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Verkehrte Welt

Wissenschaftler, die ihre Erkenntnisse mediengerecht aufbereiten können, sind rar. In der Publizistik ist das umso schlimmer, wenn Kommunikationsexperten nicht mit dem Rest der Welt zu kommunizieren vermögen. Ein Blick über die Ländergrenzen.

Vielleicht eignet sich das Modell ja zum „Export“: In der Schweiz gibt es unter Verlegern, Medienmanagern und Journalisten zumindest gelegentlich so etwas wie einen Resonanzboden für Erkenntnisse der Medien- und Journalismusforschung. Trotz geschrumpfter Redaktionen und nahezu gänzlich verschwundener Medienressorts finden Forschungsergebnisse ab und an den Weg in die Öffentlichkeit. Anspruchsvolle Mainstream-Medien wie die „Neue Zürcher Zeitung“ (NZZ) oder, bereits deutlich seltener, der „Tages-Anzeiger“ greifen sie mitunter auf.

Gemessen an Deutschland und Österreich schneidet die Schweiz jedenfalls gut ab, was die Sichtbarkeit der Medienforschung in Qualitätszeitungen anbelangt. Zwei Forscherinnen der Universität Wien, Cornelia Brantner und Brigitte Huber, haben es auf der Jahrestagung der deutschen Publizistikwissenschaftler in Dortmund bestätigt [1]. Im Vergleich mit der „Süddeutschen Zeitung“ (SZ) und dem „Standard“ landet die „NZZ“ oben auf dem Siegerpodest: In der „NZZ“ gab es in den Jahren 1999 und 2009 155, in der „SZ“ 105 und im „Standard“ 96 Artikel, die explizit auf Ergebnisse oder Expertenwissen zur Medienforschung eingingen. Während es bei den deutschen und österreichischen Titeln seit 1999 aber einen Aufwärtstrend bei der Artikelanzahl gab, musste die „NZZ“ ihre Berichterstattung aus wirtschaftlichen Gründen reduzieren.

Weiterhin unterscheidet die Schweiz positiv von den Nachbarländern, dass Forschungsergebnisse ab und an öffentlich und kontrovers diskutiert werden. Zwei exemplarische Anlässe seien hier aufgegriffen: zum einen mehrere wissenschaftliche Studien [2], die das Bundesamt für Kommunikation (Bakom) zur Entwicklung der Medien in der Schweiz in Auftrag gegeben hat; und das Jahrbuch zur Qualität der Medien in der Schweiz [3], das Kurt Imhof und seine Mitarbeiter am Forschungsbereich Öffentlichkeit und Gesellschaft erstmals vorgelegt haben.

Dabei hat sich allerdings auch gezeigt, dass es zwischen Kommunikationsforschung und Medienpraxis Missverständnisse zu klären gilt. Die Kritik der Medienpraktiker an den Studien setzt bei der Besorgnis der Forscher um den Zustand der Schweizer Medien ein. Sie sei „zumindest im Augenblick unbegründet“, so Res Strehle, einer der beiden Chefredakteure des „Tages-Anzeigers“.

Von Totengräbern und Zitronenmärkten

Sein oberster Chef Pietro Supino, Verwaltungsratspräsident der Tamedia, legte in einer eigenen Analyse nach. Die These, die in der Schweiz besonders auflagenstarken Gratiszeitungen seien die „Totengräber des seriösen, bezahlten Journalismus“, hält er für falsch, weil „der Wettbewerb die Qualität“ beflügele.

Dieses Argument ist fragwürdig. Denn auf vielen Medienmärkten, zumal bei Zeitungen und im Online-Bereich, erfolgt der Wettbewerb eben kaum noch über die Qualität, sondern über den Preis.

„Markets for Lemons“ – mit diesem Konzept hat der Ökonom George A. Akerlof Märkte umschrieben, auf denen der Qualitätswettbewerb nicht funktioniert, da Käufer sehr viel weniger Informationen über die Produktqualität haben als die Verkäufer, oder die Kunden kein hinreichendes Qualitätsbewusstsein ausgebildet haben. Auf solchen Märkten werden gerne sogenannte Zitronen angeboten, Güter schlechter Qualität. Und sobald Käufer dies realisieren, sind sie ihrerseits nur noch bereit, einen niedrigen Preis zu zahlen. Auf diese Weise sinkt die Zahlungsbereitschaft, und für Anbieter teurer und hoher Qualität verringert sich der Anreiz, für diese Märkte zu produzieren, so dass sich letztlich in einer Spiralbewegung die schlechte Qualität durchsetzt und die gute vom Markt verdrängt.

Methoden und Sprache im Fokus

Erstaunlich schnell sind Praktiker mit dem Vorwurf bei der Hand, wissenschaftliche Studien hätten methodische Mängel. Sie lassen sich in aller Regel auch leicht finden – denn die Forscher selbst sind es ja (jedenfalls, wenn sie seriös arbeiten), die auf die Grenzen ihrer Methodik und die Einschränkungen hinweisen, denen ihre Ergebnisse unterliegen. Andererseits reifen gerade wissenschaftliche Forschungsmethoden immer weiter aus. Praktiker, die sich ohne einschlägige Vorkenntnisse aufs dünne Eis der Methodenkritik begeben, tun das meist ohne hinreichende Begründung.

So auch Supino: Die Forschergruppe um Imhof habe den tatsächlichen Wandel der Medien und der Mediennutzung nicht wahrgenommen. Sie hätte „anhand von teilweise eigenwillig definierten Kriterien eine beschränkte Anzahl Print- und Online-Artikel sowie Radio- und TV-Sendungen aus dem letzten Quartal 2009 ausgezählt“. [3]

Hier sind sich Praxis und Wissenschaft einmal mehr uneins. „Völlig transparent“ seien laut Imhof die Kriterien „Vielfalt, Relevanz, Aktualität und Professionalität“ gemacht worden. Und ohnehin handle es sich dabei um einen bewährten Ansatz der Forschung, „um zum Qualitätsbewusstsein der Macher und Nutzer von Medien beizutragen“.

Gewöhnliche Worte für ungewöhnliche Dinge

Kommen wir zur Sprachkritik. „Man könnte es klarer sagen“ – so brachte Norbert Neininger-Schwarz, Verleger und Chefredakteur der „Schaffhauser Nachrichten“, in einem Artikel für die „NZZ“ auf den Punkt, was ihn an den vom Schweizer Bundesamt für Kommunikation in Auftrag gegebenen wissenschaftlichen Studien zur Entwicklung der Medien gestört hat: „Experten bedienen sich oft einer eigenen, für andere schwer verständlichen Sprache. Dies erwarten wir gerade von Medienwissenschaftlern nicht“.

Im Gegenteil: „Sie sollen, wie dies Schopenhauer forderte, schon ihren Studenten zuliebe gewöhnliche Worte brauchen und ungewöhnliche Dinge sagen“. Dem ist wenig hinzuzufügen – man sollte von Kommunikationswissenschaftlern erwarten dürfen, dass sie nicht nur mit ihresgleichen zu kommunizieren vermögen.

Illustration: Rita Kohel

Illustration: Rita Kohel

Kritik an Medienpraxis und Wissenschaft

Ein Teil der Debatte wurde allerdings so geführt, dass sich vermuten lässt, auf Seiten der Medienpraxis mangle es vorerst noch an Bereitschaft, von der Wissenschaft lernen zu wollen. Jedenfalls ist realistischerweise kaum zu erwarten, dass die Medien selbst ihre blinden Flecken aufspüren. „Man könnte es klarer sagen“ – der Diskussionsbeitrag von Neininger-Schwarz sei „letztlich das Eingeständnis, dass man zwar verstanden hat, sich aber der Diskussion verweigern will“, so fasste später ein Leserbrief schreibender Anonymus seinen Eindruck zusammen.

Andererseits tragen auch die Forscher selbst ihr Scherflein dazu bei, dass sie in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen werden. Leoni Klump spürte in ihrer Magisterarbeit [5] der Frage nach, wie es um den Transfer kommunikationswissenschaftlicher Ergebnisse in die Praxis bestellt ist. Ihre erwartbare Erkenntnis: Die Medien- und Kommunikationswissenschaft habe ein „hochgradig gespaltenes Verhältnis zur massenmedialen Öffentlichkeit“.

Wissenschaftler, die ihre Forschungsergebnisse so den Medien zugänglich machen, dass Journalisten oder gar interessierte Laien daraus Honig saugen könnten, sind so rar wie Sternschnuppen. Die Mehrheit der an deutschen und Schweizer Universitäten tätigen Kommunikationswissenschaftler hat vermutlich noch nie einen Zweispalter geschrieben. Andererseits brauchen aber bekanntlich auch Journalisten, die über Forschungsergebnisse oder Opernaufführungen berichten, keine Qualifikationsnachweise als Wissenschaftler oder Tenöre.

Trotzdem hinkt der Vergleich von Vinzenz Wyss mit den Ornithologen, die selbst nicht fliegen können. Ornithologen sollen nämlich weder den ihnen anvertrauten Vögeln noch ihren Studierenden das Fliegen beibringen – im Gegensatz zu uns Journalistik-Wissenschaftlern, die wir wohl doch nicht nur das Forschen, sondern auch die Praxis des Schreibens, des Darstellens und Vermittelns lehren können sollten. Und zu dieser Praxis gehört nun einmal zielgruppengerechtes Kommunizieren.

Innovative Förderprogramme in der Schweiz

Immerhin: Anders als in Deutschland setzt sich in der Schweiz die Praxis mit der Wissenschaft da und dort auseinander. Unter den Bedingungen der Aufmerksamkeitsökonomie verdichtet sich die Wahrnehmung allerdings jeweils auf eine Handvoll Persönlichkeiten und Institutionen, welche die Schwelle fachöffentlicher Aufmerksamkeit durchbrechen. Das Meiste, was weltweit Tausende Kommunikationswissenschaftler untersuchen und lehren, bleibt selbst dann unterhalb der Wahrnehmungsschwelle, wenn es sich um relevante und innovative Forschung handelt.

Das ist ein ziemlich luxuriöser Umgang mit wissenschaftlicher Arbeit, die meist aus Steuergeldern finanziert wird. Aber vielleicht ändert sich ja auch das allmählich, wenn die Forschungsförderungs-Organisationen andere Anreize setzen. Auch hier wurde jüngst die Schweiz zum Vorreiter: Agora, das neue Förderungsinstrument des Schweizerischen Nationalfonds, unterstützt Forschende darin, den Dialog zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit zu stärken.

Im Rahmen von Scopes, einem Förderprogramm des Nationalfonds zum Ausbau wissenschaftlicher Infrastrukturen in Osteuropa, wurde jüngst ein Projekt bewilligt, das es dem Europäischen Journalismus-Observatorium (EJO) erlaubt, seine Aktivitäten nach Ost- und Südosteuropa auszudehnen und damit künftig im Internet in zehn verschiedenen europäischen Sprachen Befunde aus der Medienforschung der Öffentlichkeit zur Diskussion zu stellen.

Kaum Fortschritt trotz Internet-Revolution

Dennoch, die eigentliche, die ebenso vernichtende wie betrübliche Erkenntnis lautet: Trotz Internet-Revolution, trotz des Zusammenbruchs des bisherigen Geschäftsmodells von Zeitungen, trotz überhand nehmender Öffentlichkeitsarbeit, aber auch trotz Suchmaschinen und sozialen Netzwerken, die den Journalismus verändern, werden Erkenntnisse aus der Kommunikationswissenschaft kaum öffentlich wahrgenommen. Noch nicht einmal Qualitätszeitungen zollen der Medienforschung kontinuierlich Aufmerksamkeit.

Immerhin, das Internet böte die Chance, an den bisherigen Schleusenwärtern vorbei eine interessierte Öffentlichkeit zu erreichen und auf die „blinden Flecken“ der traditionellen Medien aufmerksam zu machen. Ob die Forscher sie endlich nutzen werden?


Einer der Autoren dieses Textes, Stephan Ruß-Mohl, ist Gründer und Leiter des erwähnten Instituts EJO. Eine Langfassung des Essays erschien im Schweizer Jahrbuch „Qualität der Medien“ 2011. Lesenswert zum Diskurs ist auch dieser Artikel des EJO.

[1] Brantner, Cornelia/Huber, Brigitte (2011): Mediating Communications. Quality Media Coverage of Communication Science in Three European Countries. Manuscript, presented at the DGPuK Annual Convention in Dortmund, June 1-3, 2011.

[2] Imhof/Kamber 2010; Keel/Wyss/Stoffel/Saner 2010; Kradolfer/Custer/Künzler 2010; Siegert/von Rimscha 2010; Meier 2011

[3] fög – Forschungsbereich Öffentlichkeit und Gesellschaft (Hrsg.) (2010): Qualität der Medien: Schweiz – Suisse – Svizzera: Jahrbuch. Zürich.

[4] Auf „medienspiegel.ch“ reagiert Kurt Imhof auf die Kritik Pietro Supinos.

[5] Klump, Leoni (2008): Die Medienprofessoren. Die Wissenschaftler der massenmedialen Öffentlichkeit – und ihr Verhältnis zur massenmedialen Öffentlichkeit. Magisterarbeit. Universität Münster.

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