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Thierry Chervel: „Das Medium verliert an Profil“

Die größten Fehler der deutschen Verlage: das Internet und seine Protagonisten als Feinde sehen, sich an alte Geschäftsmodelle klammern und sich falsche Vorbilder zu nehmen. Ein Interview mit „Perlentaucher“-Mitbegründer Thierry Chervel.

Die größten Fehler der deutschen Verlage: das Internet und seine Protagonisten als Feinde sehen, sich an alte Geschäftsmodelle klammern und sich falsche Vorbilder zu nehmen. Thierry Chervel, Journalist und Mitbegründer des Onlinekulturportals „Perlentaucher“ spricht im VOCER-Interview über (fehlende) Innovation auf dem deutschen Medienmarkt.


VOCER: Herr Chervel, ist das deutsche Urheberrecht noch zeitgemäß oder behindert es journalistische Innovationen?

Thierry Chervel: Das Urheberrecht so wie es heute formuliert ist, hat immer die Voraussetzung, dass es physische Träger von Informationen gibt. Die Digitalisierung ist immer eine Verflüssigung von Informationen und Inhalten und macht insgesamt andere Modelle nötig.

Kennt denn das Urheberrecht den Mehrwert von Diensten wie dem „Perlentaucher“ an?

Nein, aber ich würde jetzt auch keine Rechte beanspruchen. Wir arbeiten mit Material, das schon da ist und das wir zitieren. Wir möchten darauf hinweisen dürfen, ohne dass es uns irgendeine Gebühr kostet. Wir glauben, dass diese Information ein Teil der freien Öffentlichkeit darstellt, die wir in unserer Gesellschaft brauchen. Deshalb lehnen wir Leistungsschutzrechte für Informationsmedien ab. Sie würden letztlich zu einer Privatisierung von Information führen. Information muss in einer freien Gesellschaft aber frei zirkulieren können. Wir selbst haben das Modell der Werbefinanzierung gewählt. Es ist leider nur so: Es gibt diese Krise der Informationsökonomie. Es gibt unendlich viel Platz für Werbung im Netz, die Preise sind total verdorben. Es ist praktisch nicht mehr möglich, mit Werbung ausreichend Geld zu verdienen.

Perlentaucher-Begründer Thierry Chervel © Foto width=

Nun werden Sie schon länger mit Klagen überzogen. Warum sehen die Verlage in kuratierenden Angeboten wie dem „Perlentaucher“ eine Bedrohung, die sie mit harten juristischen Bandagen bekämpfen?

Ich denke, die Verlage haben das Gefühl, man arbeitet mit ihren Informationen und setzt sich gewissermaßen an ihre Stelle. Ich sehe das natürlich genau anders: Wir verweisen auf deren Arbeit, tun also etwas, was in ihrem Interesse liegt. Wir stellen im „Perlentaucher“ eine Art Brückenschlag zwischen der neuen und der alten Öffentlichkeit dar. Und das ist meiner Meinung nach genau das, was diese Medien brauchen. Die Leser, die wir ihnen bringen, sind die Leser, die sie haben wollen: die jüngeren, die internetaffinen; diejenigen, die über die weitere Entwicklung der Medien sehr stark mit entscheiden; diejenigen, die man als Medium haben muss, um sich weiterentwickeln zu können. Wir tun also etwas, das im Interesse der Zeitungen liegt.

Können Sie denn die Klagen der Verleger verstehen, die sagen: Wir schaffen mit großem Aufwand Angebote, und andere verdienen Geld damit? Man denke in diesem Zusammenhang auch an Größen wie Google oder Facebook. Können Sie das nachvollziehen?

Ja und nein. Wir alle sind betroffen von der digitalen Revolution und für jedes private Medium, das nicht öffentlich-rechtlich finanziert ist, stellt sich ganz radikal die Frage des Geschäftsmodells: Wie soll ich meine Inhalte refinanzieren? Jede Zeitung lebte mehr oder weniger in einem Monopol oder zumindest einem Duopol seiner Region. Sie hatten in der Region die Macht, Preise für Anzeigen zu definieren, besonders Rubrikenanzeigen. Diese Funktion hatten die Zeitungen auf dem lokalen Markt, und diese Funktion haben sie durch die Medienrevolution verloren. Sie ist übernommen worden von Ebay, Google und wie sie alle heißen.

Wenn Sie jetzt Geschäftsführer eines großen Verlages wären, was würden Sie anders machen?

Es gibt zwei Verlage in Deutschland, die eine ganze Menge richtig gemacht haben: Der Springer-Verlag und der Holtzbrinck Verlag. Die haben kapiert, dass es richtig ist, Plattformen zu kaufen, die heute an die Stelle des Rubrikenmarkts treten: Stepstone, Immowelt oder Parship. Leider gibt es aber so gut wie keine Medien im Internet, die von den Verlagen neu erfunden wurden. In Amerika sind eine Menge sehr einflussreiche Medien im Netz entstanden: Die „Huffington Post„, „The Daily Beast“ usw. für das allgemeine Publikum; „Politico“ oder „TechCrunch“ für das spezielle Publikum. Man muss mit Bedauern feststellen, dass die Verlage in Deutschland wenig publizistische Energie entwickelt haben, sondern vor allem darauf aus waren, ihr jetziges Geschäftsmodell so lange wie möglich zu erhalten.

Und was würden Sie anders machen?

Was ich von vornherein und immer schon anders gemacht hätte: die Online-Leute in die Print-Redaktion reinholen. Mit den Online-Redaktionen als Parallelwelten hat man etwas erzeugt, was schizophren ist: Man hat unter derselben Marke Produkte völlig unterschiedlichen Charakters geschaffen. Die „SZ“ gilt als eine seriöse Zeitung, online war das lange Zeit mehr oder weniger, wie soll man sagen, ein ziemlich rudimentäres Schaufenster mit recht boulevardesken Elementen. Vielleicht wird das unter der neuen Leitung besser. Ich weiß nur nicht, wie der Nutzer das überhaupt verstehen soll. Ich halte das für ganz falsch. Die Medien hätten damals schon sagen müssen: Print und Online sind zwei Erscheinungsweisen ein- und derselben Sache.

Werden denn Angebote neuerer Art wie „Guttenplag„, Flipboard oder Twitter künftig wichtiger für die Nutzer? Oder werden die Nutzer in einem immer unübersichtlicher werdenden Netz doch eher zu den vertrauen klassischen Medien strömen?

Es ist eine Illusion, zu glauben, man könne diese exklusive Bindung aufrechterhalten. Die Nutzer schaffen sich ihre eigene Übersichtlichkeit. Auf Facebook abonnieren sie bestimmte Medien, bestimmte Freunde, bestimmte Kollegen und schaffen sich damit eine eigene Öffentlichkeit. Sie werden auch thematisch filtern. Sie sind einerseits politisch interessiert und andererseits angeln sie. Das heißt, sie werden den Feed der „Süddeutschen“ und den Feed des „Spiegel“ abonnieren und haben dann noch Kumpels, mit denen sie angeln gehen. Das individuelle Medium verliert so an Profil, und bestimmte Machtpositionen werden dadurch relativiert, was nicht immer nach dem Geschmack der Medien ist.

Sind die Medien gut beraten, diese neue Entwicklung personalisierter Nutzerströme völlig sich selbst zu überlassen, oder entgeht ihnen da möglicherweise ein neues Geschäftsfeld?

Das ist eben das Problem: Die Musikindustrie hat iTunes nicht erfunden, weil jedes Unternehmen für sich dachte. Aber der Nutzer denkt von der Distributionsseite her. Der sagt: Ich mag die Beatles, und ich mag die Beethoven-Aufnahme von Karajan. Das sind zwei unterschiedliche Konzerne, das ist dem Hörer aber völlig egal, iTunes stellt beides zur Verfügung. So ähnlich ist das bei den Zeitungen auch, jede Zeitung möchte, solange es geht, aus einer Art Überlebensreflex heraus als Einzelnes, als Individuelles wahrgenommen werden. Das wird aufgelöst durch das Internet.

Es geht ja nicht um das einzelne Tool, sondern um die Funktion, die dahinter steckt: Ich habe eine Applikation, und die beliefert mich aus unterschiedlichen Quellen.

Zeitungen können das gar nicht erfinden, weil sie aus dieser alten Logik heraus denken. So wie die Musikindustrie letztlich die neuen Distributionswege für die Musik nicht von sich aus erfinden konnte. Und dadurch gibt es neue Profiteure der Entwicklung, und das sind eben die neuen Distributoren, also Google, Apple, Facebook.

Sollten sich denn Journalisten generell mehr als Kuratoren verstehen? Als Wegweiser zu den guten Fundstücken im Netz? Das steckt ja auch im Slogan der „New York Times“: „All the news that’s fit to print.“

Das haben Journalisten eigentlich schon immer gemacht. Journalisten haben schon immer eine Auswahl getroffen aus all dem, was an Informationen vorliegt. Das ist nicht neu, nur die Instrumente sind neu. Im Netz entsteht eine neue Form der Öffentlichkeit, die neue soziale Rollen schafft, die aber nicht mehr unbedingt unter den Titel des Journalismus fällt. Das beste Beispiel dafür ist für mich die Wikipedia. Als ich vor ein paar Jahren über den Georgien-Krieg recherchierte, habe ich klassisch in den Medien versucht, mir einen Überblick zu verschaffen. Genau diesen Überblicksartikel habe ich aber nicht gefunden, sondern nur fragmentierte Informationen, häufig aus politisch vorgeprägten Positionen. Dann habe ich kapiert, wo ich fündig werde: in der Wikipedia. Hier gab es den gewünschten Überblick längst, ein Text, der sowohl die enzyklopädisch langfristige Perspektive als auch die tagesaktuelle Oberfläche beinhaltet. Fazit: In der Wikipedia habe ich die beste Information über den Georgien-Krieg gefunden. Das ist aber kein Journalismus, das heißt wir haben Formen von Information, die nicht Journalismus sind. Und das zeigt, dass Journalismus nicht automatisch weiter existiert.

Glauben Sie, dass deutsche Journalisten im Allgemeinen Innovationen technischer Art oder auch netzkulturelle Entwicklungen gegenüber zu wenig aufgeschlossen sind?

Ich finde es schade und traurig, dass zu wenige bekannte Journalisten die Möglichkeiten nutzen, die das Netz bietet. Warum haben bekannte Kolumnisten nicht ein Blog geschrieben? Also diejenigen, die abgesichert sind und eine Position haben in ihrem Medium. Die zu ihrem Chefredakteur sagen können: Hallo, ich möchte das jetzt mal ausprobieren. Wie oft ist das passiert? Insgesamt besteht hier doch eine sehr ablehnende und missgelaunte Reaktion. Wenn man sich überlegt, dass Paul Krugman, ein Wirtschaftsnobelpreisträger, auch mit Hingabe bloggt, ist das schade.

Brauchen wir in Deutschland mehr Input von externer Seite? Brauchen wir journalistische Think-Tanks, um die Innovationsbereitschaft voran zu treiben?

Letztlich geht das alles nicht ohne Experimentierbereitschaft der Medienkonzerne, und die vermisse ich. Vielleicht bin ich zu pessimistisch, aber ich sehe es bis heute nicht. Es würde bedeuten, dass Medien in publizistische Angebote investieren und auch das Risiko eingehen, möglicherweise über ein paar Jahre hinweg Geld zu verlieren. Davor haben sie aber Angst. Klar kann Springer sagen, wir probieren auf „Bild.de“ auch neue Formen aus. Aber diese Formate sind immer noch Ableger von Print-Produkten. Es muss etwas Neues wie zum Beispiel ein Debattenportal her, um zu schauen: Wie groß kann das werden? Gibt es Arten und Weisen, das zu refinanzieren? Gibt es Arten und Weisen, das zu verknüpfen mit Anzeigenmärkten, die das refinanzieren können? Das muss man ausprobieren.

Sollten sich auch Journalisten stärker um das Unternehmerische ihres Berufs kümmern?

Die Trennung von Verlag und Redaktion ist sicherlich sinnvoll, aber sie ist in Deutschland so stark, dass man von einer Entfremdung sprechen muss. Der Verleger muss inhaltlich denken und der Journalist muss auch eine ökonomische Verantwortung empfinden, wohl wissend, dass mit dem Produkt die Verpflichtung einhergeht, Geld zu verdienen, damit der Laden existieren kann. Sonst geht es nicht.

Zur Finanzierung des Journalismus unter digitalen Vorzeichen: Wie zeitgemäß ist es, Vertriebs- und Anzeigenerlöse zur Finanzierung heranzuziehen? Benötigen wir auch noch so etwas wie einen dritten Weg?

Man muss die Medienlandschaft neu durchdenken. Die öffentlich-rechtlichen Budgets können sich im Zeitalter der Medienkonvergenz auch für andere Formen von Medien öffnen. Warum gibt es nicht Ausschreibungen für ein Gesundheitsportal, auf dem alle Gesundheitsinformationen der öffentlich-rechtlichen Medien gesammelt werden? Vielleicht ist die Netzkompetenz der öffentlich-rechtlichen Anstalten gar nicht so groß. Vielleicht gäbe es Anbieter, die das kostengünstiger und gleichzeitig intelligenter gestalten können. So könnte man das Problem der Refinanzierung anderer Medien teilweise mit lösen.

Halten Sie es für realistisch, dass die öffentlich-rechtlichen Anstalten jemals etwas von der Gebührenhöhe, die sie jetzt haben, abgeben werden?

Ich bin für die Idee des Öffentlich-Rechtlichen, aber ich bin nicht dafür, dass diese Idee automatisch an die existierenden Anstalten gebunden ist. Man muss die Sache neu denken. Ohne einen ganz breiten Diskussionsprozess über die Medienlandschaft insgesamt in Deutschland werden wir nicht weiterkommen.

Was glauben Sie, wann wird diese Diskussion tatsächlich ernsthaft einsetzen?

Wahrscheinlich setzt so eine Diskussion immer nur dann ein, wenn wirklich Not am Mann ist. Vielleicht muss dafür tatsächlich ein wichtiger Medienkonzern erst groß in der Krise sein. Im Moment ist das alles theoretisch, es geht den meisten Konzernen ja eigentlich ganz gut.

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