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Debattieren im Netz: Haben wir eine Kultur?

Im Journalismus setzt es sich mehr und mehr durch, Lesern, Usern, Zuschauern und Hörern eine Stimme zu geben. Aber nimmt man sie wirklich ernst, wenn man relativ konzeptlos das freischaltet, was jemand unter Beiträge postet?

Spannende Frage, deshalb war der vergangene Freitagabend für eine gemeinsame Veranstaltung von VOCER und der „Süddeutschen Zeitung“ Stefan Plöchinger, Chefredakteur von „suedeutsche.de“, und Jan-Hinrik Schmidt, Soziologe und Medienforscher am Hans-Bredow-Institut für Medienforschung diskutierten über die Frage, wie das Netz die Debattenkultur verändert. Bei VOCER gab es einen Livestream zum Abend.

Mich interessiert das Thema, weil ich es spannend und bereichernd finde, Rezipienten in journalistische oder andere kulturelle Schaffensprozesse einzubeziehen. Von Anfang an, während der Produktion und auch im Feedback. Aber – ich sehe auch Grenzen. Kurz gesagt: Ich möchte nicht alles lesen, was Menschen so einfällt, wenn sie Artikel lesen. Und Journalisten sollten nicht zur Kummerkastentante der Leser werden. Wenn Stefan Plöchinger sagt, dass er auf alle Mails von Lesern antwortet, klingt das für mich eher beunruhigend. Vielleicht überschätze ich aber auch die Anzahl an Mails, die er bekommt.

Debatten im Netz: Jeder darf

Grundsätzlich ist es eine der faszinierenden Möglichkeiten des Netzes, dass Menschen, auch ohne journalistisch zu arbeiten, darin publizieren können. Auch deshalb, weil es die Meinungsbildung fördert, selbst zu schreiben. Es gibt viele kluge und kreative Köpfe, die von Berufs wegen nicht publizieren, die im Netz aber ihre Räume gefunden haben und gehört werden. Gleichzeitig aber entwickelt sich so ein ständig anschwellender Strom an Diskursen, Diskussionen, Beiträgen, die für den Einzelnen irgendwann zur Überforderung, zum großen Rauschen werden. Und wenn jeder spricht, wie ihr oder ihm der Schnabel gewachsen ist, ist das manchmal einfach auch unerfreulich. Eine Debattenkultur gibt es noch nicht, sagte Stefan Plöchinger – und wünschte sich eine. Wobei ja die Frage ist, wie es je zu EINER Debattenkultur kommen kann, wenn doch ganz unterschiedliche Kulturen hier im Netz aufeinandertreffen.

Ist der tiefe Knicks vor dem Publikum richtig? Im Journalismus setzt es sich mehr und mehr durch, Lesern, Usern, Zuschauern und Hörern eine Stimme zu geben. Das gefällt mir. Aber nimmt man sie wirklich ernst, wenn man relativ konzeptlos das freischaltet, was jemand unter Beiträge postet, mal ausgenommen, es verstößt gegen konkrete Regeln? Wäre es nicht eine große Bereicherung, wenn die vielen Stimmen nach Relevanz und Originalität ausgewählt würden? Warum behält sich die Redaktion nicht vor, nur die Leserbeiträge zu veröffentlichen, die die Debatte weiterführen, neue Impulse bringen, eine andere Sichtweise zeigen? So, wie es eigentlich auch bei den Leserbriefen Usus ist?

Muss der Knicks vor dem Publikum so tief gehen, dass man 80 und mehr Beiträge unter einen Artikel setzt, die sich irgendwann nur noch wiederholen oder in Schleifen verlieren? Darf es nicht auch zu einer Auszeichnung werden, wenn mein Leserbeitrag stehen bleibt? Das könnte auch für das Publikum ein Anreiz werden. Und vielleicht kommen so die qualifizierten Beiträge unter einen Artikel, die viele Redaktionen oftmals vermissen.

Publikumsbeiträge brauchen Gatekeeper

Journalisten haben für mich in Zeiten der Informationsflut mehr denn je eine Daseinsberechtigung als Gatekeeper. Vielleicht ist das sogar das Überlebensmodell. Sie sollten sich auch im Umgang mit Leserbeiträgen in dieser Rolle sehen. Wenn ich mir einen Eindruck von den (Un-)Tiefen und Breiten der Debatten zu bestimmten Themen machen möchte, so gibt es viele Ort im Netz und im wahren Leben, die mir ein umfassendes Bild davon bieten. Qualitätsjournalismus bedeutet für mich, Leserfeedbacks zu integrieren, aber gezielt auswählt und komponiert.

Ich möchte aus 100 Leserbeiträgen die zehn besten, aus 1000 Tatort-Tweets die originellsten präsentiert bekommen, ohne alles selbst zu lesen. Erst in der Aufbereitung werden Lesermeinungen zu einer wirklichen Bereicherung für andere. Und erst in dieser komponierten Form könnten sie die Zeitung als Marke wirklich stärken. Ich würde der Marke meines Vertrauens an dieser Stelle gerne zumuten, für mich die richtige Auswahl zu treffen.

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