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Echtheit statt Echtzeit

In der Branche herrscht Endzeitstimmung. Dabei brauchen wir die Wahrheitsfanatiker und Tabubrecher mehr denn je.

Der Journalismus hat ein paar wichtigere Probleme als die Nackedeis auf Seite eins und Paparazzi-Fotos. Tut mir leid, liebe B-Prominenz, die ihr statt peinlicher Alltagsfotos lieber die geschönten Portraits eurer Haus- und Leib-Fotografen in den Blättern seht. Tut mir leid, liebe Bildungsbürger, der Journalismus hat andere Probleme als die Pflege des Etepetete- Vorurteils gegen die Boulevard, der inzwischen auch die sogenannte „seriöse“ Presse gekapert hat.

Und ihr, liebe Kolleginnen und Kollegen? Bekanntlich spricht man im Hause des Henkers nicht gerne vom Strick, aber in den Redaktionen redet man gern von der Endzeit der eigenen Profession. Es dreht sich so schön an der Garotte. Dabei hat der Journalismus eine blühende Zukunft, wenn er die Nähe zum Leser sucht, wenn er statt kühler Distanz Emotionen zeigt, wenn er seine gouvernantenhafte Vergangenheit abstreift und sich als Wahrheitsfanatiker neu entdeckt. Wozu also Journalismus? Weil er der beste Welterklärer ist, den ich kenne. Und weil das digitale Zeitalter ihm neue Gestaltungsräume eröffnet.

Das Radio wird Zeitung

Überkommene Privilegien sind hinweggefegt. Das Fernsehen hat den Alleinvertretungsanspruch auf das Bewegtbild verloren. Videos schmücken Zeitungsportale. Die Zeitung wird Radio, Print- Journalisten sprechen ihre Kommentare ins Netz. Das Radio wird Zeitung. Hörfunk- und Fernsehbeiträge sind im Internet nachzulesen.

Das erste Foto zwischen den unendlichen Textspalten einer gedruckten Zeitung war nur der Vorbote für die crossmediale Verbindung zwischen Bewegtbild, Text und Ton, die es dem Journalisten des 21. Jahrhundert ermöglicht, seine Botschaften weit anschaulicher und einprägsamer zu vermitteln als im Zeitalter der Druckerschwärze und der Fernseh-Kommode.

Wozu Journalismus? Weil Journalismus Standards setzen kann in der Netz-Anarchie. Die digitale Welt braucht Anker der Verlässlichkeit. Die kann der Journalismus mit solider Recherche, den Regeln von Check und Gegencheck, der Achtung vor Persönlichkeitsrechten samt Informantenschutz bieten. Mit seiner stoischen Unvoreingenommenheit und dem Grundsatz „Der Journalist spricht von einer höheren Warte als von den Zinnen der Partei“ – oder eines x-beliebigen Interessenverbandes – wird er im Blogger- Kosmos des unbekümmerten Plapperns zu einer Vertrauensinstanz. Journalisten sind nicht Betreiber einer digitalen Quasselbude. Sie bieten Materialien zur Meinungsbildung und laden ein zur Entscheidung. Journalisten zeigen mit namentlich gezeichneten Kommentaren Gesicht, während der schäbige kleine Anonymus sich feige hinter einer Burka versteckt.

Mit dieser Haltung überträgt der klassische Journalismus seine Glaubwürdigkeit ins Netz und verschafft sich Zugang zu Bevölkerungsgruppen, die er weder mit dem Stakkato der Nachrichtensendungen, noch mit dem „Seriositätsfetischismus“ (Harald Staun) ausufernder Analysen erreichen kann. Das knappe Argument, die pointierte Meinung wirke bei vielen Bürgern wie der leichte Schlag auf den Hinterkopf, der bekanntlich das Nachdenken anregt.

Das Abitur berechtigt zwar noch zur Aufnahme eines Bachelor- Studiums, aber es befähigt nicht jeden zur Lektüre der „Zeit“. Nahezu zwanzig Prozent der Deutschen sind printresistent und haben Schwierigkeiten, einen längeren Satz zu lesen, geschweige denn, ihn zu verstehen.

Wozu Journalismus? Weil er die restlichen achtzig Prozent als Mitdenker und Weltbeweger gewinnen muss.

Verständlichkeit, persönliche Nähe, Emotion

Die trockene Nachricht war noch nie des Lesers Leibgericht. Der Journalismus muss sich vom Dünkel verabschieden, Dienstleister für die gebildeten Stände zu sein. Sein gesellschaftlicher Auftrag verpflichtet ihn, allen Gruppen dieser Gesellschaft vom Hochakademiker bis zum gerade noch des Alphabets kundigen Prekariatsangehörigen ein attraktives Angebot zur Welterklärung zu machen, das sich an ihrem jeweiligen Horizont, ihren Erfahrungen und Kenntnissen orientiert.

Im Kern des Kontrakts, den der Kunde täglich neu mit den Medien schließt, stehen Verständlichkeit, persönliche Nähe und Emotion. Auch mit Gefühlen lässt sich argumentieren. Die Medienbürger des digitalen Zeitalters denken, fühlen und handeln anders, als Normsetzungen, die lange als unverrückbar galten, es nahelegen. Für das Private galt ein Vermummungsgebot. Jetzt geht das Private an die Öffentlichkeit.

Sterbenskranke beschreiben in den Medien ihren psychischen Ausnahmezustand. Sie verstecken ihre von Chemotherapie gezeichneten Körper nicht länger unter Make-up und Perücken. Für sie ist die Veröffentlichung des Intimen nicht Tyrannei, sondern Befreiung. Mit dem bewussten Bruch der Intimität rütteln sie auf, brechen das Beschweigen ihrer tödlichen Krankheit. Mit Hilfe der Medien befreien sie sich aus dem Kerker der sozialen Isolation.

Wozu Journalismus? Journalismus muss Tabubrecher sein. Er verlässt die sichere Distanz und wendet sich menschlichen Schicksalen zu. So ermöglicht er Miterleiden und Miterleben und schafft Empathie.

Aufklärung ist keine Buchstabenfrage. Auch Emotionen können Argumente sein. Nach dem Amoklauf von Winnenden veröffentlichten Eltern Fotos ihrer ermordeten Kindern, um den Opfern der Gewalt „ein Gesicht zu geben„. Mit diesen hochemotionalen Bildern setzten sie sich für eine Verschärfung des Waffenrechts ein. Ihr Schicksal verlieh ihnen Glaubwürdigkeit und Überzeugungskraft, die kein noch so beredter Volksvertreter je erreichen kann.

Verdrängungsapostel herausfordern

Was angesichts eines Bilderverbots von Schlachtfeldern und Naturkatastrophen als Achtung vor der Intimsphäre oder als Schutzbedürfnis der Betroffenen ins Feld geführt wird, dient häufig dazu, dem Medienkonsumenten den Blick in eine immer ungemütlicher werdende Welt zu blockieren. Dagegen steht das journalistische Ethos, dass um die Würde des Menschen zu wahren, auch seine Entwürdigung gezeigt werden muss – wie mit den Bildsequenzen von der sterbenden Neda Agha-Soltan in Iran oder mit den Fotos der zwischen Betontrümmern eingeklemmten Kinder von Port-au-Prince.

Wozu Journalismus? Weil Journalisten Wahrheitsfanatiker sind. Sie fordern die Verdrängungsapostel heraus, die verschont bleiben möchten von Fotos misshandelter Kinder, die nicht die Opfer des Amoklaufs sehen wollen, sondern nur die Trauerfeier, auf der ein Pastor besinnliche Worte spricht und die Trauergäste bis auf ein paar von der Kamera ausgesparte Tränen die Fassung bewahren.

Medien sind Welterklärer

Wozu Journalismus? Weil Journalismus die Menschen aus der Fassung bringen und die Festung ihrer Selbstgerechtigkeit sprengen muss.

Medien sind Welterklärer. Sie müssen unnachsichtig erklären, warum Politiker zu Politikverweigerern werden. Wer dem eigenen politischen Programm nicht vertraut, versteckt sich hinter privaten Schnurren: Die Bundeskanzlerin, wenn sie ein paar Tage vor der Bundestagswahl einer erheiterten Herrenrunde erläutert, wie sie Artischocken einkauft – in der Dose und nicht am Marktstand wie ihr Vorbild die schwäbische Hausfrau.

Lieber Sigmar Gabriel, seien Sie gewarnt. Nachdem Sie der Öffentlichkeit tröpfchenweise mitgeteilt haben, dass Sie im Besitz eines Segelscheins sind, wollen wir Sie nicht bei stürmischer See wie Käpt‘n Ahab an das Ruder Ihrer Jolle gekettet sehen. Uns hat gereicht, dass uns Merkel mit Artischocken bewarf und Gabriels Vorvorgänger Kurt Beck sich im Angesicht klickender Kameras des Hundes seiner Moselwirtin bemächtigte, um uns seine Tier- und Menschenliebe vor Augen zu führen. Jeder Politiker wird allein daran zu messen sein, ob er seine politischen Aufgaben erfüllt und seine Versprechen einhält.

Wozu Journalismus? Bitte nicht als gemütliches Familienalbum der Politik.

Journalismus muss nachhaltig sein! Wo Politiker ihre Versprechen nicht halten, wo Probleme wolkig wegdefiniert werden, da lautet der journalistische Auftrag: Dranbleiben und nichts durchgehen lassen, jedes Versprechen so lange aufrufen, bis es erfüllt oder als falsches Versprechen entlarvt ist. Journalismus muss kampagnenfähig sein. Seine Verbündeten sind die Bürger im Internet. Sie sind Tippgeber, Nachrichtenlieferanten, Mitdiskutanten. Wenn sich Journalisten zu Organisatoren von Netzdiskussionen machen, wenn sie steuern, korrigieren und sachlichen Input geben, dann erfüllt der Journalismus seine gesellschaftliche Funktion als Aufklärer und Welterklärer.

Wozu Journalismus? Weil der Journalist Bürgerbeauftragter ist und im Gegensatz zur Politik nie den Kontakt zur Basis verliert. Der Basiskontakt lässt sich täglich an Auflage, Marktanteil und Verkaufserlös messen. Und die Basis hat das Zeug zum Mitmach- Reporter.

Papst Benedikt bei einem Gläschen Schnaps

Der Aufstand gegen den Leserreporter von „Bild“ war ein Aufstand der Bigotterie. Nichts belegt das besser als jenes Leserfoto, das aus Gründen der Diskretion vom Boulevard nicht gedruckt wurde, aber dafür in der „FAZ“ Karriere machte. Es war der Schnappschuss, auf dem Papst Benedikt beim Deutschlandbesuch mit seinem Bruder entspannt auf der Terrasse ein Schnäpschen trinkt. Der Abdruck von Leserfotos ist so alt wie die Fotografie in der Zeitung – vom Luftschiffabsturz 1913 in Berlin-Johannisthal bis zu den stürzenden Wolkenkratzern von 9/11. Aber die Prüfung von User-generated-content in Text und Bild verlangt eine personell intensive Begleitung und Nacharbeit.

Liebe Verleger, wenn euch das zu teuer ist, setzt ihr die Glaubwürdigkeit des journalistischen Produkts aufs Spiel. Aber ohne das Alleinstellungsmerkmal Glaubwürdigkeit stellt sich die Frage mit Recht: Wozu Journalismus? Weil die Medien als Glaubwürdigkeitsagenturen eine neue Verpflichtung zu übernehmen haben. Wie verführerisch das Motto, „Augenzeugen übernehmen die Nachrichten“ klingen mag, der Empfänger einer Twitter-Botschaft weiß nicht, wie echt die Augenzeugenschaft ist. Echtzeit sagt nichts über die Echtheit der Information. Damit aus der Vielfalt von Infobits, Eindrücken und Gerüchten, von Selbsterlebtem und Ausgedachtem verlässliche Nachrichten werden, bedarf es der Prüfung durch journalistischen Fachverstand. Journalismus ist nötig, damit aus Zufallskommunikation Verlässlichkeitskommunikation wird.

Wozu Journalismus? Weil er unser Leben bereichert. Deshalb sage ich meinen Kollegen: Achtet den Leser, den Hörer, den Zuschauer. Gönnt ihm ab und zu einen überraschenden Gedanken, eine neue Idee. Er ist es wert. Werdet nicht Bauchredner des Publikums. Erfüllt die Wünsche der Kundschaft, aber drückt nicht in vorauseilendem Gehorsam die Standards weiter nach unten. Seid nicht Schwarzmaler oder Schönfärber, sondern verlässliche Bündnispartner und besonnene Welterklärer. Dann stellt sich die Frage nicht mehr: Wozu Journalismus? Die tägliche journalistische Arbeit ist Antwort genug.


Ursprünglich ist dieses Essay als Teil der „SZ“-Reihe „Wozu noch Journalismus“ erschienen, die auch als Buch erhältlich ist. VOCER veröffentlicht ausgewählte Beiträge in teils leicht aktualisierter Form.

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