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Seite Eins: „Die Realität ist übertrieben genug“

Die Mechanismen des Boulevard-Journalismus offenbaren sich im Theaterstück „Seite Eins“ als ein gefährliches Geflecht aus Verführung, Druck und Verfolgung. Medienanwalt und VOCER-Kolumnist Ralf Höcker vergleicht Drama und Wirklichkeit.

Am 5. September wird in Gütersloh das Einpersonen-Stück „Seite Eins“ mit Ingolf Lück uraufgeführt. VOCER startete zeitgleich das gleichnamige Dossier, um unterschiedliche Aspekte rund um den Komplex Macht/Medien/Politik aus medienwissenschaftlicher, politischer, juristischer und konkret praktischer Sicht zu beleuchten.
Lesen Sie hier das vollständige Einpersonenstück „Seite Eins“ von Johannes Kram.


Johannes Kram schildert in seinem Stück „Seite Eins“ die Arbeitsweise eines Boulevard-Journalisten, der für eine Tageszeitung über die Sängerin Lea Seeberg und ihre Beziehung zu einem jungen Mann schreibt. Es ist offensichtlich, welche reale deutsche Tageszeitung dem Autor als Vorbild für sein fiktives Blatt gedient hat. Doch man sollte das Stück nicht als eine Auseinandersetzung allein mit den Methoden der Bild-Zeitung missverstehen. Die Mechanismen, die Kram dokumentiert, sind typisch für die gesamte Boulevard-Presse einschließlich der sogenannten „People-Magazine“.

Der Begriff „dokumentieren“ ist dabei bewusst gewählt. Wer das Stück sieht, mag annehmen, dass es die Wirklichkeit in übersteigerter Form wiedergibt. Doch so ist es nicht. „Seite Eins“ muss gar nicht übertreiben. Die Realität ist übertrieben genug. Man denke an Ottfried Fischer, der angab, nur deshalb mit einer Tageszeitung „kooperiert“ zu haben, weil diese ihn mit der drohenden Veröffentlichung kompromittierender Bilder unter Druck gesetzt habe. Beweisen ließ sich dieser Vorwurf nicht, doch Künstlermanager und Medienanwälte wissen, dass derlei „Deals“ im strafrechtlichen Dunkelgraubereich jeden Tag stattfinden. Kram beschreibt sehr präzise wie sie in der Praxis ausgehandelt werden.

Keineswegs unrealistisch ist es auch, dass Reporter Marco seine Protagonistin mit Zuckerbrot und Peitsche dazu bringt, eine frei erfundene „Realität“ als tatsächlich erlebt zu beschreiben. Nichts anderes geschah, als die Bunte eine Zeugin im Kachelmann-Verfahren dafür bezahlte, dass sie ihre polizeiliche Aussage im Exklusiv-Interview nachträglich massiv verschärfte. Auch Ex-Bundespräsident Wulff weiß heute, dass eine „Medienpartnerschaft“ alles ist, nur keine Partnerschaft. Krams Stück lehrt uns, dass es zwischen Journalisten und ihren Berichterstattungsobjekten keine Freundschaft geben kann, sondern allenfalls Zweckbündnisse auf Zeit, in denen jede Seite immer das eigene Interesse im Blick hat.

„Seite Eins“ zeigt auch, was in juristischer Hinsicht geschieht, wenn Menschen daran mitwirken, auf einer Titelseite zu landen: Wer sich selbst öffnet, verliert seine Privatsphäre. Er macht sich selbst zur Person der Zeitgeschichte, deren Privatheitsanspruch mit jedem Interview und jeder Homestory weiter schwindet. Die phrasenhaften Versprechen der Journalisten, dass man „alles vorher lesen“ könne, wenn man ein bisschen aus seinem Privatleben erzähle und dass die Darstellung durchgehend positiv sein werde, helfen dem Proträtierten gar nichts und zwar selbst dann nicht, wenn sie stimmen sollten. Denn es gilt der vielzitierte Döpfner-Satz „Wer mit der Bild-Zeitung im Aufzug nach oben fährt, der fährt auch mit ihr im Aufzug nach unten.“

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