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„Journalisten können nicht mehr undurchschaubar sein“

Seit 2009 chattet die schwedische Zeitung „Norran“ täglich mit ihren Lesern. Redakteurin Jessica Dhyr erzählt, warum das Konzept ein Erfolg ist, auch wenn es häufig nur um das Mittagessen geht.

Sag mir, worüber wir schreiben sollen: Die Zeitung „Norran“ aus dem Nordosten Schwedens chattet seit 2009 mit ihren Lesern. Redakteurin Jessica Dhyr (38) erklärt im Interview, warum das Chat-Konzept ein Erfolg ist, obwohl es häufig nur um das Mittagessen geht.


Vor einigen Jahren war „Norran“ auf dem absteigenden Ast, dann kam Ihr Transparenzkonzept – was hat die Entscheidung beeinflusst?

Allen Zeitungen in Schweden geht es schlecht. Noch verdienen wir mit der Zeitung das meiste Geld, aber da wir nicht wissen, wie lange das gut geht, müssen wir Wege finden, in das Leben unserer Leser zu gelangen und online Geld zu verdienen. Bevor wir den Chat gestartet haben, sahen unsere Leser uns als geschlossenes Medienunternehmen, wir waren ihnen zu groß. Wir waren für sie diejenigen, die entscheiden, was sie lesen sollen. Das mag früher funktioniert haben, aber heute nicht mehr, denn die Leute wollen mitentscheiden können. Und da sie immerhin das Wichtigste für uns sind, haben wir beschlossen, dass wir sie fragen, was sie lesen möchten.

Wie genau funktioniert das Chat-Konzept, das Sie auf Ihrer Website sehr prominent – oben rechts auf der Startseite nämlich – betreiben?

Es ist ein Direktchat. Unsere Leser schreiben uns, und das erscheint direkt auf dem Bildschirm derjenigen, die gerade verantwortlich ist. Sechs Online-Redakteurinnen, mich eingeschlossen, wechseln sich bei der Betreuung des Chats ab.

Jessica Dhyr, Redakteurin bei Norran

Jessica Dhyr, Redakteurin bei Norran

Der Chat ist auf Schwedisch, und Google Translate hat seine Grenzen. Worüber reden Sie so mit Ihren Lesern?

Sie können mit uns sprechen, über was immer sie wollen, solange sie sich an unsere Regeln halten: Warum habt ihr über dieses Thema was gemacht, aber über dieses nicht? Was ist gerade die große Geschichte in der Redaktion? Ich habe einen Polizeiwagen vor meinem Haus gesehen, wissen Sie, was da los ist? Oder auch einfach: Was haben Sie zu Mittag gegessen? Wie Freunde. Und natürlich geben Sie uns auch Hinweise, worüber wir schreiben sollen.

Schalten Sie sich auch mal mit aktuellen Geschichten ein und fragen die Leser um Ihre Meinung?

Ja, das machen wir im Chat und ebenso auf Facebook und Twitter. Früher haben wir Reaktionen in den Kommentaren unter Artikeln bekommen, doch seit wir den Chat machen, merken wir, dass die Leser lieber diesen Weg wählen.

Was meinen Sie, woran das liegt?

Sie sehen ein Gesicht, eine Person. Darum nutzen sie heute lieber den Chat als die Kommentare.

Hat die Interaktion durch dieses neue Format zugenommen?

Ja, definitiv. Wir, die wir auch den Chat betreuen, bekommen wesentlich mehr E-Mails von Lesern, in denen sie uns mitteilen, was sie lesen wollen. Wiederum tun sie das, weil sie mich kennen und mich kontaktieren wollen. Und die Leser sind auch generell freundlicher, weil sie wissen, mit wem sie sprechen. Dabei mögen die einen eher mich, andere eine andere Redakteurin. Wir geben uns sehr privat. Ich zum Beispiel werde immer gefragt, was ich zum Mittag hatte.

Wenn so viel Zeit für Smalltalk draufgeht, wie handhaben Sie und Ihre Kolleginnen das neben der sonstigen Arbeit?

Heute zum Beispiel ging es hoch her im Chat, und meine Kollegin kam zu mir und meinte: Ich komme nicht dazu, meine Arbeit zu machen, die quatschen pausenlos über alles. Sie muss aber immer ein Auge auf den Chat haben, damit die Leser sich auch an unsere Regeln halten. An anderen Tagen ist dafür wieder wenig los. Und wenn es wirklich stressig wird, schließen wir den Chat auch mal eine halbe Stunde, wenn es einen Autounfall gab und wir recherchieren müssen. Und das ist in Ordnung.

Wie viel von dem, was Sie mit Ihren Lesern auf diesem Weg bereden, hat wirklich einen Mehrwert für die Zeitung?

Bei der Mehrheit der Gespräche geht es tatsächlich um das Wetter, Mittagessen und solche Sachen. Pro Woche bekommen wir ungefähr fünf Tipps, die wirklich gut sind und aus denen dann ein Artikel wird. Die Zeit ist es also absolut wert, weil es gut für unsere Marke ist, uns zu öffnen und unseren Lesern zu zeigen, dass Journalisten normale Menschen sind. Ich glaube, so funktioniert Journalismus heute. Wir können nicht mehr so sein wie früher, allwissend und undurchschaubar. So können wir nicht arbeiten, die Leser kaufen uns das nicht mehr ab.

Gibt es in Schweden schon andere Medien, die sich an diesem Vorgehen orientieren?

Ich kenne ein anderes Beispiel, aber das ist kein gutes, weil der Chat nicht wirklich in Schwung kam. In Norwegen kenne ich eine Zeitung, die zum Beispiel vor der Einführung ihrer Paywall einige Wochen mit ihren Leser über diese Entscheidung gechattet haben, aber das wurde meines Wissens nach auch wieder eingestellt.

Wie haben Ihre Leser diese neue Transparenz aufgenommen?

Am Anfang haben sich unsere Leser ein bisschen gefürchtet, glaube ich, und wir uns auch. Wir haben immer versucht, ganz korrekt in unseren Antworten zu sein und nicht zu persönlich zu werden. Wir haben nicht die richtige Ansprache gefunden. Heute ist es viel besser. Es ist, als chatte man mit einem Freund.

Sie sind schon seit sechs Jahren bei „Norran“. Wie war das für Sie, als sich die Zeitung zu diesem Weg entschied?

Mir war klar, das ist etwas, das wir versuchen sollten, und mir gefiel die Idee von Anfang an. Ich finde es gut, die Leser teilhaben zu lassen. Ich möchte, dass sie auch verstehen, wie wir arbeiten und was es bedeutet, Journalistin zu sein. Und sie sollen die Chance bekommen, zu sagen, was sie lesen wollen.

Haben Sie sich dabei schon mal gefragt: Was mache ich hier eigentlich, ich bin Journalistin und unterhalte mich über mein Mittagessen?

Nein. Ich muss die Leser über das sprechen lassen, was sie beschäftigt, und sei es ihr Mittagessen. Parallel schreibe ich einen Artikel. Das ist es wert. Gerade wenn wir nicht wissen, wie lange unsere Zeitung noch überlebt, ist das sehr wichtig für die Marke.

Die anderen Redakteure, die neben ihnen den Chat betreuen, wurden erst später eingestellt. Ist es schwer, Journalisten für diese neuartige Aufgabenbeschreibung zu finden?

Die meisten Leute, die wir einstellen, sind jung und akzeptieren das. Sie kennen es nicht anders, und ich habe das Gefühl, sie mögen dieser Art von Arbeit und sind genau richtig dafür. Ihnen fällt es auch leichter, weil sie es gewohnt sind, sich mit ihren Freunden bei Facebook oder Skype zu unterhalten …

… während sie nebenbei ihre Arbeit machen.

Ja!

Geben Sie mir ein konkretes Beispiel, wo ein Hinweis aus dem Chat für Ihre Arbeit verwertbar war?

Kürzlich kam an einem Freitagnachmittag plötzlich ein Tipp, dass eine der Banken hier fünf Büros schließen wolle. Ich habe das sofort aus dem Chat entfernt, weil ich ja weiß, dass die anderen Medien mitlesen. Das war eine gute Geschichte, und wir waren die einzigen, die sie am Samstag in der Zeitung hatten.

So verhindern Sie also Trittbrettfahrer.

Ja, bei Sachen, die exklusiv sein könnten, löschen wir die Nachrichten aus dem Chat. Aber wir erklären immer, warum wir das tun, und nehmen dann per E-Mail Kontakt auf. Unsere Leser verstehen das. Wenn ich bei einem anderen Medium sitzen würde, ich würde unseren Chat auch verfolgen, also muss ich schnell sein.

Sehen Sie andere Nachteile des offenen Journalismus, etwa die Gefahr von Fehlinformationen?

Das könnte passieren, aber wenn unsere Leser uns etwas erzählen, müssen wir das ja trotzdem überprüfen, genau wie wir es früher gemacht hätten, wenn sie uns eine Mail geschickt oder angerufen haben. Manchmal hat man das Gefühl, es nimmt schon sehr viel Arbeitszeit ein, aber vielleicht muss es das. Dafür klingelt das Telefon nicht mehr so häufig wie früher, die Leser chatten einfach richtig gerne.

Was sollten sich andere Journalisten von „Norran“ abgucken?

Wenn eine Zeitung einen Chat starten will, ist es wichtig, dass sie genau darauf achten, welche Redakteure sie das machen lassen. Es dreht sich viel um Persönlichkeit. Man muss das auch mögen, denn tut man das nicht, werden die Leser es auch nicht mögen.


Das Interview ist in einer gekürzten Fassung im „journalist“ (Ausgabe 11/2012) erschienen.

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