
Sieben Wege zum digitalen Qualitätsjournalismus
„Im Digital der Ahnungslosen“ – das ist der Vorwurf, der dem Journalismus, speziell dem Print-Journalismus, des Öfteren gemacht wird – wie erst kürzlich Anfang Juni bei der so übertitelten Jahrestagung der Journalistenvereinigung Netzwerk Recherche. „Digitale Ahnungslosigkeit“? Ja, das stimmt vielleicht ein bisschen, wenn man an die eher willkürlichen Investitionen der Verlage im vergangenen Jahrzehnt oder an die immer noch weit verbreitete räumliche Trennung von Print- und Online-Redaktionen denkt.
Aber richtig ist auch, dass wir längst dem Stadium entwachsen sind, in dem das Internet als Feind des Print-Journalismus gesehen wurde. Vielmehr hat die Digitalisierung zu einem grundlegenden Sinneswandel in vielen deutschen Verlagen geführt: Online wird inzwischen als Innovationstreiber Nummer eins gesehen, auch wenn die problematische Finanzierung nach wie vor ein Hemmnis für Investitionen in originäre journalistische Arbeit darstellt.
Allerdings liegt der Medienstandort Deutschland in Bezug auf die Innovationsbereitschaft noch deutlich hinter einigen ausländischen Pressemärkten wie den USA oder Großbritannien zurück. Bahnbrechende Neuerungen sind wohl erst dann zu erwarten, wenn sich die Branche auch bei den Erlösmodellen experimentierfreudiger zeigt. Es wird zurzeit in vielen Bereichen noch gekleckert statt geklotzt. Nur wie lange werden sich die Verleger das noch leisten können?
Der Print-Journalismus steckt zwar nicht mehr so tief in der Bredouille wie noch vor zwei oder drei Jahren, soviel steht fest. Aber die Herausforderungen und Potenziale, die sich unter dem Vorzeichen der Digitalisierung fast zwangsläufig ergeben, wurden in den Verlagen bei weitem noch nicht überall erkannt, geschweige denn akzeptiert. Im Gegenteil herrschen immer noch Skepsis und eine gewisse Innovationsträgheit. Aber auf Nummer sicher gehen war gestern, heute geht es um Wagnisse und Experimente – und zwar um jeden Preis!
Frank Schirrmacher, einer der fünf FAZ-Herausgeber, sprach kürzlich in einem Interview im Rahmen des Reporterforums 2012 von der abnehmenden Wertschätzung gegenüber dem Journalismus und einer drohenden „Entwertung von geistiger Arbeit“, weil Texte einen indirekten Wert hätten, für den niemand aufkommen wolle. Ich halte das für einen stark verfrühten Kulturpessimismus, den ich überhaupt nicht teile, zumal heute mehr gelesen und geschrieben wird als jemals zuvor. Im Gegenteil: Ich glaube, wir stehen am Wendepunkt – in eine neue Epoche des Qualitätsjournalismus unter digitalen Vorzeichen, die uns ungeahnte Möglichkeiten verspricht.
1. Liquid Journalism
Erste These: Wir müssen akzeptieren, dass sich die Aggregatsformen des Journalismus wandeln. Auch wenn das Modewort der Liquid Democracy durch die Piratenpartei in Deutschland momentan in aller Munde ist, halte ich seine Übertragung auf den Medienbereich nicht für weniger zulässig: Journalismus, das ist in den digitalen Welten zu beobachten, wird von seiner Konsistenz her flüssiger, das heißt vor allem im Netz geht es zunehmend um neue, spannende Mischformen von „direktem“ und „indirektem“ Journalismus.
Es gibt einen fließenden Übergang zwischen dem, was ein kluger Medienkopf einmal als journalistische Einbahnstraßenkommunikation gescholten hat, und dem, was heute über neue Interaktionsformen mit dem Nutzer möglich ist, also das Prozesshafte im Journalismus. Man könnte das – in Anlehnung an Mark Deuze und andere Sozialtheoretiker – auch „Liquid Journalism“ nennen, weil auch hier – ganz ähnlich wie in der Politik – technologische Innovationen eine immer größere Rolle spielen: Soziale Bewertungssysteme und das Abstimmungsverhalten im Netz – also das Liken, Sharen, Tweeten – ermöglicht es Journalisten, ihre Inhalte aufgrund des Nutzer-Feedbacks vollkommen neu zu beurteilen, entsprechend zu reagieren und diese Rückmeldungen gegebenenfalls in ihre Arbeit zu integrieren.
Radikalisiert und sich zunutze gemacht hat sich diesen organischen Journalismus unter anderem die linksliberale Wochenzeitung „Der Freitag“, auf deren Website die Leserschaft nicht nur eifrig kommentiert und miteinander Diskussionen ausfechtet, sondern wo regelmäßig eine Auswahl von Beiträgen der „Freitag“-Community nach redaktioneller Bearbeitung auf der Website erscheinen und bei entsprechender Qualität auch in der gedruckten Ausgabe veröffentlicht werden.
Das bedeutet, dass der Journalist nicht mehr ausschließlich derjenige ist, der uns als solitärer Interessensvertreter der Gesellschaft die Welt erklärt, sondern dass er sich immer stärker zum Moderator und Verwalter einer solchen Many-to-many-Kommunikation wandelt. Der Blogger Richard Gutjahr hat das kürzlich noch einmal sehr gut pointiert – er sagte: „Wir alle befinden uns in einem einzigen soziologischen Experiment, in einer Übergangsphase. Womöglich brauchen wir nicht noch mehr Information, sondern Leute, die den Informationsstrom filtern.“
Das Filtern kann auch durch die direkte Beteiligung der Community geschehen, zum Beispiel bei der Themenfindung oder in Form von kollaborativen Recherchen – zu neudeutsch Followerpower. Die Leserbeteiligung ist also durchaus vergleichbar mit den aktuell diskutierten Formen einer durchlässigeren Parteiendemokratie, wo sich Entscheidungen als ein ständig sich im Fluss befindlicher Abstimmungsprozess gestalten.
2. Creative Newsroom
Damit zusammen hängt – zweite These -, dass sich der Journalismus die arbeitsteilige Ausgliederung von Produktions- und Kreativprozessen an nicht-professionelle Akteure stärker zunutze machen muss, um zu reüssieren. Darin äußert sich also nicht nur die Idee vom journalistischen Rückkanal als Stimmungsbarometer. Es geht eher darum, konsequent eine journalistische Praxis zu etablieren, bei der bestimmte Leistungen des journalistischen Systems gezielt und projektbezogen an die Nutzer delegiert werden.
Den Nutzen, den Verlage bisweilen aus diesem Konzept des Crowdsourcing ziehen, dürfte recht unterschiedlich sein – was kein Wunder ist, denn auch die Motivation der Leser ist sehr unterschiedlich. Nach aktuellem Stand der Innovationsforschung werden idealtypisch vier Gruppierungen unterschieden: die Gruppe der passiven Konsumenten (Passive Consumer), die Informationen lediglich konsumieren, sich aber in keiner Weise beteiligen möchten; die Gruppe der Kommentatoren (Commenters), die regelmäßig Kommentare und Rezensionen zu journalistischen Beiträgen posten oder auf irgendeine andere Art reagieren; die Netzwerker (Networkers), die sich über Kommentierungen hinaus als Mitglieder der jeweiligen Community mit anderen vernetzen; und die Gruppe der Kreativen (Creators), die sich aktiv an umfangreicheren Recherchen oder an der Erstellung von Inhalten beteiligen, indem sie Fotos, Videos und Blog Posts ins Netz stellen.
Um die zugeschriebenen Leistungs- und Partizipationsrollen dieser unterschiedlichen Gruppierungen zu verstetigen, denkt man in einigen Verlagen anstelle von herkömmlichen Newsrooms nun über die Installation so genannter Creative Rooms nach, die man sich wie eine Kommandobrücke vorstellen muss: als großen offenen Raum mit vielen Bildschirmen, in dem von unterschiedlichen Arbeitsinseln der Austausch mit den verschiedenen Nutzer-Taskforces koordiniert wird.
Ziel solcher Kreativlabore ist es, neben der Hoffnung auf einen möglichst reibungslosen Workflow innerhalb der Redaktion und in Kollaboration mit der Community auch einen mundgerechten Journalismus für alle technischen Endgeräte und über alle Genres und Formate hinweg zu produzieren. Eingeführt hat diese Schnittstelle zur Community in einem Modellversuch bisher übrigens der „Boston Globe“ mit dem erklärten Ziel, seinen Input und Output effizienter zu organisieren.
3. Community Building
Meine dritte These stützt sich auf den Gedanken des Community Buildings – und zwar nicht als Kommentarghettos gemeint, sondern als echte Vergemeinschaftung: Der digitale Journalismus hat eine Chance für Redaktionen geschaffen, die Bürger an die eigene Medienmarke zu binden, und zwar durch eine Fokussierung ihrer Berichterstattung auf der thematischen, aber auch auf der lokalen Ebene.
Entscheidend ist, dass der Community-Begriff einmal im Hinblick auf die geografische Lage mit Fokus auf Kommunen, Stadtteile oder sogar einzelne Straßen und Wohnblocks, zum anderen auch im Hinblick auf bestimmte Interessen und Themen verstanden werden kann. Es geht beim Community Building also um eine Stärkung der Identität im Lokalen. Dabei punkten lokale Medien mit exklusiver Berichterstattung und geben ihre Chronistenpflicht zu Ereignissen in aller Welt auf, die häufig ohnehin zum ewiggleichen Agenturmeldungs-Einerlei führt.
Maßgeblich für den direkten Kontakt zwischen Bürgern und Reportern, die für ihre Zeitung unterwegs sind, ist auch die verstärkte Nutzung mobiler Endgeräte, mit denen die Journalisten nicht nur Texte, Videos und Tondokumente schneller herstellen, sondern diese auch „live“ über das Internet verbreiten können; die Arbeit dieser mobilen Journalisten (MoJos) mit Smartphones, Tablets und Web-Applikationen bedeutet auch, dass die Reporter über die Vermittlung von Geodaten in so genannten Location Based Services wie Foursquare für die Probleme der Bürger direkter greifbar und ansprechbar sind.
Angebotsseitig geht es also auch darum, sehr viel stärker Bezug darauf zu nehmen, wo sich Reporter und Nutzer gerade aufhalten. In Deutschland gibt es mehrere Redaktionen, die solche MoJos beschäftigen, zum Beispiel die „Rhein-Zeitung“ in Koblenz.
4. Transmedia Storytelling
Um gerade jüngere Leserschichten wieder für Zeitungsinhalte zu begeistern, müssen Zeitungen ihre Inhalte neu inszenieren und über mehrere Plattformen begleiten lernen. Der von dem Medienwissenschaftler Henry Jenkins geprägte Begriff des „transmedialen Storytellings“ beschreibt ein neues Erzählphänomen als Folge der Dezentralisierung von Informationen. Im Idealfall können Content-Produzenten somit über ein- und denselben Inhalt systematisch mehrere publizistische Absatzmärkte abgrasen.
Bisher beschränkt sich diese Idee allerdings vor allem auf nicht-journalistische Stoffe. Bekannt ist das Prinzip von verfilmten Büchern, aus deren Geschichten begleitend zum Kinofilm Video-Games produziert werden, Comics, Fernsehserien und Internet-Plattformen zum Austausch für die Fans aufgebaut werden.
Das klingt daher erst einmal wie eine Utopie, ist aber bei näherem Hinsehen schon jetzt für den Journalismus sichtbar: Wenn wir uns die Entwicklungen der App-Technologie näher anschauen, erkennen wir, wie sich diese narrativen Neukonstruktionen bereits auf den Print-Journalismus übertragen haben. Über Apps lassen sich – als Ergänzung zum Print- und TV-Angebot – zusätzliche Features implementieren, die über das Gedruckte hinausgehen, zum Beispiel ein ergänzendes Video zum Print-Interview, eine Audio-Slideshow mit neuen O-Tönen oder eine interaktive Flash-Grafik begleitend zur Reportage. Zum Beispiel hat „Wired“ nach der anfänglichen Phase überflüssiger Spielereien nun sehr gute Ansätze gefunden, für seine App-Ausgabe essentielle Zusatzinformationen zu schaffen, und zwar ohne das Printprodukt zu schwächen.
Das App-Geschäft ist zwar vorerst nicht der Heilsbringer, von dem alle Verleger träumen. Oder anders gesagt: Apps werden erst einmal nicht zu den primären digitalen Info-Quellen. Allerdings ist die Abgeschlossenheit von Apps wie bei Druckerzeugnissen ein unschätzbarer Vorteil, weil sie den Gewohnheiten der Leser stark entgegenkommt.
Der publizistische Mehrwert des transmedialen Storytellings lässt sich so jedenfalls für die kommenden Jahre leicht weiterdenken, etwa in Form von datenjournalistischen Anwendungen oder News-Games, bei denen die Nutzer selbst zu Mitwirkenden in einer journalistischen Story werden.
5. Datenjournalismus
Es ist zwar das neue Buzzword unserer Branche, aber: Datenjournalismus eröffnet tatsächlich eine vollkommen neuartige Nutzwertdimension des Journalismus.
Denn es handelt sich um eine Recherche- und Darstellungsform, bei der große Datenmengen – Statistiken von Behörden, Bilanzen, Klima- oder Wirtschaftsdaten etc. – von Journalisten verdichtet und visualisiert werden. Dieser Trend ist zwar nicht neu – Daten wurden immer schon von Journalisten ausgewertet -, aber in der Kombination von Visualisierung und Zugang zu komplexen Datensätzen erhält der Datenjournalismus eine demokratierelevante Dimension, weil Bürger erstmals ihre eigenen Geschichten in den Daten finden können.
So hat die Redaktion von „ProPublica“ eine interaktive News App mit dem Namen Dollar for Docs erstellt, anhand derer Nutzer prüfen können, welche Ärzte in welchen Städten der USA sich für Studien oder Vorträge von der Pharmaindustrie haben bezahlen lassen. Der Nutzer kann also nachvollziehen, ob der eigene Hausarzt darunter ist.
Auch die „New York Times“ bezahlt inzwischen über 40 Mitarbeiter, die sich in der Abteilung Interactive News ausschließlich um die Aufbereitung solcher Daten kümmern. Das eigentlich Revolutionäre ist nicht, dass Daten nur Teil der journalistischen Recherche sind, sondern dass „Journalisten der Öffentlichkeit den Zugang zu ihren Rohdaten geben, damit sie ihre eigenen Geschichten darin finden können“, wie Aaron Pilhofer, der Chef der Abteilung sagt. Es handelt sich also um ein völlig neues Verständnis von Nutzwertjournalismus.
Auch „Zeit Online“, „Spiegel Online“ und „Süddeutsche.de“ experimentieren schon etwas länger mit diesen Tools, „Süddeutsche.de“ wurde für das datenjournalistische Projekt „Zugmonitor“ sogar für den Grimme Online Award nominiert.
6. Team-Ups
Team-Up wird normalerweise in der amerikanischen Comic-Szene die Verbrüderung zweier Superhelden im Kampf gegen das Böse genannt – so will ich das auch übertragen auf den Journalismus verstanden wissen, meine sechste These lautet daher: In den Redaktionen müssen interdisziplinäre Teams aus Video- und Print-Journalisten, Rechercheuren, Programmierern, Gestaltern und Illustratoren gebildet werden, die eine gemeinsame publizistische Idee verfolgen.
Erst kürzlich hat „Zeit Online“ angekündigt, dass Techniker und Redakteure in den kommenden Wochen einen gemeinsamen Newsroom beziehen. Egal ob es um transmediales Storytelling, Datenjournalismus oder nutzwertige Applikationen geht – es gibt einige Dinge, die viele Journalisten nicht von Haus aus beherrschen und vielleicht auch niemals beherrschen werden. Da erscheint es viel sinnvoller, sich in Teams zu organisieren, um verschiedene Kompetenzen zu bündeln. Weil auch Print-Journalisten zunehmend komplexere Themen und Projekte bearbeiten, müssen sie mit sich nicht nur mit diesen anderen Gewerken arrangieren, sondern sich mit ihnen gemein machen, um auf unterscheidbare und erstklassige Inhalte hinzuarbeiten.
Natürlich gibt es radikale Ansichten, wie die von Shazna Nessa, Chefin der Interaktivabteilung bei AP. Sie ist der Auffassung, dass „Journalisten ohne Programmierkenntnisse selbst die simpelsten Dinge nicht mehr machen können“. Diese Aussage steht jedoch im krassen Widerspruch zur Realität: Coden und Hacken ist bei den meisten Journalisten bisher kein geläufiges Handwerkszeug, ebenso wenig wie Web-Design- und CMS-Kenntnisse.
In den USA gibt es inzwischen eine ganze Bewegung von Journalisten, die sich zu Programmierern ausbilden lassen möchten – beispielhaft dafür ist der neue Studiengang Computer Science and Journalism an der elitären School of Journalism der Columbia University. Unter der Leitung von Emily Bell, der ehemaligen Digitalchefin des britischen „Guardian“, werden dort in zwei Jahren die ersten 15 Absolventen mit einem doppelten Abschluss als Journalisten und Software-Ingenieure die Universität verlassen. Ob sie stärker gefragt sein werden als normale Absolventen, ist schwer zu sagen. Aber schaden kann eine Technikaffinität mit Sicherheit nicht. Zumindest stellt die „New York Times“, aber auch andere amerikanische Qualitätsblätter in einigen Ressorts neuerdings vorzugsweise Redakteure mit Programmierkenntnissen ein.
7. Innovationslabore
Um journalistische Produkte zu entrümpeln und aufzupolieren, bieten sich – so meine siebte These -Kooperationen mit Hochschulen an, die mit ihrem Journalistennachwuchs frischen Wind in die Redaktionen tragen können. Kleinere Innovationslabore gehören heute so selbstverständlich in das moderne Verlagsbild wie einst die so genannten „Entwicklungsredaktionen“. Sie können nicht nur wichtige Impulse geben, sondern auch gegenseitige Lerneffekte fördern.
Das bestätigt auch der „Innovationsreport Journalismus“ (Weichert/Kramp, 2012): Die überwiegende Mehrheit der Befragten glaubt, dass auch in Deutschland ein intensiverer Austausch zwischen Verlagen und Hochschulen dazu beitragen könnte, den Medienwandel besser zu bewältigen – vor allem, weil sich viele journalistische Ausbildungszentren (im Gegensatz zu den meisten Redaktionen) durch hohe Flexibilität, ein durch anwendungsorientierte Forschung gestütztes Knowhow und ein immenses Kreativpotenzial auszeichnen.
Auch hier gelten mal wieder die USA als Vorbild, wo beispielsweise der Blogger Jay Rosen an der New York University das studentische Medienlabor „Studio 20“ betreibt. Seine Philosophie dieser Nachwuchsförderung beschreibt Rosen folgendermaßen: „Wir helfen Verlagen und Medienunternehmen, in neue Richtungen zu denken, und unsere Studenten arbeiten an deren konkreten Problemen und Herausforderungen.“ Es sei, so Rosen weiter, schwierig „für ein großes Medienunternehmen, genug Zeit für Innovationen zu finden, wenn es täglich veröffentlichen muss und unter dem Druck redaktioneller Deadlines steht“.
Die Hoffnung, die sich also mit diesen Kooperationen verbindet, ist die einer gegenseitigen Befruchtung, einer Win-Win-Situation für alle Beteiligten. Nur eines von vielen beachteten Beispielen, wo der Innovationsgeist der Studenten gegen einen didaktischen Mehrwert eingetauscht wird, ist die 2009 in Kooperation mit der „New York Times“ gestartete Stadteilzeitung „The Local“. Sie wird in zwei verschiedenen Ausgaben eigener Verantwortung von Journalistik-Studenten der City University of New York und den Teilnehmern des Studio 20 von der New York University in Kooperation herausgegeben und wurde zwei Jahre lang von Redakteuren der „New York Times“ professionell begleitet. Am Jahresende wird die Zeitung ihr Engagement allerdings beenden. „The Local“ versorgt die Stadtteile des Bezirks Brooklyn und das East Village mit News aus der Nachbarschaft. Die „New York Times“ wiederum erreicht damit die Leser in mehreren Stadtteilen, in die sie nicht genügend eigene Reporter schicken kann. Die Studenten werden nicht entlohnt, lernen aber die Arbeit von Reportern und Redakteuren unter realen Bedingungen kennen.
An der Macromedia Hochschule für Medien und Kommunikation in Hamburg habe ich gemeinsam mit meiner Kollegen Carolin Neumann, Redaktionsleiterin von VOCER, ein ähnliches hyperlokales Pilotprojekt in Kooperation mit dem „Hamburger Abendblatt“ ins Leben gerufen, das wir gerade abgeschlossen haben. Bis Ende Juni berichteten Journalistik-Studenten des vierten Semesters über das, was die Bürger im Hamburger Bezirk Wandsbek in ihrem direkten sozialen Umfeld bewegt – ob Sanierungsprobleme, versperrte Fußgängerüberwege oder Ärger mit neuen Parkbegrenzungen.
Die alles entscheidende Frage wird in Zukunft also nicht mehr sein, ob und wie Print stirbt – sondern vielmehr, wie gedruckter und digitaler Journalismus voneinander lernen können, wie Print seine Vorteile ausbauen und besser nutzen kann. Es ist peinlich, meine ich, wenn der europäische und vor allem der deutschsprachige Raum mit seiner langen Pressetradition ständig hinterherhinken und weiterhin nur die Trends aus den USA abgucken würde.
Die Devise muss lauten: Innovieren statt kopieren!
Es passt da eigentlich ganz gut ins Bild, dass es in Skandinavien seit kurzem eine Slow-Cooking-Bewegung gibt, die sich genau das zu Herzen genommen hat und einen eigenen Stil kreiert hat. Es handelt sich um einen Gegenentwurf zur over-hippen Molekularküche der neunziger Jahre, die mit viel Hokuspokus, hysterischen Rauch- und Knalleffekten eher optisch als geschmacklich von sich Reden machte. Im hohen Norden, mitten im Nirgendwo, hat sich also nun diese Kaste junger Köche gebildet, deren Vertreter größten Wert auf die Verbindung von erstklassigen regionalen Zutaten, handwerklich anspruchsvoller Zubereitung und unverfälschten Geschmack legt – also so ziemlich das genaue Gegenteil von dem, was die Molekularküche mit ihren Spielereien erreichte.
Das Motto der innovativen Jung-Köche von René Redzepi über Bo Bech bis Frederik Andersson lautet: „Back to the Roots“ und „Down to Earth“. Diese jungen Wilden glauben, dass „kulinarische Reinheit den Verzicht auf alles Überflüssige bedeutet“ (Andersson). Sie wollen die Gaumen ihrer Gäste in der Konzentration auf das Wesentliche schulen, wollen ihnen die Grundlagen guter Küche vermitteln, sie für Qualität sensibilisieren und auf vergnügliche Weise einbeziehen. René Redzepi, der in Kopenhagen das Sternerestaurant Noma betreibt, hat diesen Ansatz neulich in der Zeitschrift „Beef!“ folgendermaßen zugespitzt: „Kaviardosen öffnen kann jeder. Aus 159 Sorten Meerrettich was zu machen – darum geht’s.“
Erfrischende Inspiration für den Print-Journalismus
Ich glaube, dass dieses kulinarische Motto – weg von der Überheblichkeit, zurück zur Leidenschaft – nach all den Jahren der technisch-publizistischen Spielereien und der hohlen Journalismus-Poesie auch eine erfrischende Inspiration für den Print-Journalismus sein kann.
Zeitungen haben eine große Zukunft vor sich – wenn sie sich auf die Zukunft einlassen. Doch die Zugeständnisse von Print an das Internet-Zeitalter dürfen auch nicht zu einer Belastung werden. Viel zu lange hat man sich in zu vielen Verlagen auf zu viele Kompromisse eingelassen, die irgendwo zwischen falsch verstandener Gelassenheit und seelenlosen Retorten-Produktionen anzusiedeln waren. Dabei wurde jedoch sträflich vernachlässigt, mit wahrer Leidenschaft und Liebe unverwechselbare Produkte und Inhalte zu entwickeln.
Es mag sein, dass guter Journalismus – genauso wie die wahre Kunst des Kochens – nicht aus sich selbst heraus entsteht. Man muss, um im Bild zu bleiben, einen trainierten Gaumen entwickeln, wenn man in der Topgastronomie mitmischen will. Die Suche nach einer goldenen Zukunft des Journalismus muss daher in seinem Innersten – bei seinen Werten und Traditionen – beginnen.
Dieser Essay ist eine leicht gekürzte Fassung einer auf der Generalversammlung des Verbands Österreichischer Zeitungen in Wien gehaltenen Rede.