„What the frack is going on?“
Ende Juli 2008 rief Stephen Engelberg, der Chef vom Dienst von „ProPublica“, den Chefredakteurr Rex Smith der „Times Union“ in Albany an, der Tageszeitung in der Hauptstadt des Staates New York. „ProPublica“ ist ein Büro für investigativen Journalismus in New York, das damals die Arbeit aufnahm und kaum bekannt war. Engelberg sagte Smith, „ProPublica“ recherchiere seit Wochen gemeinsam mit dem öffentlichen Radio „WNYC“ in New York eine Geschichte über umweltschädliche Gifte bei Bohrungen nach Gas. Betroffen seien Regionen im Staat New York.
Der Gouverneur werde dazu in der folgenden Woche ein Gesetz erlassen, das Schäden in Kauf nehme. Man könne belegen, dass die Kontrollbehörde unzureichend vorbereitet sei und die Gesetzgeber unzureichend informiert habe. Ob Smith die Geschichte drucken wolle. Er könne sie haben – umsonst, aber er müsse sie drucken, bevor der Gouverneur das Gesetz erlasse. Chefredaktor Smith sagte zu. Er habe sofort verstanden, dass er ein solches Angebot nicht ausschlagen könne, erklärte er seinen Lesern.
Die beiden Reporter Abrahm Lustgarten („ProPublica“) und Ilya Marritz („WNYC“) hatten gemeinsam in Albany recherchiert. Um Wirkung zu erzielen, boten sie die Recherche der „Times Union“ an, schließlich wird die Tageszeitung von den Gesetzgebern gelesen. Die Zeitung brachte die Enthüllung auf Seite eins, mittags lief sie im Radio; am Abend veröffentlichte „ProPublica“ den Text auf ihrer Website.
Ein Song zur Enthüllung
Es war die zweite Enthüllung von „ProPublica“. Inzwischen hat Lustgarten zum Thema Grundwassergefährdung durch sogenanntes Fracking mehr als 150 Texte veröffentlicht. „ProPublica“ habe in die Recherchen zu Fracking im Laufe der Jahre mehr Energie und Geld investiert als in ein anderes Thema – seit 2008 mehr als 250 000 Dollar, sagt Richard Tofel, der geschäftsführende Redaktor. „ProPublica“ wählte dabei einen ungewohnten Ansatz und vereinfachte das Thema auf wenige Zeilen, die zudem gesungen sind. Der Refrain lautet: „What the frack is going on?“ und „My water is on fire tonight“.
Stellt das Lied die Kapitulation vor einem komplexen Sachverhalt dar? Biedert sich „ProPublica“ ans junge Publikum an? Keineswegs, sagt Tofel. Das Lied sei eine von mehreren Produktionen, die komplexe Sachverhalte einem großen Publikum näherbringen und dessen Interesse auf komplizierte Enthüllungen lenken sollten.
Ein Broadway-Song und ein Comic über toxische Finanzpapiere sind weitere ungewöhnliche Beispiele dafür, wie investigative Journalisten mit ihren Enthüllungen Aufmerksamkeit suchen. Für die Recherche „The Wall Street Money Machine“, die 2011 den Pulitzerpreis erhielt, wirbt eine Melodie aus dem Musical „The Producers“: „We got a bet against the American Dream.“
Für „ProPublica“ liegt das Kriterium für eine gute Geschichte in der Wirkung, die sie erzielt. Hat die Veröffentlichung Aufmerksamkeit für ein Problem geschaffen? Kann investigativer Journalismus das Leben verbessern?
Der Glaube daran ist alt. Nachdem Präsident Richard Nixon 1974 wegen der Enthüllungen der Watergate-Affäre hatte zurücktreten müssen, war der investigative Journalist der Held der amerikanischen Gesellschaft. Aber die Euphorie ist verklungen; die Medien und mit ihnen der Journalismus stecken selbst in der Krise. Bei „ProPublica“ herrscht Zuversicht, im Geiste von Watergate Aufklärung betreiben und der Demokratie dienen zu können.
Der Kampf um die Aufmerksamkeit bleibt ein hartes Geschäft. Jeden Tag veröffentlicht „ProPublica“ zwei bis fünf Texte, die jeder kostenlos nachdrucken darf. Allerdings sind darunter jährlich nur 20 bis 40 große Enthüllungen, von denen wiederum sechs bis zehn wirklich Einfluss nehmen. Chefredakteurr Paul Steiger spricht von „major stories“ und „major impact“. Die meisten seien zugleich „hard-sell stories“ wie die Texte über Fracking, also schwer ans Publikum zu bringen und schwer zu verdauen. Daher die Experimente mit Musikvideos.
Der Journalist Paul Williams hat das Problem bereits vor dreißig Jahren in seinem Buch „Investigative Reporting and Editing“ thematisiert: Wenn eine Enthüllung folgenlos bleibe, dann liege das oft nicht an der Apathie der Leser, sondern am Versagen des Reporters. Eine Investigation sei gescheitert, wenn es der Journalist nicht verstehe, den Bürgern klarzumachen, worum es eigentlich gehe, schrieb Williams 1978. Williams wandte sich mit seiner Kritik besonders gegen Enthüllungen, die auf nur einer einzigen Quelle beruhten.
Kooperation mit Universität
„ProPublica“ hat deshalb 2010 eine Kooperation mit der New York University (NYU) begonnen. Die Studenten sollten erkunden, wie „ProPublica“ vor allem junge Leute auf komplexe Geschichten aufmerksam machen kann. So kamen sie auf die Darstellung in Broadway-Songs, Musikvideos und Comics. „Time“ bezeichnete das Musikvideo als eines der kreativsten des Jahres 2011.
Die Studenten der NYU betonen in einem Statement: „Die besten Erklärstücke sind direkt, knapp und einfach zu verstehen. Auf investigativen Journalismus trifft selten eine dieser Beschreibungen zu. Stattdessen spiegelt er die Unordnung des wahren Lebens wider. Deshalb stellt das Erklärstück nur den Beginn dar, ein Tor in die Tiefe, für die man „ProPublica“ schätzt und respektiert.“ Der Song verstehe sich nicht als Ersatz für die Enthüllungen. Er sei als Anreiz gedacht, tiefer einzusteigen.
Im April 2010 gewann „ProPublica“ als erstes Online-Magazin einen Pulitzerpreis (und war für einen zweiten nominiert); die ungewöhnlich umfangreiche Geschichte über unerlaubte ärztliche Sterbehilfe für Opfer des Hurrikans „Katrina“ in New Orleans war im Magazin der „New York Times“ erschienen. Die Kosten der einjährigen Recherche, immerhin 400.000 Dollar, teilte man sich mit der „New York Times“. Alleine hätte die „Times“ die Recherchen nicht finanzieren können, sagt Gerald Marzorati, ehemaliger Chef des Magazins. Die Veröffentlichung löste eine Diskussion darüber aus, wie weit Ärzte in Notfällen gehen dürfen, und beeinflusste die Gesetzgebung.
Hatte Paul Steiger 2007 befürchtet, die „New York Times“ und andere große Zeitungen und Fernsehsender würden davor zurückschrecken, die Geschichten eines Zulieferers zu veröffentlichen, so galt es fortan als Ehre, von ihm ein Angebot zu erhalten. Inzwischen hat „ProPublica“ Hunderte von Geschichten veröffentlicht, darunter viele gemeinsam mit der „New York Times“, der „Washington Post“, der „Los Angeles Times“, den Fernsehsendern „CBS“, „CNN“ und „NPR“ – kurz: mit allen, die im amerikanischen Journalismus Rang und Namen haben. Ungewöhnlich ist die häufige Kooperation mit Radiosendern: „ProPublica“ produzierte rund 100 Stücke gemeinsam mit Lokalsendern des öffentlichen US-Radios oder der „BBC“.
„ProPublica“ erarbeitete sich eine Position und eine Leserschaft, die es dem Büro erlauben, Geschichten auch ohne Partner zu veröffentlichen. Wäre „ProPublica“ eine Zeitung, rangierte ihre Website mit ihrer Leserschaft an achter Position in den USA. Die Redaktion beschäftigt derzeit 38 Journalisten, darunter Spezialisten für Daten-Journalismus und Recherchen in sozialen Netzwerken; sieben weitere Mitarbeiter sind zuständig für Sekretariat, Verwaltung, Technik und Public Relations. Rund sechs der zehn Millionen Dollar des Jahresbudgets fließen in die Gehälter der Journalisten. „ProPublica“ ist damit die mit Abstand größte und bestfinanzierte investigative Redaktion in den USA.
Gut entlohnt
Bei „ProPublica“ ist alles ein paar Nummern größer: die Zahl der Reporter, die Ambitionen, die Erfolge – aber auch die Gehälter. Paul Steiger hat 2006 als Chefredakteurr des „Wall Street Journal“ 540.000 Dollar verdient. Als Chefredakteurr von „ProPublica“ erhält er nun mit Zuschlägen mehr als 590.000 Dollar, wie aus der Steuererklärung hervorgeht. Qualitätsjournalismus und Glaubwürdigkeit seien eben teuer und verlangten erstklassige Leute mit Erfahrung und erstklassigen Kontakten, heißt es bei „ProPublica“. Richard Tofel rechtfertigt das hohe Gehalt von Steiger damit, dass er ausschlaggebend für den Erfolg sei. Tofel erhielt übrigens 347.000, Engelberg 376.000 Dollar.
In Zeiten der Medienkrise ist „ProPublica“ wichtig wegen der Geschichten, die das Büro recherchiert; ebenso wichtig ist das Signal, das es an Journalisten und die Öffentlichkeit sendet: Weit mehr als 10.000 Journalisten haben seit 2008 in den USA ihren Job verloren. Oft traf es die erfahrenen und teuren investigativen Reporter als Erstes.
„ProPublica“ avancierte zum Vorbild für zahlreiche kleinere Organisationen dieser Art im ganzen Land. „California Watch“, „Texas Tribune“ und eine Reihe ähnlicher Büros seien „Zeichen der Hoffnung“. Aber die neuen Organisationen könnten die Lücken allenfalls auf nationaler Ebene füllen, sagt Tofel. Im Lokalen „können die neuen Organisationen nicht einmal annähernd das ersetzen, was durch die Krise verloren geht“. Aber ausgerechnet da werde vieles entschieden. Immerhin stellt „ProPublica“ Ergebnisse der Recherchen Journalisten zur Verfügung, damit sie die Möglichkeit haben, Daten lokal auszuwerten. So regte eine Recherche über Dialyse zu rund 70 Lokalgeschichten an.
Stiftungen als Ergänzung
Alex Jones, Leiter des Shorenstein Center an der Harvard-Universität, zweifelt, dass Stiftungen die beste Lösung bieten für die Probleme der Krise. Ihr Budget sei zu gering im Vergleich zu dem, was an Anzeigen verloren gehe. Er sagt, die Antwort auf die Krise müsse eine kommerzielle sein.
Fast 50 Millionen Dollar hat „ProPublica“ bisher ausgegeben – das meiste Geld kam vom kalifornischen Unternehmerpaar Herbert und Marion Sandler, ohne das es „ProPublica“ nicht gäbe. Von Beginn an begleitete „ProPublica“ die Sorge, vom Geld der Sandlers abhängig zu sein. 2009 konnte „ProPublica“ eine Million Dollar von 1000 Spendern einwerben, 2010 immerhin 3,5 Millionen von 1300 Spendern und 2011 5 Millionen Dollar von 2600 Spendern. In diesem Jahr will „ProPublica“ sechs der zehn Millionen Dollar des Jahresbudgets von anderen Stiftungen (Gates, Ford, Knight, Open Society und andere) und Privatleuten einwerben, so dass die Sandlers nurmehr vier Millionen Dollar dazugeben.
Paul Steiger, 69, kündigte im Mai an, dass er ab 2013 kürzertreten werde und seine beiden engsten Mitarbeiter – Richard Tofel (55) und Stephen Engelberg (54) – gemeinsam seine Nachfolge antreten würden. Rückblickend sagt Steiger: Was vor fünf Jahren vielen als rätselhafte Vorstellung erschienen sei, werde inzwischen mehr und mehr akzeptiert. Die Leute verstünden, dass investigativer Journalismus teilweise durch Philanthropie finanziert werden müsse. Und Tofel sagt: „Wir sind seit der Gründung 2008 sehr viel weiter, als wir damals erwartet hätten.“
Dieser Text erschien zuerst in der „Neuen Zürcher Zeitung“.
Mehr zu „ProPublica“ auf VOCER: Stephen Engelberg im Interview über News-Apps und die Erfolge des Redaktionsbüros.