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Die gläserne Redaktion

Leserbeirat, Tag der offenen Tür, ein bisschen Social Media: Was die deutschen Medien in Sachen Transparenz machen, ist noch sehr 1.0. Ein Blick nach Schweden zu „Norran“, wo der direkte Draht zum Leser wahrscheinlich die Zeitung rettete.

Bei der Arbeit chattet die Journalistin Jessica Dhyr den ganzen Tag mit ihren Freunden. Oder vielmehr: mit ihren Lesern, mit denen sie nach mehreren Jahren des ständigen Kontakts aber auf einer fast freundschaftlichen Ebene angelangt ist. So beschreibt sie es zumindest. Seit 2009 finden Besucher von norran.se, der Website der schwedischen Tageszeitung „Norran“, oben rechts auf der Startseite ein Chatfenster für den direkten Draht zur Redaktion; sechs Online-Redakteure wechseln sich bei der Betreuung ab. Ein Großteil der Gespräche hier dreht sich ums Wetter, das Befinden oder das Mittagessen. Diese gefühlte Banalität gehört zum Konzept. Denn dazwischen erkundigen sich Leser auch: „Warum haben Sie über dieses Thema etwas gemacht, aber über jenes nicht?“ oder „Ich habe einen Polizeiwagen vor meinem Haus gesehen, wissen Sie, was da los ist?“ Und jede Woche bekommt die Redaktion fünf Tipps, aus denen zum Teil exklusive Geschichten entstehen.

Das sind dann die, für die sich der Aufwand lohnt, den „Norran“ mit seinem Chat betreibt. Aber nicht nur. Eine Vielzahl von Gründen veranlasst Redaktionen dazu, in ihrer täglichen Arbeit auf den Kontakt zum Nutzer zu setzen – in beide Richtungen: Sie stellen Zusatzinformationen oder Rohmaterial online und holen vor, während und nach einer Recherche Feedback ein. Die aktiven Leser danken ihnen die Offenheit und ergänzen die journalistische Kompetenz um neue Perspektiven.

Am gewagtesten beackert dieses Feld wohl der britische „Guardian“, der seit 2011 täglich seine Themenplanung veröffentlicht, um etwas von der gerne so genannten Weisheit der Masse abzugreifen. Leser können große Teile der wertvollen „Newslist“ einsehen und Hinweise geben, Fragen stellen, helfen, eine Geschichte weiterzudrehen. Für den „Guardian“ liegt in dieser Transparenz die Zukunft des Journalismus: In zehn Thesen, die er im Frühjahr zum „Offenen Journalismus“ twitterte, betont Chefredakteur Alan Rusbridger den Wert von Kollaboration und Aggregation und was Journalisten von Nutzern lernen können. Parallel jedoch gestand seine Redaktion ein, dass der Ansatz der „Open Newslist“ vielleicht nicht ganz optimal war und dass man für bessere Ergebnisse die Anfragen an die Leserschaft mehr konkretisieren müsse. Ehrliche Evaluation eines Experiments.

Daneben wirkt der zurückhaltende deutsche Journalismus ganz schön mutlos. Was die meisten Redaktionen hierzulange bislang für die Leserbindung machen, ist eher 1.0: Leserfotos und –briefe werden in der Zeitung gedruckt, es gibt Hörer-Hotlines, vielleicht noch einen Leserbeirat. Hin und wieder erklärt sich irgendwo ein Lokalbüro zur gläsernen Redaktion für einen Tag. Sie meisten Medien trauen sich erst dann im virtuellen Raum nach vorne, wenn irgendwo schon ein paar Pioniere aus dem Ausland Ähnliches gewagt haben. Mit Profit. Ohne zu scheitern, versteht sich.

Die kleinen Versuche

Immerhin nutzen inzwischen vermehrt Redakteure bei den größten deutschen Medien die sozialen Netzwerke als Resonanzboden. Bei einigen ist das Prinzip des Crowdsourcings – also Leserhilfe etwa für Recherchen in Anspruch zu nehmen – zumindest teilweise institutionalisiert. So hat zum Beispiel „Süddeutsche.de“ im Sommer dank einer Suche über soziale Plattformen Protagonisten für ein eindrückliches Dossier über die Stimmung der Griechen inmitten der Krise gefunden. Es gibt solche Fälle auch bei anderen, aber sie bildeten bislang die Ausnahme. Meist wirkt das, was große deutsche Redaktionen bei Twitter, Facebook und Google Plus treiben, immer noch so, als hätte von ganz oben jemand gesagt: Ihr müsst jetzt was mit diesem Facebook machen.

Aber auch die kleinen Versuche tragen zur Leser-Blatt-Bindung bei. Wie es nach den ersten Schritten weitergehen kann, zeigen hierzulande etwa die Wochenzeitung „Der Freitag“, die Beiträge der Leser ins journalistische Programm hievt, und das angenehm diskursive „Zeit Online“.

Die Zahl der „Heavy User“, die wirklich aktiv partizipieren wollen, bleibt allerdings auch dort überschaubar. Trotzdem sorgt die persönliche Komponente für freundlichere Nutzer, weiß Jessica Dhyr (mehr im kompletten Interview) aus ihrer Erfahrung bei „Norran“. Das schwedische Blatt hat heute 25.000 Abonnenten und 85.000 Unique Visitors. Dass es „Norran“ angesichts der desolaten Lage der Zeitungsindustrie in dem Land noch ganz gut geht, ist zumindest zum Teil der Öffnung der Redaktion zu verdanken. Lesern vorzusetzen, wofür sie sich zu interessieren haben, „mag früher funktioniert haben“, meint Dhyr. Heute jedoch dürften Journalisten sich nicht mehr „allwissend und undurchschaubar“ geben. Und mit denen, die das Geld in die Kasse spülen, muss sich auch der Journalismus verändern, diese Einstellung teilt „Norran“ mit dem „Guardian“ und US-amerikanischen Medien wie dem National Public Radio (NPR), die den Rechercheur und Reporter von seinem Sockel genommen und ihm aufgetragen haben, seine Arbeit mehr als Prozess zu verstehen.

Die Grenzen bei der Offenheit

Mit einer institutionalisierten Transparenz wie der „Open Newslist“ des „Guardian“ tun sich die meisten Medien allerdings schwer. „Spiegel Online“-Chef Rüdiger Ditz sagt, in seinem Haus sei derzeit nichts Derartiges geplant; der Axel Springer Verlag wollte sich gar nicht zum Thema äußern; die „Rhein-Zeitung“ verzichtet bewusst auf eine solche Variante. Stefan Plöchinger, Chefredakteur von „Süddeutsche.de“, will zwar Genaueres nicht sagen, erkennt aber immerhin an: „Open Journalism ist ein wichtiger Schlüssel. Wenn wir Leser durch Transparenz und Nahbarkeit zu Fans machen, werden sie unseren Journalismus fördern, falls es kritisch wird.“ Falls es kritisch wird. Das bedeutet gerade für den umkämpften deutschen Medienmarkt, dass die Bindung an die Marke umso wichtiger werden wird, je dünner sich die finanzielle Luft erweist. Vermutlich liegt in der Sorge, die sich darin wiederfindet, auch die Antwort auf die Frage, warum deutsche Medien so zögerlich sind. Das „Trial and Error“-Prinzip beherrschen die ängstlichen Medienhäuser halt nicht so gut, selbst wenn sie von Innovatoren wie Plöchinger mitbetrieben werden.

Statt der Vorteile werden zuerst die potenziellen Gefahren bis ins Kleinste analysiert. Was, wenn die Konkurrenz mitliest und sich Themen abschaut? Bei „Norran“ werden die Tipps zu potenziell exklusiven Geschichten deshalb gelöscht, aber nicht, ohne mit dem Hinweisgeber darüber zu kommunizieren. Fehlinformationen, die in Redaktionen eingeschleust werden? Kein Problem, weil trotzdem alle Hinweise erst überprüft werden. Und dass nicht alle Ansätze Früchte tragen, ist auch normal. Journalistisches Handwerk eben. Trotzdem gibt es und muss es natürlich Ausnahmen von der völligen Offenheit geben. So hat der „Guardian“ immer klar gemacht, dass brisante Geschichten auch weiterhin erst in der finalen Fassung publiziert würden. Solche Grenzen setzt sich auch die „WAZ“, deren Recherche-Ressort einen sehr offenen Ansatz verfolgt, aber bei investigativen Stücken klar die Grenze zieht. Ressortleiter David Schraven macht sich dafür stark, die Arbeit nachvollziehbar zu machen – „solange es von Interesse ist und Informanten nicht gefährdet“.

Doch nicht nur Leserinteresse entscheidet über die Herangehensweise. Medienhäuser müssen selbstverständlich einsetzen, was für sie praktikabel und bestenfalls gewinnbringend ist. So hat ein vergleichsmäßiger Gigant wie der „Guardian“ gute Erfolgsaussichten beim Crowdsourcing, dessen Wirkung sich erst ab einer gewissen Comminity-Größe entfaltet. Umgekehrt ergibt es für ein Blatt wie „Norran“ wesentlich mehr Sinn, einen personalisierten Chat anzubieten, als für ein überregionales Medium. Überhaupt ist die Leser-Blatt-Beziehung im Lokalen oder Regionalen traditionell eine engere.

Die Sackgassen bei der Recherche

Ihre Nähe zum Leser verorten deutsche „Zeitungsmacher“ im oberen Mittelfeld. Das hat die so betitelte Studie ergeben, für die Stephan Weichert, Leif Kramp und Martin Welker fast 130 Redakteure aus Zeitungsvollredaktionen zu ihrer Kommunikationsdistanz zum Leser befragt haben. Die redaktionelle Distanz sei aber generell noch verbesserungswürdig, schlussfolgern die Journalismusforscher. Immerhin zeigen ihre Ergebnisse, dass Journalisten auch Laien zugestehen, gute Hinweisgeber sein zu können. Unter den partizipativen Möglichkeiten, die Medien heute bieten können, nehme die Beteiligung an der Recherche eine Sonderstellung ein. „Die Rahmenbedingungen für eine zeitgemäße Beteiligung der Leser bei der Recherche müssen in den meisten Zeitungsredaktionen erst noch geschaffen werden, hierfür bietet das Web 2.0 jedoch ein immenses Entwicklungspotenzial“, so Weichert.

Es ist derweil kein Zufall, dass diese Recherche-Transparenz in einer deutschen Hörfunk-Sendung durchaus nachahmenswert betrieben wird. „Die Frage“ des BR-Jugendsenders on3 führt im Web logisch weiter, was im Radio gang und gäbe ist: Interaktion. Via Facebook kann der Hörer verfolgen, wie sich das Team der aktuellen „Frage“ widmet und hat auch schon mal dazu beigetragen, dass eine Ausgabe in eine ganz andere Richtung lief. Wie die Suche nach der Antwort versteht „Die Frage“ die Recherche als Prozess – und zwischendurch gebe es „Punkte, an denen wir evaluieren, was die Nutzer eigentlich interessiert“, erzählt der betreuende Redakteur Till Ottlitz. „Journalisten geraten bei der Recherche oft in Sackgassen. Wir sollten das noch öfter thematisieren. Das schafft nicht nur einen Spannungsbogen, sondern zeigt auch, dass wir nicht die Wahrheit gepachtet haben.“ Für diesen Experimentierwillen bekam on3 2010 den Deutschen Radiopreis für die „Beste Innovation“.

Daniel Bröckerhoff, Jahrgang 1978, kann man getrost zu den Ausprobierwilligsten der Republik zählen. Er gibt auf verschiedensten Kanälen Einblicke in seine Arbeit und hat sich als freier Autor unter anderem für das Einsplus-Format „Klub Konkret“ schon mehrfach an gläsernem Arbeiten ausprobiert. Das hieß dann, dass er von seiner Recherche twitterte oder Videoteaser von einem Drehtag direkt auf YouTube postete. Obwohl gelegentlich angestrengt, ist er bislang noch immer wieder zur offenen Kommunikation zurückgekehrt. „Es lohnt sich, aber es muss auch entlohnt werden.“

Und da liegt wohl die zurzeit noch am ehesten unüberwindbare Krux des offenen Journalismus: Redaktionen müssen ihn sich leisten können. Zwar werden hier und da Social-Media-Abteilungen geschaffen und ausgebaut, aber davon abgesehen wird der Zusatzaufwand der Profilpflege stillschweigend vorausgesetzt. Wer damit experimentieren will, muss das auf eigene Kosten tun – gerade für Selbständige ein wichtiges Investment. Auch Daniel Bröckerhoff dachte, das ginge nebenher. „Ich musste aber im Praxistext feststellen: Das ist nicht so einfach. Zwischendurch mal einen Tweet, das geht schon. Aber richtig gläsern ist das nicht.“

Ist es in der Tat nicht – noch nicht. Doch die Transparenz wird auf kurz oder lang ihren Platz im digitalen Journalismus finden müssen. Allein schon weil die Mitmach-Komponente des modernen Webs nicht wieder verschwindet. Möglicherweise geht die Offenheit dann auf Kosten anderer Dinge. Wichtig ist, dass die Prioritäten klar bleiben: Wenn zum Beispiel im Einzugsgebiet der schwedischen Zeitung „Norran“ etwas passiert und der Stress in der Redaktion zu groß wird, schalten die Redakteurinnen den Chat vorübergehend ab, was die Leser akzeptieren. Auch darf sich an den handwerklichen Standards nichts ändern. Jenseits dieser Selbstverständlichkeiten alledings kann der Journalismus nur profitieren von der neuen Offenheit, dem Prozessjournalismus, der Einbeziehung der Crowd. Denn die neue Transparenz nötigt jedem Selbstkritik ab – dem einen mehr, dem anderen weniger. Sie kann uns zu besseren Journalisten machen.


Dieser Text ist zuerst im Medienmagazin „journalist“ erschienen.

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