produktivität nach, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass die Qualität der Texte dadurch stieg. Heute stelle ich fest, dass wir alle viel mehr Leserpost beantworten als früher, dank des Internets, und dass unsere Texte im Netz diskutiert werden.

Ich finde das gut, allerdings beteilige ich selbst mich nur ungern an diesen Diskussionen. Warum? Wir sollen ja auch fast alle einen oder zwei Blogs schreiben, und zu immer mehr Geschichten gibt es ein kleines „Making of“, eine Geschichte darüber, wie man die Geschichte geschrieben hat. Es wird immer mehr. Gleichzeitig glaube ich zu wissen, dass ein Autor seine Produktivität nicht unendlich steigern kann, man kann nicht einfach, wie in der Fabrik, das Fließband schneller stellen.

Ich bin sicher jemand, der relativ viel schreibt, trotzdem habe ich allmählich Angst. Journalisten, die unaufhörlich schreiben und plappern und bloggen und den ganzen Tag Sätze aus sich herausströmen lassen, können nicht gut sein, außer, sie sind zufällig Genies. Wir schreiben zu viel, wir haben zu wenig Zeit zum Nachdenken, und das hängt bei vielen mit den sinkenden Honoraren und mit dem Internet zusammen, das wir bedienen müssen, ohne davon leben zu können. Deshalb sollte ich jetzt vielleicht einfach die Klappe halten.


Ursprünglich ist dieses Essay als Teil der „SZ“-Reihe „Wozu noch Journalismus“ erschienen, die auch als Buch erhältlich ist. VOCER veröffentlicht ausgewählte Beiträge in teils leicht aktualisierter Form.

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