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In die Normalität zurückgebeamt

An Christian Wulffs Rücktrittstag, dem Tag, der den Tiefpunkt der Politik- und Medienverachtung markieren könnte, fühlen sich Politik und Medien endlich wieder im Lot.

Ein Bundespräsident tritt zurück, nachdem er zwei Monate, wie es die Bevölkerung und er selbst empfinden, von „den“ Medien gejagt worden ist. Ein Bundespräsident, gegen den die Staatsanwaltschaft die Aufhebung seiner Immunität beantragt hat. Eine Zäsur? Eine neue Situation mit neuen Fragen, neuen Antworten? Oder vielleicht erstmal gar keinen?

Im Gegenteil. Wulffs Rücktritt hat den Politik- und Medienbetrieb in Sekundenschnelle aus einer mehrwöchigen Sonderfahrt in die Normalität zurückgebeamt. Die erste Frage bei Phoenix war die, wie man diese Rücktrittserklärung denn einzuordnen habe. Die zweite die nach seinem Nachfolger. Was eine rhetorische beziehungsweise rein rituelle Frage ist. Jeder weiß, welches Spiel jetzt begonnen hat, und dass das Namennennen, Namennichtnennenwollen nichts anderes ist als das Runterbeten eines Rosenkranzes. Oder das Abfeiern eines alten Trinkspiels. Und es funktioniert. Blind. Vor dem Fernseher kann man die Augen zumachen, und bis drei zählen, dann sagt wirklich einer „Heiner Geißler“ und der nächste andere „geht nicht“, der nächste Name, „ich möchte jetzt niemand verbrennen“, ja, danke, weiter.

Die Journalisten, die Experten, sie stehen dort am Panel, das eine Theke ist. Jeder an seinem Stammplatz. Es dauert nur kurz, bis das Motto zum Weiterzechen gefunden ist: Der „gemeinsame Kandidat“ heißt die Losung! Der muss jetzt her, jawoll, und schon ist man bei wer mit wem jetzt und wie. Auch Angela Merkel weiß natürlich, dass der „gemeinsame Kandidat“ das Stückchen Zucker ist, das sie jetzt werfen muss. Wer einen hochprozentigen Korn mit einem Zuckerstück trinkt, soll ja am nächsten Morgen keinen Kater haben. Dreißig Minuten nach Wulff: die Kanzlerin live, sie hat verstanden, kurz darauf, ebenfalls live, die Grünen: wir auch! Sie sagen „keine parteipolitischen Spielchen!“, Elmar Theveßen, ZDF, außerdem Terrorexperte, sagt: „keine parteipolitischen Spielchen!“, so heißt das Lieblingsspiel, das immer dann gespielt wird, wenn man den Bürgern sagen möchte: Bitte nicht aufregen, diesmal tun wir es nur für die Sache. Ehrlich! Polit-Berlin atmet auf. Endlich gelten wieder die alten Spielregeln.

Beseelt, fast schon beglückt

Berlin Mitte kehrt aus den unendlichen Weiten zurück, in denen es sich verirrt hatte in dieser Wulff-Sache, in der nichts mehr zu stimmten schien. Ein Zurückgetretener, der nicht zurücktreten wollte, die „Bild“-Zeitung als journalistischer Leuchtturm, Leser, Zuschauer und Wähler, die zwar verstehen, dass es da ein Problem gibt mit Wulff, aber nicht, wo denn da das Problem sein soll, denn so machen es doch alle, die Politiker. Und die Medien sowieso.

Am Rücktrittstag, dem Tag, der den Tiefpunkt der Politik- und Medienverachtung markieren könnte, fühlen sich Politik und Medien endlich wieder im Lot. Wolfgang Kubicki von der FDP sagt, Hauptsache eine schnelle Lösung, und Gauck sei doch so etwas wie ein gemeinsamer Präsident. Das findet die Panel-Mannschaft auch. Cem Özdemir findet, er muss sagen, dass es sich nicht um eine Krise von Parteien und Politik handele. Im ZDF fragt Theo Koll eine Kollegin, die vor dem Schloss Bellevue steht, wie lange die Wulffs denn da jetzt noch wohnen dürfen. Er lächelt, wirkt beseelt, fast schon beglückt darüber, dass er wieder Fragen  stellen kann, die man beantworten kann. Hatten wir schließlich schon, so etwas. Gottseidank. Alles wie früher. Und da es lange nicht mehr so war, fällt besonders auf, was nicht stimmt. Die Routine, die bei Journalisten und Politikern wieder einkehrt, ist die eines Betrunkenen, der sich am Tresen festhält, damit es so aussieht, als ob er noch klar stehen könnte. Dabei ist der Pegel ziemlich hoch: Friedrich Küppersbusch sagt, wenn ein Politiker in einer Talkshow auftritt, wird nicht nur die ganze Sendung um 15 Prozent schlechter bewertet, sondern alles, sogar die Deko und das Licht.  „Da, wo kein Politiker sitzt, wirkt die Krawatte 15 Prozent besser.“
 
Jörg Schönenborn fleht am Vorabend der Rücktritts in den ARD-Tagesthemen die Zuschauer an: Bitte glaubt uns, das war wirklich keine Medienkampagne!

Empörung statt Erklärung

Das stimmt zwar, bedeutet aber nicht, dass das Ganze nicht trotzdem auch ein großes Medienversagen war. Empörung statt Erklärung. Irgendwann kapierte niemand mehr, was das für Grenzen waren, die Wulff da andauernd überschritten hat oder haben soll. Und wo ist überhaupt dieser Rubikon? Die „FAZ“ hatte auf einer ganzen Seite „normale“ Menschen wie Müllfahrer und Pflegekräfte danach befragt, was sie an Vergünstigungen so annehmen dürfen, und was passiert, wenn sie etwas nehmen, das sie nicht annehmen dürfen.

Aber niemand hat sich die Mühe gemacht, einmal systematisch darzustellen, wie in anderen Ministerien und Staatskanzleien mit ähnlichen Vorfällen umgegangen wird. In sechzehn Landesregierungen und einer Bundesregierungen sitzen Minister und Ministerchefs, die auch täglich mit Interessenvertretern, Reisen, Geschenken und so was zu tun haben. In Deutschland gibt es hunderte Minister a.D. mit Ministergesetz-Erfahrung, die relativ frei reden könnten. Wie läuft, wie lief es denn da? Ganz praktisch? Ist es üblich, Anmerkungen über eine eine mögliche Befangenheit in Bezug auf Landesbürgschaftskandidaten mit grüner Tinte auf einen Vermerk zu kritzeln? Was sagt das aus? Fast alle Politiker haben Freunde in der Wirtschaft, wie händeln die das? Wenn ein Ministerpräsident eine Veranstaltung besucht, wo ist die Grenze zwischen „privat“ und „geschäftlich“? Wie wird sie dokumentiert? Wann ist es anrüchig, dass ein Veranstalter Reisekosten für einen Politiker bezahlt, der auf seiner Veranstaltung auftritt? Wann wird es schwer, zu beurteilen, was richtig ist? Wann ist ein Bobby Car  mehr als ein Bobby Car? Kann der niedersächsische Ministerpräsident privat überhaupt ein anders Auto fahren als eines von VW / Audi, und ist es beim Fahren eines Vorserienmodelles nicht eher eine Leistung die Wulff gegenüber der Marke erbringt als umgekehrt?

Wir wissen jetzt alles über Wulff

Heide Simonis sagt bei Markus Lanz, sie hätte als Ministerpräsidentin jedes Jahr eine Kiste Wein bekommen, die sie dann unter ihren Mitarbeitern verteilt hätte. Das sei’s gewesen. Wulffs Nachfolger als Ministerpräsident, David McAllister, sagt, er mache lieber Urlaub an der Nordsee als auf Ibiza. Fast alle großen Zeitungen haben das gedruckt. Wem hilft diese Information? Ist es überhaupt eine? Die Medien haben in der Wulff-Sache alle paar neue Tage Vorkommnisse aus einer Welt berichtet, die fast niemand kennt. Sie haben weitgehend versagt, als es darum ging, Orientierung zu geben, einzuordnen. Es reicht nicht zu sagen, dass etwas schlimm ist, man muss auch erklären, warum. Wir wissen jetzt alles über Wulff.  Aber nichts mehr über Politik. Zumindest nichts mehr, was wir glauben möchten.

Ein Bundespräsident tritt zurück. Die Staatsanwaltschaft ermittelt. Frau Merkel hat „Respekt“.  Die Bürger wissen: ein hohles Wort. Nie wussten sie das so gut wie heute. So wie „Transparenz“. Oder besser, „Wahrheit“. Und jetzt?

Bei Phoenix werden Mails von Bürgern vorgelesen, die Namen vorschlagen für die Nachfolge Wulffs. Friedrich Nowottny sagt, dass sei doch ein schönes Zeichen für die öffentliche Teilhabe der Bürger. Prost!

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