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Ausgezappt

Im digitalen Zeitalter hat das Fernsehen, wie wir es kennen, keine Zukunft mehr. Das hat nicht nur Auswirkungen auf Gewohnheiten, die Quote und Programmschemata – sondern auf unsere Identität als Ganzes.

Etwa 8.000 Zeichen über die Zukunft des Fernsehens soll ich hier schreiben – dabei brauche ich eigentlich nur 27 – mit Leerzeichen 31, denn meine These lautet: Das Fernsehen hat keine Zukunft.

„Häh?“, werden Sie jetzt vielleicht denken „die glaubt nicht an die Zukunft des Mediums, für das sie arbeitet? Sie spricht ihrem eigenen Job die Überlebenschance ab?“ Ja. So ist es. Und ich gehe noch weiter: Ich bin auch sicher, dass ich zu der letzten Generation von Fernsehleuten, Reportern und Moderatoren gehöre, die noch bundesweit bekannt sind. Und das sage ich weder aus Egozentrik, noch aus Hybris, obwohl beides in meinem Berufsfeld durchaus zu finden ist. Ich sage es, weil die derzeitige Entwicklung mich nachdenklich macht.

Vor 16 Jahren saß ich in meinem ersten kommunikationswissenschaftlichen Seminar an der Uni Münster, und wir lernten die Theorie eines Philosophen und Medientheoretikers kennen, der damals als Prophet der Online-Entwicklung galt: Marshall McLuhan. Seine These war die, dass nach der Gutenberg-Galaxis, die durch Kommunikation via Buch und Schrift geprägt ist, mit dem Internet das Zeitalter des global village anbrechen würde. Die Welt werde zum digitalen Dorf, weil das Internet Echtzeit-Kommunikation auch über weiteste Distanzen hinweg ermöglicht.

Auch wenn wir dieses neue Zeitalter heute nicht global village, sondern digitales Zeitalter nennen, hat Marshall McLuhan mit seiner Prognose Recht behalten: Das Internet hat die Kommunikation so revolutioniert, wie es zuletzt Gutenberg mit der Erfindung des Buchdrucks tat.

Eine repräsentative Umfrage (PDF) des Bundesverbands Informationswirtschaft, Telekommunikation und neue Medien (Bitkom) liefert dazu Zahlen: 72 Prozent der erwachsenen Bevölkerung nutzen das Internet schon heute regelmäßig. Für das Jahr 2020 prognostiziert die Internationale Delphi-Studie 2030 einen Anteil von 90 Prozent. Sie prognostiziert außerdem, dass im Jahr 2020 mehr als die Hälfte der Deutschen ihre sozialen Kontakte regelmäßig über Netzwerke wie Facebook und Co. pflegen werden.

Schon heute werden weltweit 60 Stunden Videomaterial pro Minute auf YouTube hochgeladen. Diese Zahl ist deshalb so interessant, weil sie sehr anschaulich verdeutlicht, dass das Internet den User zum Mitmachen motiviert. Der Empfänger wird zum Sender und umgekehrt. Er gestaltet, schafft Content und zwar immer mehr davon: Vor einem Dreivierteljahr waren es noch 48 Stunden Videomaterial.

Selbstverständlich auf Abruf

Was diese Fakten mit der Zukunft des Fernsehens zu tun haben? Ganz einfach: Alles! Denn das Internet wird nur noch kurze Zeit ein Medium neben Hörfunk, Fernsehen, Zeitungen und Zeitschriften sein. Dann wird es diese klassischen Medien absorbieren und zur interaktiven Kommunikationsplattform werden, über die wir Web-Radio hören, soziale Kontakte pflegen, unseren Kalender und den Inhalt unseres Kühlschranks organisieren, Unterhaltung erleben und selbst initiieren und Nachrichten konsumieren – alles „on demand“ selbstverständlich, also auf Abruf.

Und genau da sind wir beim Kern des Problems. Denn natürlich ist es praktisch, wenn ich über die Mediatheken die Sendezeit meines „Tatorts“ und der „Tagesschau“ selbst bestimmen kann und mich nicht an Programmschemata halten muss, die möglicherweise nicht zu meinem individuellen Stundenplan passen.

Das Internet wird Sie nicht mehr belästigen

Aber „on demand“ wird noch viel weiter gehen: Ich werde als Internet-Nutzer und Medienkonsument der Zukunft nicht nur bestimmen können, wann ich die Inhalte abrufe, sondern auch welche Inhalte das sein werden. Und hier geht es – um beim Beispiel Nachrichten zu bleiben – dann nicht nur um die Entscheidung, ob ich die „Tagesschau“, „heute“ oder „RTL Aktuell“ abrufe. Ich werde in Zukunft ressortspezifisch vorgehen können: Sie interessieren sich für Sport und Wirtschaft aber nicht für Kultur und Politik? Voilà – das Internet wird Sie damit nicht mehr belästigen. Es wird Usus werden, dass wir Interessensgebiete, Neigungen, Hobbys angeben und dann zielgruppengenau und individuell informiert werden.Letztlich geschieht das natürlich auch beim Zeitunglesen. Die Rezeptionsforschung sagt ganz klar, dass nicht jeder die gesamte Zeitung liest – dass der Leser je nach Interesse selektiv vorgeht. Und auch bei der Tagesschau hören bei nicht allen Meldungen alle Zuschauer gleich aufmerksam zu.

Aber, und das ist der Unterschied: Auch wenn weniger Fußballbegeisterte den Sportteil überblättern – ganz entziehen können wir uns der Information nicht. Zumindest die Überschrift erfassen wir auch beim Überblättern. Im Auto hören wir Radio und bekommen in einer Moderation eine kurze Info, wer das Spitzenspiel gewonnen hat, wir sehen es abends in den Nachrichten. Es vermittelt sich quasi ungewollt nebenbei.

Zehntausende globale Dörfer

Was aber, wenn wir alles „on demand“ bekommen? Wenn alle Medien auf meiner Kommunikationsplattform Internet sozusagen gleichgeschaltet sind. Wenn das Konzert der Lieblingsband nur noch in der passenden Facebook-Gruppe stattfindet? Dann wird zum Beispiel der Fußballverrückte, der gerne Techno hört, Krimis guckt und sich ausschließlich für Landespolitik interessiert, auch ausschließlich Informationen und Unterhaltung zu diesen Themen bekommen.

Wenn wir diesen Gedanken jetzt auf Marshall McLuhans Theorie übertragen, sind dann statt einem „global village“ nicht plötzlich Zehntausende globale Dörfer in Sicht? Netzwerke von Menschen, die sich zwar trotz Distanzen und Entfernungen zusammenfinden können und ein Nachbarschaftsgefühl aufgrund gleicher Interessen spüren, die aber nur noch wenig gemein haben mit dem tatsächlichen Nachbarn in der Wohnung darüber, dem Liebhaber klassischer Musik, der sich für Thailand interessiert, für Yoga und fürs Kochen?

Auch heute gibt es natürlich Menschen mit unterschiedlichen Interessen, aber die Sozialisation, die auch über Medien funktioniert, ist noch eine ähnliche. Auch das Fernsehen war bisher daran beteiligt: Die Erinnerung an gemeinsame Kindersendungen verbindet Generationen, die „Tagesschau“ ist noch ein Ritual in vielen Familien, das schon als Kind „gelernt“ wurde. Und auch wenn es die großen Straßenfeger-TV-Ereignisse wie das „Stahlnetz“ aus den fünfziger und sechziger Jahren nicht mehr gibt – über Sendungen wie „Wetten, dass..?“ wird am nächsten Tag weiterhin diskutiert. Eine Nachricht wie die über das Massaker von Norwegen erreicht uns auch noch alle – eine Voraussetzung dafür, dass sie uns berührt.

Keine 15 Jahre mehr

In Zukunft wird das nicht mehr sichergestellt sein. Und das hat Konsequenzen: Wenn die Gemeinschaftserlebnisse, die auch Fernsehen heute noch schaffen kann, seltener werden, dann muss auch die Frage nach Identität irgendwann formuliert werden. Heute hängt unsere Identität auch von den Faktoren Region, Nation, Sprache ab. Wenn aber Sozialisation in Zukunft vor allem innerhalb unseres sozialen Netzwerkes im Internet stattfindet, übernehmen die Grenzen unserer Freunde-Liste bei Facebook dann irgendwann die Funktion der heutigen Nationengrenzen?

Und um es noch weiterzudenken: Werden sich langfristig auch die Sprachen innerhalb der neuen digitalen Teilgesellschaften verändern? Und wenn ja, wird die Kommunikation zwischen den verschiedenen Teilgesellschaften dann möglicherweise irgendwann genauso schwierig, wie sie heute zwischen dem nordrhein-westfälischen Altenbeken und einem Dorf in Somalia ist?

Weil ich die 8.000 Zeichen jetzt fast erreicht habe, breche ich das Gedankenexperiment „global village – one in a million“ an dieser Stelle ab. Ach ja – eins bin ich Ihnen noch schuldig. Die Antwort auf die Frage, warum ich zu der letzten Generation von Fernsehleuten gehöre, die noch bundesweit Bekanntheit genießen. Glauben Sie wirklich, dass der Einstieg in die Entwicklung, die ich oben beschrieben habe, noch eine Generation, also 15 Jahre, dauern wird?

Eben.

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