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Wozu noch Journalismus?

Aufstiegschancen, Selbstverwirklichung und eine abwechslungsreiche Arbeit – was der Journalismus früher Berufseinsteigern bot, wird mehr und mehr zur Seltenheit. Sind jetzt wieder die Idealisten am Zug?

Anfang Mai 2010 war ich auf Einladung des Studienkollegs zu Berlin zu einem Stipendiatentreffen eingeladen. 30 deutsche und internationale Studenten kamen zusammen, um sich von Vertretern aus Politik, Wirtschaft und Kultur erklären zu lassen, wie deren Job im Alltag aussieht, wie ein Einstieg möglich ist und wie es um die Perspektiven in der jeweiligen Branche bestellt ist. Ich war als Vertreter der Medienbranche anwesend.

Einige Stunden zuvor hatte ich über Facebook auf die Veranstaltung hingewiesen und bemerkt, ich sei gespannt, wie viele gut ausgebildete und international denkende junge Menschen sich überhaupt für Journalismus interessieren. „Hoffentlich keiner“ hatte kurz darauf ein Freund unter meinen Eintrag eine Bemerkung gepostet. Ich fragte nach: „Wieso ‚hoffentlich‘?“ – „Weil“, so antwortete mein Facebook-Freund, es für „gut ausgebildete und international denkende junge Menschen“ überhaupt nur etwa 100 Jobs in der Medienbranche gäbe.

Comeback der Idealisten

Es stimmt schon: Heute stehen die Chancen, einen herausfordernden, vielseitigen und dazu ordentlich bezahlten Job als Journalist zu bekommen, der auch Aufstiegsperspektiven bietet, nicht zum Besten. Nicht nur das: Allein der Einstieg in den Beruf ist in vielen Fällen an Selbstausbeutung gekoppelt. Wie viele Praktikanten und freie Mitarbeiter für wenig oder gar kein Gehalt mit ihren Beiträgen dafür sorgen, dass die Medien von morgen überhaupt in vollem Umfang gedruckt oder gesendet werden können, lässt sich nur vermuten.

Ein ganz neues Phänomen ist das freilich nicht. Das Angebot an Arbeitskraft im Journalismus hat die Nachfrage schon immer überstiegen. Die Bewerbungen für Journalistenschulen und Volontariate waren schon in den wirtschaftlich guten Zeiten um ein Vielfaches höher als die tatsächlich vorhandenen Plätze. Und doch – es hat sich etwas gedreht. Denn Journalismus ist für viele potenzielle Bewerber, die noch vor einigen Jahren ohne zu zögern eine Karriere in einem Medienunternehmen angestrebt hätten, kein Karriereberuf mehr. Vor allem vielversprechende Absolventen, die sich früher in Alphatier-Manier auf Posten als Ressortleiter und Chefredakteure Hoffnungen machen konnten, meiden inzwischen den Journalismus, wechseln auf gut dotierte Stellen in Unternehmensberatungen, Agenturen für Kommunikationsdienstleistungen oder Public Affairs. Diese Entwicklung vollzieht sich parallel zu einem Brain Drain aus dem Journalismus heraus zu den genannten Arbeitgebern. Dem Journalismus werden also gleichzeitig Leistungsträger entzogen und deren möglicher Ersatz wird ihm erst gar nicht zugeführt.

Nun, mag man da einwenden: Um so besser! Wenn die Ehrgeizlinge weg sind, haben die Idealisten wieder eine Chance. Diese These ist vielleicht gar nicht so abwegig, wie sie auf den ersten Blick aussieht. Journalismus braucht Menschen, die es nicht nur auf Karriere und Prestige abgesehen haben. Dennoch ist deutlich spürbar, dass wir uns mitten in einer Fehlentwicklung befinden. Nicht wenige Manager in Medienunternehmen manövrieren sich – aus vielerlei Gründen, zu denen Sparzwänge, aber gelegentlich auch Ignoranz gehören – in Sackgassen. Redakteure werden in ihren Berechnungen zu Content-Befüllern, wo sie eigentlich hochqualifizierte Analysten, Rechercheure und Ermittler sein sollten. Das Knowhow, das viele Journalisten über ihre Berufsjahre hinweg aufbauen, wird von ihren Charts nicht erfasst.

Human Resources werden vernachlässigt

Dabei ist dieses Wissen um das lebendige Kapital, die „Human-resources“ eines Unternehmens, gerade für ein journalistisches Medium überlebensnotwendig. Jede Recherche, jedes Interview, auch jede Dienstreise, jede Fortbildung und jeder Auslandsaufenthalt steigern dieses Humankapital. Denn Medien sind vor allem große Wissensspeicher, die es je nach Themenlage anzuzapfen gilt. Derweil ist es teilweise schockierend zu sehen, wie wenig Medien ihre eigenen Mitarbeiter fördern. Wer weiß, wie beispielsweise Unternehmensberatungen ihr Personal hegen und pflegen, sieht sich in der Medienbranche einer personalpolitischen Ödnis gegenüber.

Dazu kommt verschärfend, dass so manche Journalisten an der Spitze von Elitemedien den eben prognostizierten Brain Drain nicht so schnell wahrnehmen wie ihre Kollegen bei weniger prestigeträchtigen Medien. Sie bekommen ohnehin nur immer die im Casting-Verfahren durchgesiebte Schar der Top-Nachwuchskräfte präsentiert. Darum ist es nicht entscheidend, dass es noch genügend Bewerber für immer knapper werdende Ausbildungsstellen als klassisches Einfallstor in den Journalismus gibt. Wichtiger ist die Frage, wen es heute von vorne herein gar nicht mehr in den Journalismus führt, welche Talente der Branche also schlicht durch die Lappen gehen. Und damit sind wir wieder bei den eingangs erwähnten Stipendiaten: Das Interesse, Beiträge zu publizieren, war bei ihnen durchaus vorhanden. Ein wirkliches Anliegen, bei einem Medienunternehmen zu arbeiten, schien aber nur eine einzige Stipendiatin zu haben.

Es ist letztlich kein Zufall, wenn die Akademie der Axel Springer AG mit der Verheißung „Traumberuf Journalist“ um Ausbildungsplätze wirbt. Auch dort gehen Tausende von Bewerbungen um wenige Plätze ein, eine spätere Übernahme wird in der Regel nicht garantiert. Aber die Medien merken, dass es wichtig ist, um die richtigen Bewerber zu kämpfen. Sie müssen beim Verteilungskampf um die High Potentials nicht nur im Management, sondern auch bei den Journalisten einsteigen, denn sie bekommen nicht mehr automatisch die Besten eines Jahrgangs zugeführt, ohne dass sie dafür den Finger krumm machen müssen. Ihr Bonus – eine mehr als abwechslungsreiche Arbeit und die Chance, sich schnell mit hoher Außenwirkung zu profilieren – ist abgelaufen.

Qualitätsjournalismus von morgen erfordert heute exzellenten Nachwuchs

Die Charakteristika des Qualitätsjournalismus sind vor allem: Ein Beitrag ist selbst recherchiert, er bezieht sich auf eigene, möglichst verschiedene Quellen und er beschäftigt sich im weitesten Sinn mit gesellschaftsrelevanten Themen. Wenn diese Art von Journalismus eine Zukunft haben soll, muss der Kampf um diese jungen Absolventen geführt und gewonnen werden. Wo die Welt in der Wahrnehmung der Menschen fast täglich komplexer wird, sind mehr denn je Erklärungs-, Einordnungs- und Analysekompetenzen gefordert.

Die Medien leben von Nutzern, die für ihre Produkte bezahlen, und Werbeeinnahmen von Unternehmen, die diese Nutzer erreichen wollen. In der Printmedienbranche gehen die Käuferzahlen kontinuierlich zurück – und damit auch die Vertriebserlöse und letztlich die Werbeerlöse, die sich in der Regel nach Reichweite bemessen. Diejenigen Leser aber, die „ihren“ Medien heute weiter ihre kostbare Aufmerksamkeit schenken, sind diejenigen, die am schärfsten darauf achten, dass sie für ihr Geld weiterhin relevante Inhalte geliefert bekommen. Sinkt die Qualität, werden auch sie früher oder später abwandern. Es setzt sich eine qualitative Abwärtsspirale in Gang, die schwer aufzuhalten sein wird.

Eine der zurzeit international erfolgreichsten Zeitschriften ist der 1843 gegründete britische „Economist“. Ähnlich erfolgreich ist das Nachrichtenmagazin „Spiegel“ seit vielen Jahrzehnten, wenn auch hauptsächlich auf den deutschsprachigen Markt beschränkt. Nun muss, kann und sollte nicht jeder Journalist Redakteur dort werden. Aber: Von diesen Medien lernen, heißt Journalismus erfolgreich zu praktizieren. Denn nur die Investition in die klügsten und leidenschaftlichsten Nachwuchskräfte kann ein weiteres Abrutschen der Medienunternehmen verhindern. Nur, wenn Medien sich zu lebendigen Wissensspeichern wandeln, haben sie bei dem Orientierung suchenden Publikum eine Chance.

Die Antwort auf mein Posting bei Facebook hätte also in jedem Fall „hoffentlich viele“ lauten müssen. Der Zynismus hat im Augenblick aber Vorfahrt.

Ein zweiter Grund, warum ein Zufluss an exzellentem Nachwuchs wichtig ist, betrifft die Binnenstruktur des Journalismus. Für die meisten der heute Zwanzigjährigen, die in den Journalismus gehen wollen, wäre es unvorstellbar, nicht im Internet ihre Beiträge schreiben zu können. Das Printmedium ist und wird ein Prestigemedium für sie bleiben, in dem auch sie gerne veröffentlicht werden möchten. Doch die Möglichkeit, sich ohne Druck und Vertrieb an ein Publikum wenden zu können, und direkt von diesem Rückmeldungen zu erhalten, ist für sie ein essentieller Teil des Berufs. Journalismus ist kein Kanal, kein spezielles Medium, hat keinen Aggregatszustand. Journalismus ist eine Aufgabe, ein Prozess.

Online bald profitabler als Print?

Die Journalistengenerationen, die vor dem Durchbruch des Internet als Massenmedium ihre Ausbildung genossen und erste Redaktionserfahrungen sammelten, wurden noch in der alten Hierarchie sozialisiert, in der Print- und Onlinewelt sorgfältig voneinander getrennt waren. Wer in der Onlineredaktion arbeitete, hatte weniger Ansehen und das schlechtere Gehalt. Das ist in vielen Medienunternehmen noch immer so. Diese ungesunde Hierarchie kann nur so lange existieren, wie gedruckte Medien profitabel und digitale Medien defizitär sind. Ändern sich die Vorzeichen, wofür alle Indikatoren stehen, übersteigen einmal die teuren Druck- und Vertriebskosten die Einnahmen, gibt es keinen Grund mehr, überkommene Strukturen aufrecht zu erhalten.

Es ist viel geschrieben worden über den Verlust der Deutungshoheit der Printmedien im Zeitalter von Blogs und Social Media. Das sind wichtige Hinweise, aber sie spielen für den Journalismus meines Erachtens keine so große Rolle, wie immer getan wird. Die großen Geschichten, die Breaking News, die Hintergründe, Reportagen und Interviews finden zum großen Teil immer noch in den Mainstream-Medien statt – bei Zeitungen und Zeitschriften, bei den (öffentlich-rechtlichen) TV- und Radiosendern, auch bei deren Online-Ablegern. Ausnahmen bestätigen die Regel. Mehr Vielfalt gibt es heute durch das Netz, das ja. Auch viel mehr Meinungen und Analysen.

Vielfach beziehen sich Beiträge in diesen neu entstandenen Medienformaten, zu denen auch solch gepriesene Websites wie die „Huffington Post“ in den USA gehören, auf das, was andere bereits publiziert haben. Das ist nicht außergewöhnlich, das ist normales journalistisches Geschäft und selbstverständlich. Das digitale Anti-Establishment ist eine Ergänzung zur klassischen Medienbranche. Ob „Huffington Post“ oder „Washington Post“ – beide Daseinsformen spielen im selben Team, wenn auch auf anderen Positionen. Die teilweise zwanghaft konfrontative Gegenüberstellung zweier Modelle des Journalismus – offen und digital gegen geschlossen und analog – war ein Irrweg, eine Art Täuschungsmanöver, die von den tatsächlichen Aufgaben abgelenkt hat, vor der Journalismus heute steht.

Journalismus muss sich neu entdecken

Und genau diesen Journalismus, der integrativ und nicht ausgrenzend wirkt, gilt es nun in eine inhaltlich und ökonomisch tragfähige Zukunft zu führen. Dazu ist es wichtig, dass Barrieren aufgebrochen werden, ein neues Selbstverständnis entwickelt wird. Journalismus muss sich keineswegs neu erfinden, aber er muss sich neu entdecken.

Neben vielen internen Prozessen können auch Impulse von außen helfen. Apples iPad könnte beispielsweise ein solcher Impuls sein. Nun soll es nicht darum gehen, ein einzelnes Produkt in den Himmel zu loben oder dieses nach Art mancher Kollegen zum mythischen Gerät zu verklären. Das iPad steht vor allem für ein Vehikel, das Medienkonsum aller Art spannender machen kann. War das Internet und die Online-Redaktion vielen Print-Journalisten bisher – trotz der großen Reichweite – nicht fein, nicht ästhetisch genug und nur einen Klick entfernt von unseriösen Inhalten, kann der Typus des Tablet-PC helfen, einen neuen, integrativen Ansatz von Journalismus zu fördern.

Integrativ, das bedeutet: alle arbeiten zusammen an einem und für ein Produkt. Nicht nur Redakteure, auch Designer, Entwickler, Bewegtbild-Spezialisten, Infografiker. Und, nicht zu vergessen: Techniker und Software-Entwickler. Ohne sie wird der Journalismus stecken bleiben auf einer Rotation, die Rost angesetzt hat. Sie müssen gemeinsam neue Erzählformen finden und einen Weg, nicht die immergleichen Themen wiederzukäuen. Differenzierung ist nun wichtig, das Setzen von Kontrapunkten. Ureigene Aufgaben des Journalismus, die teilweise in Vergessenheit geraten sind.

Falls das nicht geschieht, droht die erwähnte Abwärtsspirale. Die Suche nach Lebensfreude im System Journalismus führt zu Mitarbeitern, die über Grenzen hinaus denken. Das klingt pathetisch. Praktischer gesagt: Ein funktionierendes Geschäftsmodell für Qualitätsjournalismus ist auf Menschen angewiesen, die gut ausgebildet sind, die Freude an intellektueller Debatte mit Bodenhaftung haben, die global und lokal zugleich denken können, und die vor allem Spaß in den Beruf mitbringen. Die Menschen, die sich am Beginn eines Tages darüber wundern, was sie an seinem Ende herausgefunden haben werden.


Ursprünglich ist dieses Essay als Teil der „SZ“-Reihe „Wozu noch Journalismus“ erschienen, die auch als Buch erhältlich ist. VOCER veröffentlicht ausgewählte Beiträge in teils leicht aktualisierter Form.

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