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Es geht uns erstaunlich gut

Die Internetbeschimpfung gilt in der Medienbranche als trotzige Mutprobe. Doch wir müssen uns vom Festungsjournalismus verabschieden.

Die Frage „Wozu noch Journalismus?“ ist irritierend selbstmitleidig, um nicht zu sagen manipulativ. Sie unterstellt, dass mit dem Niedergang einiger Medienhäuser auch schon das Ende des Journalismus drohe.

Dem Journalismus geht es erstaunlich gut. Ja, die wirtschaftliche Zukunft vieler Zeitungshäuser ist ungewiss. Ja, auch die meisten online-journalistischen Angebote arbeiten noch nicht einmal kostendeckend und niemand kann mit Sicherheit sagen, welches journalistische Geschäftsmodell in Zukunft tragfähig sein wird. Dennoch erlebt der Journalismus gerade seinen größten Entwicklungssprung seit Erfindung des Rundfunks.

Man muss kein Idealist sein, um dem Journalismus ein goldenes Zeitalter vorauszusagen. Nie zuvor konnten Leser auf eine solche Vielzahl nationaler und internationaler Quellen zurückgreifen, um sich ihr eigenes Bild von der Welt zu machen. Nie zuvor wurden Redaktionen in so hoher Geschwindigkeit und Anzahl von ihren Lesern auf neue Aspekte oder auf Fehler hingewiesen. Nie zuvor konnten sich so viele Menschen selbst journalistisch betätigen.

Journalismus ist keine exklusive Profession mehr. Journalismus ist zu einer Aktivität geworden, die nur noch von einer Minderheit professionell ausgeübt wird. Ob ein Journalist professionell ist, bemisst sich nicht mehr daran, ob er mit seiner Arbeit Geld verdient, sondern allein daran, ob er professionelle Standards einhält, etwa in der Sorgfalt und Fairness seiner Recherche und der Qualität seiner Sprache.

Darin liegt für viele Redakteure – junge, wie alte – eine Kränkung. Aber stellen Sie sich vor, Sie würden gerne Musik machen, jedoch in einer fiktiven Welt leben, in der Musikinstrumente so unbezahlbar teuer sind, dass Sie nur als Mitglied eines Berufsorchesters die Chance hätten, jemals Geige oder Trompete zu lernen. So ähnlich sah die Welt des Journalismus vor nur etwa fünfzehn Jahren aus. Journalist war in der Regel nur, wer das Privileg hatte, für einen Sender, ein Printmedium oder eine Nachrichtenagentur zu arbeiten.

Internetbeschimpfung als Mutprobe

Dieses Monopol der alten Medien-Institutionen auf journalistische Produktionsmittel und Vertriebswege wird nicht mehr wiederkehren. Während wir aber selten einen Profimusiker dabei ertappen werden, dass er die Mehrheit der Laienmusiker öffentlich verunglimpft und ihre Verdienste für die Musik abstreitet, begehen verunsicherte Journalisten und Medienmanager alter Schule diesen Fehler heute regelmäßig. Die öffentliche Beschimpfung des Internet wurde zur trotzigen Mutprobe einer ganzen Branche.

Selbstverständlich werden die Menschen auch in Zukunft noch auf vertrauenswürdige, professionelle Websites, Printmedien oder Sender zurückgreifen. Auch in Zukunft wird es noch hauptberufliche Journalistinnen und Journalisten geben. Es werden aber weniger sein als heute und um sich in einer vom Internet dominierten Medienlandschaft behaupten zu können, werden Redakteure ein neues Selbstverständnis und zusätzliches Handwerkszeug benötigen.

Viele Jahre lang wurde beispielsweise in Redaktionen in aller Welt darüber gestritten, ob Print- und Online-Redakteure auch in der Lage sein sollten, Fotos und Videos von ihren Recherchen mitzubringen. Journalistenverbände warnten – wie bei jeder Einführung neuer Technologien – vor der eierlegenden Wollmilchsau. Seit es aber leicht bedienbare und preiswerte HD-Videokameras in der Größe eines Diktiergerätes gibt, hat sich der Streit gelegt. Auch in vielen deutschen Redaktionen gibt es heute Reporter und Korrespondenten, die ihren Artikeln selbstverständlich ergänzende Videoclips beifügen.

Qualifikation durch Social Media

Die nächste, in einigen britischen Redaktionen sogar erzwungene Zusatzqualifikation ist der Umgang mit Social-Media-Plattformen wie Twitter und Facebook. Alan Rusbridger, Chefredakteur des britischen „Guardian“, sagte mal, die Einrichtung einer persönlichen Facebookseite und eines Twitter-Accounts sei für alle seine Redakteure obligatorisch. „Höchstwahrscheinlich werden wir damit eines Tages mal ein Desaster erleben“, glaubt Rusbridger. „Irgendeiner unserer Redakteure wird dort etwas schreiben, was er nicht hätte schreiben sollen. Und trotzdem glaube ich, dass Twitter vor allem für spezialisierte Redakteure sehr befreiend sein kann. Twitter erlaubt ihnen, auch Themen, die keinen ganzen Artikel rechtfertigen, anzureißen und sie können ihrer Leserschaft dort auch relevante Texte der Konkurrenz empfehlen.“

Es ist dieser Mut zum Experiment und diese Bereitschaft zum Scheitern, mit der sich der „Guardian“ das Vertrauen von inzwischen knapp 37 Millionen Nutzern auf der ganzen Welt (Unique Users pro Monat) erarbeitet hat (Stand 2010). Auch der Konkurrent „Daily Telegraph“  oder der Fernsehsender CNN treiben die Nutzung von Social Media mit Eile voran.

Rein technisch ist der Umgang mit Social Media für Journalisten schnell erlernbar. Jedes durchschnittliche Redaktionssystem ist komplizierter. Das Internet lässt aber die Grenzen zwischen kommerzieller und nicht-kommerzieller Sphäre, zwischen beruflicher und privater Identität und vor allem zwischen Amateur und Profi verschwimmen. Viele Journalisten fühlen sich dadurch in ihrer beruflichen Identität in Frage gestellt und reagieren aggressiv. Die unsinnige Diskussion etwa, ob Twitter denn überhaupt eine vertrauenswürdige journalistische Quelle sei, ist nur das jüngste Beispiel für Abwehrgefechte, die ohnehin nicht zu gewinnen sind, unsere Branche aber wertvolle Kraft und Zeit kosten.

Selbstverständlich ist Twitter in seiner Gesamtheit keine journalistische Quelle. Es wäre ähnlich absurd, darüber zu diskutieren, ob Telefone eine vertrauenswürdige Quelle sind. Sie sind es nicht. Einzelne, verifizierte Anrufer aber sind es und dasselbe gilt für verifizierbare, individuelle Twitter-Accounts.

Journalisten müssen berührbar sein

Journalisten, die bereit sind, sich in Social Networks, auf Twitter und vor allem in den Kommentar-Feldern unter ihren eigenen Texten zu äußern und den Stimmen dort zuzuhören, können viel gewinnen. Ja, sie müssen auch einstecken können. Selbst auf sorgfältig moderierten Websites ist es nie ganz auszuschließen, dass Redakteure beleidigt werden. Doch je offener sie sich zeigen, desto freundlicher und konstruktiver wird ihnen in der Regel begegnet. Und in einer mit genügend Moderatoren ausgestatteten Community bleiben Pöbler eine Randerscheinung.

In meiner eigenen Redaktion, „Zeit Online“, würden wir auf die Kommentare, die Hinweise und die oft auch unbequeme Kritik unserer Leser auf keinen Fall mehr verzichten wollen. Unsere Leser helfen uns täglich, kleinere – manchmal auch größere – technische oder redaktionelle Fehler rasch zu beheben. Sie weisen uns auf Themen hin, die wir eventuell nicht genug beachtet haben, sie schreiben eigene Texte, sie ergänzen unsere Artikel mit weiterführenden Links oder mit Argumenten, die unseren widersprechen. Und ja, sie loben uns auch hin und wieder. Unsere Leser helfen uns täglich besser zu werden.Sukzessive kommen wir zu einer Arbeitsweise, in der unsere Artikel nicht mehr der Endpunkt des journalistischen Prozesses sind, sondern dauernder Zwischenstand. Aus den Kommentaren unserer Leser unter dem Artikel, auf Facebook oder bei Twitter entsteht oft die Idee zum nächsten Text; gelegentlich auch die unbequeme, aber wichtige Einsicht, einen Gedanken nicht zu Ende gedacht zu haben. Voraussetzung dafür ist, dass wir bereit und personell in der Lage sind, zuzuhören und mit unseren Lesern zu reden.

Leider gibt es bisher nur wenige Journalistenschulen, die den Redakteursnachwuchs auf diesen Dialog vorbereiten. Stephan Weichert und Leif Kramp, die beiden Initiatioren dieser Serie, liegen deshalb nicht ganz daneben, wenn sie uns Journalisten als die „Neandertaler der digitalen Ära“ bezeichnen. Es ist schon ein erstaunliches Paradoxon, dass viele von uns die Fähigkeit zur Analyse und zur Kommunikation für Kernkompetenzen ihrer Profession halten, gleichzeitig aber bei der Analyse ihrer eigenen Zukunftsfähigkeit und bei der direkten Kommunikation mit ihren Lesern so große Defizite zeigen.

Abschied vom Festungsjournalismus

Um sich in der zunehmend vom Online-Journalimus dominierten Medienwelt bewegen und stellenweise sogar wieder unentbehrlich machen zu können, braucht unser Berufstand deshalb nicht nur zusätzliche Fertigkeiten, sondern vor allem ein neues Rollenbild, ein neues Mind-Set. Der britische Journalist Peter Horrocks fordert dazu die Abkehr vom Festungs-Journalismus hin zum Netzwerk-Journalismus. Horrocks ist kein praxisferner Professor, er ist Chef des BBC World Service. „Die meisten Journalisten haben in stolzen Institutionen mit dicken Mauern gelebt und gearbeitet“, schreibt er. „Ihre tägliche, ritterliche Aufgabe war einfach: Sie bekämpften Journalisten aus anderen Festungen. Heute zerbröckeln diese Festungen und die ritterlichen Scharmützel der Journalisten können die Massen nicht mehr beeindrucken.“

Um die BBC, eine der seriösesten Medienmarken der Welt, zukunftsfähig zu machen, verpflichtete Horrocks seine Redakteure Anfang dieses Jahres, sich mit Social-Media-Plattformen zu beschäftigen und diese auch als Quellen zu nutzen. Redakteuren, die nicht mitziehen wollten, empfahl er öffentlich, sich einen anderen Job zu suchen. Auch der kommerzielle BBC-Konkurrent SkyNews forciert die Nutzung von Twitter als Quelle und hat sämtliche Arbeitsplätze in seinem Newsroom mit der Twittersoftware Tweetdeck ausgestattet.

Online-Kompetenz zu erwerben und ein zukunftsfähiges Berufsbild des Journalismus zu entwickeln, dient aber nicht nur dem Überleben etablierter Medienmarken. Wir sind es auch unseren Lesern schuldig. Das Internet entwickelt sich gerade zum Betriebssystem unserer Gesellschaft. Das Netz ist kein Nebenthema, es transformiert jeden Bereich unseres Lebens, positiv wie negativ. Die Zukunft unserer Bürgerrechte beispielsweise wird sich im Netz entscheiden. Wie aber sollen Journalisten den permanenten, digitalen Angriff auf Bürgerrechte und Privatsphäre verständlich darstellen, wenn ihnen die dafür nötigen Grundkenntnisse fehlen und sie das Netz nur durch die Brille ihrer alten Weltsicht betrachten können?

Vierte Gewalt ohne Netzkompetenz

Journalisten preisen ihren Berufstand gerne als die vierte Gewalt und als Wächter der Demokratie. Sollte der Journalismus diese Aufgabe tatsächlich haben, ist es geradezu eine Pflichtverletzung, wenn Journalisten sich nicht darum bemühen, das Netz zu verstehen.

Doch wie können mehr Journalisten als bisher den Mut finden, sich auf das Netz und seine neue journalistische Kultur einzulassen, wenn schon der Deutsche Journalistenverband und vor allem die Verlegerverbände durch krude Äußerungen über das Internet auffallen? Das Verhalten dieser Verbände erinnert an einen Bären, der von einer Wespe attackiert wird. Weil er die Wespe nicht sehen kann, drischt er wahllos auf Felsen und Bäume ein, mal auf Google, mal auf die öffentlich-rechtlichen Sender, mal auf das angeblich lückenhafte deutsche Urheberrecht, auf das Internet in seiner Gesamtheit oder auch nur auf den angeblichen „Geburtsfehler“ des Netzes, der darin bestehe, dass dort viele Inhalte kostenlos angeboten werden.

Es mag ein Fehler der Verlage in aller Welt gewesen sein, kostenlose Websites einzurichten. Deshalb aber das gesamte Internet zu verunglimpfen ist gelinde gesagt egozentrisch. Das Internet wurde nicht für uns erfunden. Wir sind darin nur ein Akteur von vielen.

Genaues Auge auf die USA

Es wäre konstruktiver, wenn die deutschen Verlage eine separate, nationale Organisation nach dem Vorbild der amerikanischen Online Publishers Association gründen würden. Zwar beschäftigen sich auch die Verbände VDZ und BDZV mit Online-Medien, ihre Entscheidungsstrukturen, ihr Führungspersonal und ihre Mentalität aber sind – völlig zu Recht – von den Interessen und Zukunftsfragen der Printmedien geprägt. Es könnte auch sinnvoll sein, wenn die Verlage nach dem Vorbild der amerikanischen Knight News Challenge einen gemeinsamen Innovationsfonds gründen würden.

Amerikanische Journalisten sind oft erstaunt darüber, wie genau deutsche Kollegen die amerikanische Branche beobachten und wie detailliert wir uns über alternative Finanzierungsmodelle für Journalismus in den USA informieren, sei es über den Stiftungsansatz von ProPublica oder über Crowd-Funding-Konzepte wie Spot.us oder Kachingle.com.

Was sie dann aber kaum fassen können, ist die üppige finanzielle Ausstattung unseres eigenen öffentlich-rechtlichen Systems. Dass die Deutschen bereit sind, ARD und ZDF jährlich 7,3 Milliarden Euro zu gewähren, löst in der Regel ratloses Staunen aus. „You should cooperate then“, war der Kommentar des Journalismus-Professors Jay Rosen, als er die Zahl 7,3 Milliarden hörte, „Ihr solltet zusammenarbeiten“.

Neuer Anfang mit den Öffentlich-Rechtlichen

Denn auch im Kampf gegen die Online-Angebote der öffentlich-rechtlichen Sender haben sich die Verlegerverbände verrannt. Die öffentlich-rechtlichen Online-Redaktionen beschäftigen zwar viele hervorragende Journalisten, das politische Korsett dieser Redaktionen ist aber so eng, dass sie keine wirkliche Konkurrenz darstellen. Gäbe es diese Websites nicht, hätten die Online-Angebote der Zeitungshäuser zwar einige Nutzer mehr, man muss aber schon komplett mutlos sein, wenn man behauptet, die öffentlich-rechtlichen Nachrichtensites stünden dem kommerziellen Erfolg der Zeitungs-Websites im Wege.

Der Skandal öffentlich-rechtlicher Nachrichtensites ist nicht ihre Existenz, sondern ihre unnötige und verwirrende Vielzahl. Es gibt keinen ersichtlichen Grund, weshalb die ARD ihre föderale Struktur im Netz noch einmal nachbauen muss und weshalb Deutschland eine solche unüberschaubare Vielfalt überregionaler, gebührenfinanzierter Nachrichtenportale braucht. Vielleicht wären die Verlage besser beraten, für eine Beschränkung der Öffentlich-Rechtlichen auf nur zwei, sehr leistungsfähige Nachrichtensites zu kämpfen – „Tagesschau.de“ und „Heute.de“ – und gleichzeitig Dienstleistungen der öffentlich-rechtlichen Sender für ihre eigenen Websites einzufordern.

Was spräche beispielsweise dagegen, dass öffentlich-rechtliche Sender sämtliche Inhalte, an denen sie die nötigen Rechte klären können, auch den Nachrichtensites der Printmedien kostenfrei zur Verfügung stellen? Weshalb kaufen die Websites der Printmedien vor großen Sportereignissen oder Wahlen teure interaktive Datenbank-Module ein, statt die entsprechenden Module der öffentlich-rechtlichen Websites nutzen zu dürfen, durchaus auch als White-Label-Produkt, also ohne das Logo des jeweiligen Senders zeigen zu müssen? Die Nutzer haben für diese Inhalte ohnehin schon einmal bezahlt.

Abschied von zweistelligen Renditen

Was hält die öffentlich-rechtlichen Websites davon ab, in sehr viel größerem Umfang als bisher auf thematisch passende Artikel der Zeitungs-Websites zu verlinken und damit etwas für deren Vermarktbarkeit zu tun? Und könnten die personell zum Teil üppig ausgestatten Online-Redaktionen der Öffentlich-Rechtlichen nicht auch eine Pionierrolle bei der Entwicklung des Datenjournalismus einnehmen und zum Beispiel helfen, Software-Schnittstellen zu den öffentlichen Datenbeständen von Ministerien, Bundestag und Statistikämtern auszuhandeln und zu programmieren?

Es mag gute Gründe geben, die gegen solche Kooperationen sprechen. Um eine ergebnisoffene Diskussion über zukünftige Erlösmodelle und Kooperationen aber überhaupt führen zu können, müssen alle Beteiligten zuerst einmal vollends im Netzzeitalter ankommen. Und sie müssen sich endlich verabschieden – von zweistelligen Renditen ebenso wie vom Anspruch auf exklusive journalistische Deutungshoheit.

Droht dem Journalismus deshalb das Ende? Natürlich nicht. Der Zweck des Journalismus wurzelt in der selben Sehnsucht, aus der heraus sich die Menschen schon vor Tausenden von Jahren um wärmende Lagerfeuer versammelt haben: Der Sehnsucht nach Geschichten, die uns informieren, die uns unterhalten oder uns sogar helfen, ein sinnvolles Leben zu führen und eine bessere Welt zu erschaffen. Diese Feuer haben lange vor uns gebrannt, sie werden noch lange nach uns brennen.


Ursprünglich ist dieses Essay als Teil der „SZ“-Reihe „Wozu noch Journalismus“ erschienen, die auch als Buch erhältlich ist. VOCER veröffentlicht ausgewählte Beiträge in teils leicht aktualisierter Form.

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