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Die perfekte Journalistenausbildung

Die Digitalisierung öffnet Gräben: zwischen Ausbildnern und Studis, zwischen der Branche und den Journalistenschulen, zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Eine journalistische Ausbildung mit Zukunft muss diese Gräben schließen. Nur wie? Unsere Autorin Alexandra Stark hat da eine Idee.

«Du musst sofort etwas tun!», forderten die drei aufgebrachten Studentinnen, die kürzlich in der Morgenpause in mein Büro gestürmt kamen. «Das geht gar nicht!» In Rage gebracht hatte sie der Dozent für Medienethik. «Was der erzählt hat nichts mit dem Alltag zu tun, wie wir ihn tagtäglich in unseren Redaktionen erleben!»

«Oh je», dachte ich mir. «Nicht schon wieder die Alltags-Keule!» Als Zuständige für die Multimedia- und Online-Angebote in der Grundausbildung am MAZ, der Schweizer Journalistenschule, kenne ich dieses Argument nur zu gut. Da heisst es dann zum Beispiel: «Ich muss nicht für Online schreiben lernen, das macht bei uns die Online-Redaktion.» Oder: «Fotografieren? Wozu? Ich arbeite beim Radio!»

Ich kann die Perspektive unsere Studierenden gut verstehen: Als Absolventinnen und Absolventen unseres Diplomstudiengangs arbeiten sie zwei Jahre lang fest angestellt als Volontärinnen und Volontäre in Redaktionen. Sie sind als vollwertige Mitglieder der Redaktion in den Alltag eingebunden und identifizieren sich sehr mit ihrem Job und ihrer Redaktion. Ihr Arbeitgeber, der in den meisten Fällen die zwischen umgerechnet 17 000 und bis zu 26 000 Euro teure Ausbildung finanziert, schickt sie für insgesamt 90 Kurstage ans MAZ. Als von der Branche getragene Institution sind unsere Kurse stark auf den Alltag ausgerichtet, wir stellen keine Dozierenden fest an, sie arbeiten alle als Journalistinnen und Journalisten und garantieren in ihrem Spezialgebiet einen engen Bezug zur Praxis. 

Hat der Alltag immer recht?

Das Herz unserer Studierenden schlägt also für den Alltag – ihren Alltag. Dass dieser durch die Konvergenz schon bald ganz anders aussehen oder das Schicksal sie in eine andere Redaktion oder gar in eine andere Mediengattung verschlagen könnte, scheint für viele Studierende nicht wirklich eine Option zu sein. Normalerweise zettle ich, wenn Studierende in mein Büro stürmen, sofort eine Grundsatzdiskussion an: Wessen Problem ist die Kluft zwischen dem, was wir an der Schule vermitteln und dem, was in den Redaktionen passiert? Ist es wirklich allein das Problem der Schule? Oder vielleicht doch (auch) des Alltags?

In den letzten Jahren habe ich beim Versuch, digitale Gräben zuzuschütten oder zumindest Brücken darüber zu bauen, unzählige solcher Diskussionen geführt. Als Studienleiterin mit einem 50%-Pensum genau so wie als Expertin für Change-Prozesse in Redaktionen, die ich als Selbständige seit bald zehn Jahren begleite. Ich begann, mich mehr und mehr zu nerven. Denn bei Journalisten hat der Alltag immer recht und dient als perfekte Entschuldigung, warum sie gerade keine Zeit haben, sich mit anderen Dingen wie zum Beispiel der digitalen Zukunft zu beschäftigen.

Umso wichtiger ist es, dass ausbildende Institutionen eine klare Haltung zu dieser Frage entwickeln. Wer hat mehr Recht, der Alltag oder die Zukunft? Das brachte mich auf die Idee: Diese Gräben sind nichts anderes als der Ausdruck von Zielkonflikten. Auf der einen Seite der Anspruch des operativen (wohlbekannten) Alltags, auf der anderen der strategischen (ungewissen) Zukunft.

Zielkonflikte nutzen statt aussitzen

Warum also nicht diese Zielkonflikte nutzen, um weiterkommen. Seit bald drei Jahren sammle ich deshalb nun Zielkonflikte, mit denen sich ausbildende Institutionen beschäftigen müssen (unten finden Sie diejenigen, die mit der Digtalisierung eng verknüpft sind).

Die Zielkonflikte habe ich absichtlich als ODER-Fragen formuliert. Die Antworten werden natürlich immer auf eine UND-Lösung herauslaufen, die aber zwischen den beiden Extremen gewichtet werden müssen. Mit einer ODER-Frage wird aber das Spannungsfeld möglicher Ansätze besser sichtbar.

«Puh, wie banal!», werden Sie sich vielleicht beim Lesen der Fragen denken. Leider ist ganz vieles total banal. Trotzdem wird es nicht beherzt. Beantwortet man die Fragen aber, zeigt sich, dass die Antworten weitreichende Konsequenzen haben, die alles andere als banal sind: bei den Kursinhalten, bei Dozierenden, bei der Infrastruktur, der Organisation, etc.

Q1 – Für jetzt oder für später?
Bilden wir unsere Studierenden für den heutigen Alltag aus oder für die Zukunft (wie wir sie uns vorstellen)?

Q2 – Agieren oder reagieren?
Sollen unsere Studierenden ihren Job gut machen können oder sollen sie selber aktiv den Journalismus weiter vorantreiben können / wollen?

Q3 – Als Gatekeeper oder «Sensemaker»?
Vermitteln wir unseren Studierenden ein Rollenbild als Gatekeeper oder als Sinnstifter? Oder anders gefragt: Soll Journalismus (um Jeff Jarvis zu zitieren) ein Produkt sein oder ist Journalismus nicht doch eher eine Dienstleistung?

Q4 – Relevanz oder Reichweite?
Was sollen Journalisten im Kopf haben, wenn sie ein Thema bearbeiten? Die beste journalistische Umsetzung? Oder die maximale Wirkung?

Q5 – Journalistische Kernwerte oder Arbeitsmarktfähigkeit (Haltung oder Handwerk)?
Sollen wir unsere Studierenden auf journalistische Kernwerte verpflichten oder sicherstellen, dass sie für eine Vielzahl von Jobs geeignet sind? Anders gefragt: Sollen sie als «reine» Journalistinnen und Journalisten ausgebildet werden oder auch PR lernen?

Q6 – Spezialisten oder Allrounder?
Bilden wir unsere Studierenden als Spezialisten (einer Mediengattung, eines Genres, eines Themas) aus oder können sie von allem ein bisschen etwas?

Q7 – Festanstellung oder Selbständig?
Bereiten wir unsere Studierenden auf eine Karriere in einem Medienhaus vor oder auf ein Leben als Freie oder Freier?

Q8 – Praktiker oder Experten / Akademiker?
Sollen unsere Studierenden von Leuten unterrichtet werden, die in der Praxis arbeiten oder von solchen, die den Journalismus beobachten und untersuchen?

Q9 – Innovatoren oder Nachzügler?
Sollen wir unseren Studierenden jede neue Entwicklung vermitteln oder warten wir, bis sich etwas etabliert hat? Oder anders gefragt: Treiben wir die Entwicklung oder übernehmen wir Bewährtes?

Q10 – Schule oder Labor?
Vermitteln wir Bewährtes oder lehren wir, Neues zu schaffen?

Haltung immer wieder alltagstauglich machen

Die meisten Antworten werden natürlich sowohl-als-auch lauten. Jede ausbildende Institution muss die Frage beantworten, wo sie sich genau im Spannungsfeld positioniert. Denn Journalistenschulen tun gut daran, ihr Profil immer wieder zu schärfen und es auf seine Alltagstauglichkeit zu überprüfen. Ein Beispiel: Journalistische Kernwerte und Grundhaltungen sind für uns am MAZ nicht verhandelbar. Der Umkehrschluss, dass wir deshalb darüber nicht dauernd reden müssen, ist aber trotzdem nicht richtig. Denn diese Werte müssen in die sich immer schneller verändernde Welt übersetzt werden – als Prozess, der nie mehr fertig sein wird.

Wir werden deshalb in Zukunft Entwicklungen in der Journalistenausbildung mit unserem journalistischen Selbstverständnis spiegeln und kommentieren, Forderungen an die Ausbildung reflektieren und Einblick geben in unsere Schlussfolgerungen, um sie mit der Branche und unseren Studierenden zu diskutieren. Das hat auch beim eingangs erwähnten Medienethik-Kurs prima funktioniert. Nachdem die Positionen geklärt waren und man sich einig war, dass das gemeinsame Problem grösser ist als die trennenden Positionen, verliefen die restlichen Tage dann reibungslos.

Schauen Sie doch mal vorbei: www.maz.ch/zukunft-der-journalistenausbildung


In einer zehnteiligen Serie widmet sich VOCER gemeinsam mit dem Medienmagazin journalist der Zukunft der Journalistenausbildung. Lesen Sie hier das daraus entstandene Dossier.

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