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Suizid im Netz

In den letzten zehn Jahren hat die Organisation von Suiziden über das Internet eine neue Dimension erreicht. Die psychologische Betreuung im Netz und eine Aufklärung der Eltern ist wichtiger denn je.

„Dauert es noch lange, ich muss bald auf die Arbeit!“ Diese Frage stellt 2010 ein Mitglied in einem Suizidchat an einen jungen Schweden (21), der gerade vor laufender Chat-Kamera seinen Selbstmord angekündigt hat. Wenige Minuten später ist er tot. Auch heute noch chatten täglich tausende von jungen Menschen in dem schwedischen Portal. Ein 19-Jähriger aus den USA droht im Jahr 2008 ebenfalls vor laufender Kamera, sich mit einer Überdosis Tabletten umzubringen. Auch er wird bejubelt und angefeuert. Obwohl aufmerksame User versuchen, noch rechtzeitig die Polizei zu rufen, kommt für den Jungen jede Hilfe zu spät.

Gruppendynamik macht das Aussteigen schwer

Auch sogenannte Gruppenmorde hat es in den letzten Jahren häufiger gegeben. Ein 20-jähriger Norweger machte sich in einem Chat auf die Suche nach jemandem, der mit ihm zusammen Suizid begehen wollte. Aus mehreren Bewerbern wählte er eine 16-jährige Österreicherin aus, mit der er wenig später von dem 600 Meter hohen Kliff Prekestolen in den Tod sprang. Und auch in Japan gibt es immer wieder Meldungen über Jugendliche, die sich zu einem Gruppenselbstmord verabreden. Im Jahr 2004 kam es zu einem Suizid von zweier verschiedener Gruppen, die sich zwar räumlich voneinander getrennt befanden, den Suizid aber zur selben Zeit begingen. Durch die Vernetzung im Internet sind solche Aktionen leicht zu planen und umzusetzen. An dieser Stelle spielt die Gruppendynamik eine große Rolle. Ist man allein, kann man sich jederzeit umentscheiden. Doch in der Gruppe könnte man als feige oder unloyal gelten. Der Diplom-Sozialpädagoge Gerd Storchmann von der Jugendhilfsorganisation Neuhland e. V. sagt dazu: „Sobald man in Gesellschaft von jemand anderem ist oder sich in einer Gruppe von mehreren Leuten befindet, gibt es diese Gruppendynamik. Wenn sich jemand um entscheiden möchte, hat derjenige eigentlich keine Wahl mehr.“

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Beratung für Eltern und Lehrer

Diese Fälle zeigen, wie wichtig es ist, sich auf die Betroffenen einzulassen. „Die Jugendlichen wollen zunächst keine Lösung für ihr Problem“, erklärt Gerd Storchmann. „Es ist wichtig, die Gefühle des Betroffenen ernst zu nehmen und darauf einzugehen, das Problem nachzuempfinden. Dann muss man signalisieren, dass das Gegenüber nicht verrückt oder wertlos ist. Wenn man das gemacht hat, gibt es einen Kontakt, eine Beziehung. Anschließend kann man weitergehen und über Lösungen sprechen.“ Organisationen wie der Verein Neuhland e. V. oder Youth-Life-Line unterstützen ratsuchende Jugendliche, die suizid-gefährdet sind. Sie bieten einen geschützten Raum und professionelle Ansprechpartner. Von den Gefühlen ihrer Kinder wissen viele Eltern nichts. Daher ist es wichtig, gerade diese direkt anzusprechen. Was viele nicht wahrhaben wollen: Suizidgedanken bei Jugendlichen sind nichts Ungewöhnliches. Neuhland e. V. bietet unter anderem Informationsveranstaltungen für Eltern und Lehrer an, in denen sie erklärt bekommen, wie man kontrolliert und sensibel mit dem Thema umgehen kann.

Suizidforen können nicht alle geschlossen werden

Auf der Log-in-Seite eines Suizidforums heißt es: „Aufrufe zur (gemeinsamen) Selbsttötung sowie jeglicher Waffen- und Medikamentenhandel sind strengstens untersagt und werden gelöscht, sobald die FM (Forum-Moderatoren) darauf aufmerksam werden. Links, die zu Seiten führen, die für den Suizid relevante Produkte anbieten (Chemikalien o. Ä.), werden gelöscht.“ Die Durchsetzung dieser Richtlinien erscheint fraglich, wenn man einen Blick in die Beiträge wirft.

Am 26.Dezember 2011 beginnt Leo zu schreiben:

<Leo>
Hallo miteinander…Ich denke ich packs nicht mehr bis zum neuen Jahr. Meine Frage an Euch (besonders an Schwefel). Schlinge um den Hals, auf den Ast setzen und 500mg Valium einschmeißen. Knockt mich die Dosis weg? Lieber wäre mir in die schlinge gleiten als zu fallen, aber ich denke da wird mich Valium nicht genug ins Land der Träume schicken ohne das ich etwas mitbekomme. Das Diazepam hab ich vorrätig.

<Kira>
Hi, kommt immer ganz drauf auf an…1) Wie schwer bist du auf welche größe? Geschlecht? 2) Hast du vorher was gegessen? 3) Bist du an starke Medikamente gewöhnt?

<Leo>
185 cm auf 85 kilo (m). Nein, esse momentan wenig. Ich habe benzo erfahrung und 2 mal entzug gemacht. Momentan nehme ich aber keins.

<H2SO4>
Moin Leo, nen halbes gramm Valium legt auch den gewöhntesten user schlafen. das problem ist der moment wo es anfängt zu wirken bis du dann schlaff ins seil rutscht. […] andererseits nimmt dia natürlich einiges an paras und an „unbehagen“ wenn das seil sich zuzieht. wenn die schlinge richtig liegt kann man noch fast völlig frei weiteratmen obwohl das blut schon abgeklemmt ist, […] von jämmerlich ersticken bis mit dachschaden überleben alles drinne. […]

<Leo>
Vielen Dank für die Antworten. Vorallem an Schwefel. Also wird mich das Diazepam nicht wegknocken. Ziel ist es ja das Erhängen nicht mitzubekommen. Kannst Du etwas anderes empfehlen? Ausser Barbiturate, die ziemlich schwer zu bekommen sein dürften. Das einzige was mir einfällt wäre noch GBL. Aber das Zeug vertrag ich überhaupt nicht. […]

Letzter Eintrag am 13. Januar 2012:
<Leo> Danke Dir Schwefel! Hab jetzt mal ein kleines Stück des Pflasters probiert. Das haut ganz schön rein.

Im gesamten Verlauf erhält Leo weitere Tipps und Möglichkeiten für seinen Suizid. Nach seinem letzten Eintrag vom 13. Januar kann man nichts mehr von ihm lesen. Ob der Junge noch am Leben ist, ist schwer zu sagen.

illustriert von Jan Christiani © stadtlichh

Wieso schließt man nicht einfach Foren, in denen zum Selbstmord angeregt wird? Die Antwort ist so einfach wie enttäuschend. Die Schließung ist in manchen Fällen unmöglich, da sich die Betreiber im Ausland befinden und von Deutschland aus nicht belangt werden können. Durch die Deutsche Gesellschaft für Suizidprävention konnten dennoch schon viele Foren und Chats geschlossen werden. Grundsätzlich verteufelt werden sollten Suizid-Foren jedoch nicht. Sind die Foren konstruktiv, können sie sogar Leben retten und bieten zudem oftmals einen geschützten und anonymen Raum, in dem Jugendliche zum ersten Mal offen über ihre Gefühle reden.


Illustriert von Jan Christiani. Dieser Beitrag ist zuerst im STADTLICHH Magazin, Ausgabe #7, erschienen.

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