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Die Aufregung des Augenblicks überdauern

Dokumentarischer Journalismus könnte in Krisenzeiten Haltung und Orientierung bieten. Doch die Wohlfühlmaschine Fernsehen drängt ihn zu weit an den Rand.

Frühjahr 2011. Fast überall in der arabischen Welt erheben sich Menschen gegen Diktatoren. Panzer fahren auf, ausländische Kampfflugzeuge werfen Bomben. Es herrscht Krieg, auch in deutschen Wohnzimmern. Die Einschaltquoten von Nachrichtensendungen jagen in die Höhe, doch die Privatsender denken gar nicht daran, ihre Katzenbergerjauchrestauranttester für Revolutionen und Kampfeinsätze zu unterbrechen. Die News-Redaktionen von ARD und ZDF laufen dagegen auf Hochtouren, produzieren eine Sondersendung nach der anderen, überzeugen mit mutigen, kompetenten Live-Schalten und Kurzbeiträgen. Sternstunden des öffentlich-rechtlichen Fernsehens.

Und doch ist das Publikum verwirrt. Gegen welche Diktatoren erheben sich die Demonstranten eigentlich? Haben wir in Tunesien nicht letztes Jahr Urlaub verbracht? Menschenrechtsverletzungen sind uns da gar nicht aufgefallen. Husni Mubarak? Hatte ihn Angela Merkel nicht herzlich in Berlin empfangen und als „Freund“ bezeichnet? Und durfte Muammar al-Gaddafi nicht bei Nicolas Sarkozy in Paris sein Zelt aufschlagen? Ben Ali, Mubarak, Gaddafi – drei gesellschaftsfähige Staatsmänner mutieren 2011 innerhalb weniger Wochen zu brutalen, korrupten Diktatoren.

Selbst die aufmerksamsten und treuesten Zuschauer von „Tagesschau“ und „heute“ müssen überrascht sein. Irgendetwas haben sie wohl verpasst. Und die libyschen Rebellen, die Sarkozys „Koalition der Willigen“ plötzlich mit Bombengewalt im Kampf gegen den Diktator unterstützt – was sind das eigentlich für Leute? Wie werden sie sich verhalten, wenn sie einmal an der Macht sind?

Eine riesige Informationslücke

Selbst in den ausgezeichneten Nachrichten der Öffentlich-Rechtlichen erfährt man dazu nahezu kein Wort. Auch die Experten in den Talkshows wissen es nicht. Sie sollten es aber wissen, die Zuschauer sollten es wissen. Erst recht sollte es die Regierung wissen, die innerhalb kürzester Zeit Entscheidungen von historischer Tragweite treffen muss. Im Frühjahr 2011 ist Deutschland jedoch völlig überrascht. Nachrichten und Talkshows geben sich redlich Mühe, doch sie schaffen es nicht, eine riesige Informationslücke zu schließen. Es ist zu spät.

Westliche Staaten mischen sich im libyschen Bürgerkrieg ein, in Bahrain, im Jemen, in Syrien schauen sie weg. Warum eigentlich? Die  Nachrichten- und Talkshowredaktionen stoßen an Grenzen. Sie kommen nicht nur zu spät, es passiert auch zu viel auf einmal. Orientierungslos stolpern Bürger, Experten, Politiker in eine Diskussion um Bündnistreue, Wahlkampftaktik, arabische Geschichte und Menschenrechte. Ihnen fehlen wichtige Hintergrundinformationen, ihnen fehlt vor allem ein klares Koordinatensystem: Was soll man von all dem halten?

Fernsehdokumentationen hätten Orientierung geben können. Sie hätten historische Hintergründe verbinden können mit persönlichen Schicksalen. Sie hätten sich kritisch mit den nordafrikanischen Despoten auseinandersetzen und der Frage nachgehen können, warum diese Despoten von der Bundesregierung so lange unterstützt wurden. Lag es am komplizierten Verhältnis zu Israel, lag es an den guten Waffengeschäften, lag es an der Angst vor dem islamischen Fundamentalismus? Die Dokumentationen hätten vor allem eines bieten können: eine Haltung. Doch diese Filme gab es nicht.

Gewinner und Verlierer wie beim Sport

Herbst 2008. Die Finanzwelt wird von einem Ereignis durcheinander gewirbelt, das Insider als Finanz-Tsunami bezeichnen. Der Kollaps von Lehmann Brothers in den USA, der Beinahe-Crash von Hypo Real Estate in Deutschland, Bankenpleiten in England, Irland, Island, hektische Rettungsaktionen der Regierungen – die Welt schaut mit einer Mischung aus Abscheu und Faszination auf ihre Finanzzentren. Irgendwie scheinen in den Jahren zuvor rund um die Börsen in New York, London, Frankfurt und Tokio junge, risikogeile Menschen im großen Umfang Macht erworben zu haben – Macht über ganze Volkswirtschaften, ohne demokratische Kontrolle. Banker haben Geschäftsmodelle entwickelt, die kaum jemand versteht, sie setzen Unmengen von Geld aufs Spiel, das ihnen nicht gehört, sie leben privat in Saus und Braus, als gebe es kein Morgen.

Von all dem haben die meisten Menschen, auch die meisten Fernsehzuschauer, nichts mitbekommen. Die Wirtschaftssendungen geben das Börsengeschehen wieder wie die Kollegen der Sportredaktionen – täglich gibt es Gewinner und Verlierer im Dax, und nicht viel mehr. Als es soweit ist, als ehemals stolze Banken zusammenfallen wie Kartenhäuser, als die Zuschauer von großer Angst um ihr mühsam erspartes Geld erfasst werden, strengen sich die Nachrichten- und Talkshowredaktionen wieder redlich an. Doch es ist zu spät. Und zu kompliziert.

Völlig unvorbereitet streiten die Deutschen über Kreditausfallversicherungen, Verstaatlichungen, Bürgschaften. Sie haben keine Ahnung – aber das unangenehme Gefühl, sich in kürzester Zeit eine Meinung bilden zu müssen. Im Eilverfahren stellt ihre Regierung viele Milliarden Euro bereit, erst für Banken und Unternehmen, später für ganze Staaten. Und immer heißt es, dies alles sei alternativlos. Ist es das wirklich? Die Deutschen wissen es nicht. Sie haben sich ja kaum mit Wirtschaft beschäftigt.

Nicht Propheten, aber Wegweiser

Auch hier hätten sorgfältig recherchierte Dokumentationen helfen können. Sie hätten als Fremdenführer durch die wilde Finanzbranche führen und die sich abkoppelnde Parallelgesellschaft durchleuchten können – ihre Riten, ihre Verachtung demokratischer Kontrolle, ihre menschlichen Abgründe. Diese Filme gab es nicht, jedenfalls nicht rechtzeitig.

Regierungen leisten sich Nachrichtendienste, auch um mit Informationen versorgt zu werden, die nicht in den Nachrichten vorkommen. Um sich eine Meinung bilden, um handeln zu können. Auch Fernsehzuschauer brauchen mehr als Nachrichten, brauchen Hintergrundwissen, um die Nachrichten verstehen, einordnen zu können.

Sie brauchen Magazine, Talkshows. Und sie brauchen Dokumentationen. Sie brauchen Geschichten, die sie in andere, manchmal fremde Welten hineinziehen, die sie berühren und ihnen helfen, sich zurechtzufinden. Geschichten, die nicht in ein paar Minuten zu erzählen sind, die Zeit brauchen, um ihre Wirkung zu entfalten. Die dafür aber die Aufregung des Augenblicks überdauern. Dokumentarischer Journalismus kann, wenn er gut ist, Zuschauern als Kompass dienen.

Selbstverständlich ist gar nichts mehr

Bei beiden Großereignissen – Finanzkrise, Revolutionen in der arabischen Welt kamen die passenden Dokumentionen – wenn überhaupt – Wochen und Monate zu spät. Sie hätten vorher kommen müssen, nicht als wagemutige Prognosen – Dokumentaristen sind keine Propheten -, sondern als Wegweiser. Doch kaum ein Film berichtete frühzeitig von der prekären Lage der nordafrikanischen Bevölkerung, von Unterdrückung und Korruption. Der deutsche Fernsehzuschauer hatte praktisch keine Ahnung von dem, was sich in Nordafrika zusammenbraute. 2007 und 2008 hatte er keinen Schimmer von der ungeheuer negativen Energie, die sich an den Finanzplätzen entfaltete. So laufen wir Produzenten, Autoren und Redakteure von Dokumentationen den Ereignissen hinterher – bestenfalls als Chronisten, nicht viel mehr.

Klar, es gab in derselben Zeit auch Filme, die von Dokumentaristen mit Gespür für Timing hergestellt wurden; Filme, die ihre Legitimation nicht erst nachträglich durch Revolutionen oder Börsencrashs erfahren. Mit großem Aufwand produzierte Filme. Filme, für die sich Redakteure mutig eingesetzt und die notwendigen Mittel organisiert haben. Doch gerade dieser oft wiederholte Verweis auf den Mut der Redakteure zeigt das Dilemma: Selbstverständlich ist in der Doku-Branche gar nichts mehr.
Im Sommer 2011 das nächste Großereignis, zu dem Dokumentationen schmerzlich vermisst werden: Griechenlands Schuldenkrise bedroht nicht nur die europäische Währungsunion, sondern auch den politischen Zusammenhalt Europas. Eine Idee, unsere Idee, ist in Gefahr. Sollen wir die Griechen aus der Gemeinschaft verstoßen oder erneut Milliarden nach Athen überweisen? Ist die Europäische Union eine gigantische Fehlkonstruktion? Wieder fehlen Dokumentationen, die zu guten Sendezeiten die Deutschen aufklären, aufrütteln. Filme, die die heilige Kuh Euro auf die Schlachtbank führen oder – von mir aus – sich schützend vor sie werfen. Filme, die die Puzzleteile der Nachrichten zu einem Bild zusammensetzen.

Ungleiche Konkurrenz um Etats und Aufmerksamkeit

Der dokumentarische Journalismus wird von der großen Unterhaltungs- und Wohlfühlmaschine Fernsehen weit an den Rand gedrängt. Und büßt dort seine gesellschaftliche Bedeutung ein. Zwar werden weiterhin unzählige Dokumentationen hergestellt, doch wird ihnen immer häufiger ein Biotop spät abends oder in Nischensendern zugewiesen.

Das Geld und die Aufmerksamkeit der Sender fließen woanders hin – in Richtung der Quizshows, Sportübertragungen, Schnulzen. Um sich in dieser ungleichen Konkurrenz um Etats, Programmplätze und Aufmerksamkeit halbwegs behaupten zu können, verlegen sich viele der eigentlich so wichtigen Geschichtenerzähler des Fernsehens auf andere Stoffe: auf nette, belanglose Themen. So verständlich dies im Einzelfall sein mag – Autoren, Produktionsfirmen benötigen Aufträge, Redakteure hoffen auf gute Einschaltquoten –, so fatal ist diese Entwicklung. Die Bedeutung des dokumentarischen Journalismus, seine Kompass-Funktion wird immer schwächer. Und somit auch das Argument, Dokumentationen auf denselben öffentlich-rechtlichen Bühnen zu zeigen, auf denen sich Sport und Unterhaltung immer breiter machen.

Falschen Geschichten echte entgegensetzen

Natürlich, keine noch so gut gemachte Dokumentation hätte die Finanzkrise verhindert, die arabischen Diktatoren aus dem Amt gejagt oder das Griechenland-Problem gelöst. Aber sie hätte den Zuschauern rechtzeitig die Augen öffnen, ihnen Eindrücke und Argumente an die Hand geben können. Sie hätten provozieren, große Debatten anstoßen können. Wenn Dokumentationen das leisten sollen, wenn sie selbstbewusst auf den prominenten Sendeplätzen der Hauptprogramme von ARD und ZDF gezeigt werden wollen, dann müssen sie große Geschichten für ein großes Publikum erzählen. Mit all dem, was dem öffentlich-rechtlichen Fernsehen zu Verfügung steht: Geld, Glaubwürdigkeit, journalistischer Kompetenz. Und dann müssen Redakteure, Produzenten und Autoren den Mut haben, den falschen Geschichten der Privatsender („Scripted Reality“) echte entgegenzusetzen – Geschichten, die uns angehen.

Warum sollten aufwendig hergestellte Dokumentationen nicht das Zeug zum TV-Event haben? Der dokumentarische Journalismus muss endlich raus aus seiner Nische. Denn es geht um mehr als das Profil von ARD und ZDF, um mehr als eine rituell geführte Debatte vor einer Gebührenfestsetzung. Es geht um die Zuschauer.  

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