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Lex Grosso und das Gleichgewicht des Schreckens

Bundestag und Bundesrat haben eine Novellierung des deutschen Wettbewerbsrechts verabschiedet. Damit soll das Presse-Vertriebssystem in der beschriebenen Form zementiert werden. 

Wir befinden uns im Jahr 2013. In ganz Deutschland herrscht ein zwar sozial reguliertes aber konsequent wettbewerbsorientiertes Wirtschaftssystem. Ganz Deutschland? Nein! Ein Wirtschaftsbereich ist aufgrund seiner gesellschaftlichen Bedeutung regional monopolistisch strukturiert. Er praktiziert die vertikale Preisbindung und unterstellt die Verfügungsgewalt über die Regale selbstständiger Einzelhändler den Produkt-Herstellern. Diese bedienen sich zur Durchsetzung ihrer Vorstellungen bei Zwischenhändlern, die in ein striktes Regelwerk eingebunden sind. Nein, die Rede ist nicht von der weit liberaler strukturierten Pharmazie- und Apothekenbranche. Die Rede ist von Zeitungen und Zeitschriften!

Nun haben Bundestag und Bundesrat in einem ungewöhnlichen Allparteien-Konsens und in nahezu vollständiger Abwesenheit kritischer Kommentare eine Novellierung des deutschen Wettbewerbsrechts (die so genannte ‚8. GWB-Novelle‘) verabschiedet. Mit der Veröffentlichung im Bundesgesetzblatt am 29. Juni ist diese nun in Kraft getreten. Und mit dieser Gesetzes-Novelle soll das Presse-Vertriebssystem in der beschriebenen Form zementiert werden.

Denn der Hamburger Bauer Verlag hatte zuvor die Branche mit einer Klage erschüttert. Das Unternehmen wollte den Pressevertrieb an einer entscheidenden Stelle liberaler gehandhabt sehen – natürlich nicht aufgrund wirtschaftspolitischer Grundsatzüberlegungen. Vielmehr ist der Verlag zu der Überzeugung gelangt, dass er in bilateralen Konditionenvereinbarungen mit einzelnen Großhandelsunternehmen für sich verbesserte Vertriebsbedingungen erreichen könnte. Also klagte er gegen die bisherige Praxis, die darin besteht, dass die (Verleger- und Großhandels-)Verbände für ihre Mitglieder zentral die Vertriebskonditionen verhandeln.

Alles Appellieren half nicht. Bauer zog vor Gericht, siegte in erster Instanz und hätte vermutlich auch demnächst vor dem OLG Düsseldorf obsiegt. Nun, nachdem die Politik kurzerhand die gesetzliche Grundlage des Urteils im Sinne fast aller Marktteilnehmer und nur gegen den Widerstand Bauers und hörbares Murren des Einzelhandelsverbandes überarbeitet hat, dürfte das nächste Urteil gegen Bauer gesprochen werden.

Es war der klare Wille des Gesetzgebers, dass das deutsche Pressevertriebssystem in seinen einführend beschriebenen Absonderlichkeiten bestehen bleibt. Um zu verstehen, warum dieses fragile und fragwürdige Konstrukt unter massivem publizistischen Dauerfeuer aller beteiligten Verbände – und hier hat sich nach der Debatte um das Leistungsschutzrecht ein weiteres Mal die gewaltige Lobby-Power der deutschen Verlage gezeigt – nun trotz seiner unübersehbaren Mängel in Gesetzesrang erhoben wurde, müssen wir etwas ausholen.

Marktwirtschaft wird ausgesetzt

Die Preise von Zeitungen und Zeitschriften werden in Deutschland vom jeweiligen Verlag festgelegt (wie im Buchhandel). Der Verlag bestimmt auch die Menge seiner Produkte, die in den ca. 70 Großhandelsregionen in den Presseregalen liegen sollen (ganz anders als im Buchhandel). In jeder Region gibt es genau einen Presse-Großhändler, der sämtliche Kioske, Supermärkte, Tankstellen, Bäckereien und alle übrigen Presse-Verkaufsstellen beliefert. (Nun gut, in Hamburg und Berlin gibt es zwei Großhändler, die sich aber keinen Wettbewerb machen, da jeder Verlag entscheiden muss, ob er lieber über den Grossisten A oder Grosso B ausliefen lässt. Und eine wichtigere Ausnahme: die großen Verkaufsstellen an Bahnhöfen und Flughäfen werden außerhalb des Großhändler-Systems direkt von den Verlagen beliefert.)

Die Presse-Großhändler wiederum verteilen die Verlagsprodukte auf die einzelnen Presse-Verkaufsstellen in ihrer Region. Das Verfahren dabei ist zentral- planwirtschaftlich: Die Verlage kalkulieren eine Menge. Die Großhändler verteilen diese. Der Verteilungsschlüssel ergibt sich durch die Anwendung komplexer mathematischer Algorithmen unter Hinzufügung von mit Macht oder Beziehungsmanagement durchgesetzten Partikularinteressen einzelner Verlage.

Der Einzelhändler hat nur sehr begrenzten Einfluss auf das Sortiment und die gelieferten Mengen. Dafür darf er nicht verkaufte Ware an den Großhändler retournieren. Dieser wiederum vernichtet sie entweder oder gibt sie an den Verlag zurück – in jedem Fall muss auch er sie nicht bezahlen. Die Leistungen der Großhändler und der Einzelhändler werden überwiegend mit prozentualen Anteilen am Verkaufserlös vergütet. Das bedeutet unter anderem, dass die Kosten, die durch zu viel gelieferte und retournierte Ware verursacht werden, von den Händlern zu tragen sind.

Wenig Überlebenschancen für Kleine

Zur Begründung für dieses antimarktwirtschaftliche System wird einer der höchsten Werte unserer Verfassung hochgehalten: die Meinungsfreiheit. Diese sei nur bei Erhalt einer möglichst vielfältigen Presselandschaft möglich. Kleinen oder neuen Presseprodukten werden in einem strikt wettbewerbsorientierten System nur wenige Überlebenschancen eingeräumt.

Statt mehrerer hundert verschiedener Zeitungen und Zeitschriften würden bei Rewe und Edeka in einem deregulierten System vielleicht nur 100 Titel angeboten werden. Aldi, Penny & Co. kämen mit „Bild“, „Bild am Sonntag“, „TV 14“, „Bild der Frau“, „Freizeit Revue“ und ein paar Hände voll weiterer Titel auf fantastische Flächenproduktivitäten. Touristen auf den Nordseeinseln sollten dann ihre Tageszeitungen lieber selber mitbringen – ein täglicher Transport frischen Druckware ist durch die Verkaufserfolge vor Ort nicht zu rechtfertigen. Und wenn Springer oder der Bauer Verlag die Handelskonditionen für ihre sehr verkaufsstarken Objekte eigenhändig verabreden dürften, dann müssten sich die Händler an kleineren Verlagen schadlos halten. Die Folge: die Großverlage würden mehr Geld verdienen und die kleinen Verlage könnten sich den Vertrieb über die Ladentheke gar nicht mehr leisten. So die Theorie, die nicht falsch ist.

Vielzahl ist nicht gleich Vielfalt

Allerdings muss die Frage erlaubt sein, ob die unter den aktuellen Umständen erzielte Pressevielfalt den massiven Eingriff in ansonsten eherne marktwirtschaftliche Prinzipien rechtfertigt. Zumal es bei Weitem nicht nur um Prinzipien geht. Das aktuelle Pressevertriebssystem in Deutschland ist an vielen Stellen ineffizient und unnötig teuer. Und die vielbeschworene Presse-Vielfalt besteht weniger aus einem breiten Spektrum politischer und auch nur im weiten Sinne gesellschaftlich wertvoller Zeitungen und Magazine. Die mehreren tausend Titel, die in Deutschland über den Pressehandel vertrieben werden, setzen sich zum größten Teil aus Special Interest-Zeitschriften auf der einen Seite und einer frustrierenden Zahl Me-too-Produkte auf der anderen Seite zusammen, die Konzepte erfolgreicher Vorreiter abkupfern.

Ein Beispiel: Ende 2006 begann der Siegeszug der Zeitschrift Landlust aus dem kleinen Landwirtschaftsverlag in Münster. Mittlerweile verkauft das Magazin alle zwei Monate über eine Million Exemplare. „Das können wir auch!“ haben sich andere Verlage gedacht und in rascher Folge eine unüberschaubare Anzahl Landlust-Klone auf den Markt geworfen, die einander wie ein Ei dem anderen gleichen: „Landfee“, „Landfrisch“, „Landidee“, „Landliebe“, „Landleben“, „Landspiegel“, „Liebes Land“… auf etwa 30 Titel kommt man hier leicht. Im Segment der Frauenzeitschriften sieht es ähnlich aus. Oder: „iPhone-Wel“t, „iPhone-Magazin“, „iPhone-Praxis“… Oder: „111Rätsel“, „140Rätsel“, „450Rätsel“, „Rätsel Welt“, „Rätsel Magazin“, „Rätsel Woche“… Ist das die Pressevielfalt für die sich Politiker gerne vor den Karren der Verleger und Großhändler spannen lassen? Vielzahl ist nicht gleich Vielfalt.

Das betriebswirtschaftliche Konzept hinter dieser Titelflut ist nicht selten eine Kombination aus extrem niedrigen Druckkosten, subventionierten Vertriebskosten und der Wahrscheinlichkeit, dass der Kunde im verwirrend bunten Regal jeden Titel mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit schon einmal heraus fischen wird. Und die Wahrscheinlichkeit steigt, je mehr Exemplare eines Titels im Regal stecken und so einen möglichst auffälligen Stapel bilden – ein klarer Anreiz viel zu viel Ware zu liefern. Fast jede zweite in Deutschland an den Handel ausgelieferte Zeitschrift wird nicht verkauft und retourniert. Im Durchschnitt. In bestimmten Segmenten liegt die Retourenquote bei 80 Prozent. Und manch ein Verlag kalkuliert auch mit 90 Prozent, wenn er dadurch nur die Chance auf wenige zusätzlich verkaufte Exemplare hat. Denn da gibt es ja noch das Anzeigengeschäft, dessen Umsätze sich maßgeblich anhand der Anzahl der verkauften Hefte bestimmen.

Die Zeche zahlen die Kunden und der Handel

Wer bezahlt am Ende die Zeche für dieses unter Blähsucht leidende System? Einerseits der Kunde. Da die Zeitschriftenpreise aber in vielen Fällen noch immer sehr niedrig sind, weil die Verlage einen großen Teil ihrer Erlöse mit dem Anzeigengeschäft erzielen, ist der Leidensdruck an dieser Stelle überschaubar. Hauptleidtragende sind vielmehr die Händler. Denn während Jahr für Jahr die Verkaufsmengen sinken, steigen Titelvielfalt (Platzbedarf!) und Retourenquoten. Die Kosten der Händler (Personal, Miete) verringern sich dagegen nicht mit den sinkenden Umsatzzahlen – entsprechend verschlechtern sich die Margen.

Hinzu kommt eine im internationalen Vergleich extrem hohe Zahl Presse-Verkaufsstellen. Auf Druck des Springer Verlages, der mit seiner auflagenstarken „Bild-Zeitung“ Interesse an einem maximal großen Verkaufsstellen-Netz hat, gibt es in Deutschland mit fast 120.000 Verkaufsstellen pro Einwohner knapp zweimal mehr Pressegeschäfte als in England und beinahe dreimal mehr als im in der Fläche deutlich größeren Frankreich. Und während seit Jahren die Verkaufszahlen der Zeitungen und Zeitschriften sinken, hält sich die Anzahl der Verkaufsstellen annähernd auf diesem Rekordniveau. Viele Verkaufsstellen bedeuten weniger Verkäufe pro Geschäft.

Die Pressefachhändler stöhnen seit Jahren über sinkende Renditen. Immer häufiger werden klassische Pressefachgeschäfte geschlossen. Presseführende Kioske ernähren ihre Besitzer gerade einmal auf dem Mindestniveau; viele Kioske existieren überhaupt nur noch, weil Kleinstunternehmer mit Migrationshintergrund bereit sind, sich und ihre Familie auf einem Umsatzniveau im Bereich des Existenzminimums selbst auszubeuten. Die hohe Anzahl der Presseverkaufsstellen hält sich, weil ehemalige Pressefachgeschäfte durch Bäckereien, Drogeriegeschäfte oder Discount-Märkte ersetzt werden. Dort beschränkt sich das Presseangebot auf das jeweils notwendige Minimum. Die „Bild“ ist natürlich immer dabei.

Überdimensioniertes Verkaufsstellennetz

Für den Pressegroßhändler bedeutet jede Presseverkaufsstelle einen vergleichbaren Aufwand. Egal, ob es sich um einen Supermarkt mit wöchentlichen Presse-Umsätzen im vierstelligen Bereich handelt oder um eine Kleinstverkaufsstelle mit 50 bis 100 Euro Wochenumsatz. Die Ware muss täglich kommissioniert und angeliefert werden, Remissionen sind abzuholen und Verkäufe abzurechnen. Auch die Pressegroßhändler leiden unter dem überdimensionierten Verkaufsstellennetz. Im Gegensatz zu den Einzelhändlern sind die Großhändler aber engagierte Verfechter des bestehenden Systems.

Augenscheinlich erzielen die 70 überwiegend mittelständischen Familienunternehmen immer noch hinreichende Renditen, um sich mit dem Status Quo zu arrangieren. Und: auch Springer möchte bei den Kosten des Pressehandels Geld sparen. Allerdings durch Rationalisierung bei den Großhändlern statt durch Abschmelzen der Zahl der Einzelhandelsgeschäfte. Schon einmal hat Springer damit gedroht, seinen Vertrieb unabhängig von den Grossisten zu organisieren. Und auch wenn sich der Hamburger Verlag damals vermutlich in seinen Möglichkeiten überschätzt hatte. Aus dieser Zeit resultiert ein Schreckgespenst, das die Grossisten noch heute zum Schulterschluss bringt.

Fast alle Verlage und Großhändler unterstützen also das System mit seinen oben skizzierten Schwächen. Hauptmotiv ist die völlig offene Frage, wie eine Alternative aussehen würde. Alle haben sich mit den bestehenden Umständen arrangiert, sich darin eingerichtet. Das heißt aber nicht, dass das Konstrukt die breite gesellschaftliche Unterstützung auch verdient, die ihm mit dem nun in Kraft getretenen Gesetz zukommt. Denn neben der schlichten Angst vor den unklaren Folgen einer Veränderung fußt die breite Unterstützung in der Branche auf einem fragilen ‚Gleichgewicht des Schreckens‘. Dem Springer Verlag werden (bei gelegentlichem Murren) 120.000 Verkaufsstellen zugestanden.

Im Gegenzug forcieren die Hamburger nur gemäßigt den bestehenden Trend zur Rationalisierung der Großhandelsunternehmen. Und sie dulden den branchenweiten Trend, das Handelssystem mit viel zu großen Liefermengen zu überfrachten. Diese Möglichkeit, weiterhin zu subventionierten Kosten neue Zeitschriften in den Markt zu drücken und regelmäßig viel zu hohe Auflagen in die Presseregale zu stellen, eint sowohl die verbleibenden Großverlage (mit Ausnahme Bauer) als auch viele mittelständische und Kleinstunternehmer. Die Nutznießer des Presse-Systems in seiner bestehenden Form bilden damit ein Macht-Oligopol, gegen das sich die fragmentierten Interessen der Kunden und vor allem der Einzelhändler nicht durchsetzen können. Mit dem Bauer Verlag stand dem System zeitweilig ein Gegner anderen Kalibers gegenüber. Die Schützenhilfe des Gesetzgebers hat aber auch diesen nun in seine Schranken verwiesen.

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