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Renaissance der Druckerschwärze

Printjournalismus wird künftig nicht mehr aussehen wie noch vor einigen Jahren, ist aber deswegen noch lange nicht am Ende. Von „Politico“ bis „The European“ entdecken Onliner im Gedruckten gerade eine neue Nische.

Früher war alles verdammt digital. Früher – das war noch vor drei Jahren. Seitdem ist das gedruckte Wort wieder da. Entschleunigung durch gelegentliches Erscheinen. Schaulust auf dem Coffeetable. Haptik durch Papier.

Es gibt diesen Wunsch nach einer gewissen Balance – weniger auf Monitore zu starren und zu klicken, sondern mehr zu blättern. Auf Papierseiten Ruhe und eine wohlig altmodische Art der Erkenntnis zu finden. Ist das Berühren, das Lesen und das Betrachten von Papier ein Grundbedürfnis – eines, das sich in 560 Jahren seit Gutenbergs Druckmaschine in unseren Genen verankert hat?

Es gibt einige starke Anzeichen dafür. Zum Beispiel gerade frisch verkündet in der Oranienburger Straße 84 in Berlin. Dort erscheint seit dem September 2009 das – noch – Onlinemagazin von Dr. Dr. Alexander Görlach: „The European“. Lukasz Gadowski, Erfinder der Website „Spreadshirt“ und Co-Finanzierer von Görlachs Redaktion, plauderte es schon vor ein paar Wochen im Berliner Club Cookies aus: „Wir werden den ‚European‘ bald drucken.“ Es muss erwähnt werden, dass Chefredakteur und Herausgeber Görlach damit erst einmal unfreiwillig in die Fußstapfen des unseligen Robert Maxwell tritt, der 1990 schon einmal eine Zeitung „The European“ herausgegeben hatte und ein Jahr später verstarb, nachdem er von seiner Yacht gefallen war. Maxwells „European Number One“ wurde später von den Barclay-Brüdern gekauft und vollkommen defizitär im Jahr 1998 geschlossen.

Allerdings brauchen sich Gadowski und vor allem Görlach von dieser Vorgeschichte kaum irritieren zu lassen, denn erstens besitzen sie keine Yachten, zweitens publizieren sie ihren „European Number Two“ in vollkommen anderen Zeiten, in denen europäische Themen Hochkonjunktur haben, drittens gehen sie kein Risiko ein mit (vorerst) nur vier Ausgaben pro Jahr – und, Gott sei Dank, agieren sie ja nicht aus England heraus, sondern von Berlin aus.

Sie folgen damit einem Prinzip, das vor zwei Jahren schon auf der „Rue89“ in Paris erfolgreich getestet worden ist – allerdings in einer etwas anderen politischen Ecke als der „European“: Fünf Journalisten protestierten 2007 gegen die Übernahme ihrer Tageszeitung „Liberation“ durch den Magnaten Edouard de Rothschild. Der verstand die Befreiung anders als sie: runter von Redaktionskosten und weg mit linker Ideologie. Sie gründeten eine eigene Redaktion mit der revolutionären Chiffre 89. Frankreich 1789. Europa 1989. Und das Internet, ebenfalls 1989, denn damals wurde das TCP/IP Protokoll populär. „Eine globale Revolution“, betont Chefredakteur Pascal Riché.

Mitgenommen von „Liberation“ hatten die fünf Journalisten eine Vorliebe für pointierte Texte und anschauliche Illustrationen. „Das passte gut ins Internet. Außerdem hatten wir kaum Geld“, erinnert sich Riché. Also gründete man nur – pardon! – eine Website: „rue89.com“.

Nachdem sie zwei Millionen so genannte page visitors angezogen hatte, etwa mit Skandalgeschichten rund um die Wahl von Präsident Nicolas Sarkozy, entschieden die Gründer im Jahr 2010, mit den Themen der Website eine Monatszeitschrift herauszugeben: „Rue89“. Das Magazin hat sich etabliert. Es ist meinungsstark, farbig, eindringlich – eine veritable Konkurrenz für „Liberation“, wenn auch noch eine kleine.

Viele Thesen sind in den letzten 20 Jahren über die Zukunft von gedruckten Medien aufgestellt worden. Die meisten waren pessimistisch. Bücher, Magazine, Kataloge, Zeitungen – allem wurde das Ende prophezeit. 2006 fragte der „Economist“: „Who killed the newspaper?“ Die Antwort war salomonisch: Das Internet sei der Mörder, aber es verdränge nur das Papier – nicht den Journalismus. Die Macht der vierten Gewalt werde im Netz neu aufblühen. Und das ist ja nicht ganz falsch, wenn man nur an all die Wikis denkt.

Die Massentitel verlieren ihre Masse

Der Medienforscher Philip Meyer, der selber einmal Reporter war, erklärte 2006 in seinem Buch „The Vanishing Newspaper“, dass die Zeitungen langsam ausstürben wie die Marktschreier im Mittelalter. Vor allem der so genannte General Interest, die Berichterstattung über Gott und die Welt, das große Allerlei der Zeitungen, die über Kriege und Tagescremes schreiben – dies alles erscheine schon bald nicht mehr auf Papier, wenn überhaupt irgendwo. Wäre diese Entwicklung eine lineare, es gäbe in ziemlich genau 30 Jahren keine Zeitungen mehr.

Meyers Szenario gleicht einer tödlichen Spirale: Alles wandert ab in die digitalen Medien, erst die Themen, dann die Leser und dann die Werbung. Und tatsächlich verlieren die Massentitel ihre Masse. Das Schrumpfen der gedruckten Auflagen von „Bild“ (minus zwei Millionen) oder „Stern“ (minus eine Million) seit 1990 zeigt es alleine in Deutschland.

Trotzdem gibt es Beispiele für eine Rolle rückwärts: eine Renaissance von Print. Sie wird im Fachjargon „Reverse Publishing“ genannt. In den letzten Jahren erschienen eine Reihe neuer Zeitschriften, die ihre Themen direkt aus dem Internet beziehen.

Offline gehen ohne etwas zu verpassen

„Hacker Monthly“ ist so eine, originell gestaltet und inhaltlich besonders krass. Denn sie richtet sich an Programmierer, die sich auch in gedruckter Form ausführlich über Probleme wie die „diskrete Mathematik“ informieren möchten – nachdem sie darüber bereits im Blog „Hacker News“ lesen konnten. Der Internet-Unternehmer Lim Cheng Soon aus Malaysia, der sich als „Hacker News Junkie“ bezeichnet, hatte dieses monatliche „Best of“ 2010 mit der Begründung geschaffen, dass er „offline gehen können möchte ohne etwas zu verpassen“. Mittlerweilen zahlen rund 4.500 Menschen zwischen 29 und 88 US-Dollar jährlich, um das PDF oder das gedruckte Heft zu bekommen. Die meisten wollen übrigens lieber das PDF und drucken es selber – oder vielleicht doch nicht…

Auch die großen Social-Media-Dienste Twitter, Facebook, Google und Linkedin finden sich seit 2011 in Magazinen wider: Der Verlag GSG World Media macht für jeden Giganten gleich ein eigenes Heft, Auflage: 250.000. Während sich Titel wie „Tweeting&Business“ recht langweilig im FAQ-Stil an Geschäftsleute richten, gründete ein gewisser Bob Fine mit viel Liebe zum journalistischen Detail „The Social Media Monthly“ – ein wirklich schönes Magazin, das viel Beachtung findet, aber das auch dringend Geld braucht. Gerade hat Fine (immerhin!) 22.928 Dollar eingesammelt, per Annonce auf dem Spendenforum „kickstarter.com“. Das Beispiel zeigt, dass die Existenz von – man könnte sie „Cross-over-Medien“ nennen – unsicher ist. Ein deutsches „Ebay Magazin“ wurde 2009 vom Verlag Gruner+Jahr nach wenigen Ausgaben wieder eingestellt.

Reichweite versus Geldregen

„Dass Zeitungen ins Web gehen, ist ein alter Hut. Dass jedoch aus Websites Printtitel werden, das beobachte ich immer häufiger“, berichtet John Wilpers aus Boston. Jedes Jahr schreibt er für den Weltverband FIPP der Magazin-Verleger einen „Innovationsbericht“.

Medien zu drucken und unter die Leute zu bringen, kostet relativ viel Geld. Andererseits bringt Werbung in Magazinen und Zeitungen heute noch deutlich mehr Geld ein als online. Das liegt daran, dass Menschen, die Zeitungen und Zeitschriften kaufen – und hoffentlich lesen -, in der Werbewelt mehr wert sind als Menschen, die Websites besuchen und dort das machen, was im Jargon „verweilen“ heißt. (Wo in Wahrheit intensiver gelesen wird, weiß niemand genau; es gibt darüber unterschiedliche Annahmen.) Fest steht, dass durch ein Online-Medium schneller Bekanntheit erzeugt und das geschaffen werden kann, was Verlagsmanager „Reichweite“ nennen. Zugleich kann sich mit einem Druckmedium schneller Geld verdienen lassen. „Verlage, die beide Vorteile zu kombinieren wissen, gewinnen“, konstatiert Wilpers.

Im Jahr 2000 ging in den USA das Magazin „The Knot“ aus der 1997 gegründeten Website „theknot.com“ hervor. Die Redaktion bildet das Zentralorgan für Amerikaner, die Inspiration für ihre Hochzeit suchen – offenbar 80 Prozent aller Paare. Die Zeitschrift erscheint viermal pro Jahr, Auflage: 1,2 Millionen Exemplare. Ein wichtiger Grund, digitale Inhalte zur Druckerpresse zu tragen, liege in der Zusammenarbeit mit zahlreichen Geschäften, erklärt der Verlag. Sie gestalte sich auf Papier viel leichter und rentabler als digital.

Was das Internet nicht erfüllen kann

Auch in der amerikanischen Politikberichterstattung erlebt Print eine Renaissance – und das sogar einige Nummern größer als auf der „Rue89“. Im Januar 2007 gründeten die Reporter John Harris und Jim VandeHei von der „Washington Post“ die  Redaktion „politico.com“. Sie wollten alles rund um den Capitol Hill noch besser beleuchten und beschreiben als andere – die Manöver der Lobbyisten, die Schlachten der Politiker und die Präsidentenwahlen mit ihren megateuren Kampagnen. Sie setzen auf gründliche Recherchen und Analysen genauso wie auf Gerüchte für Politikjunkies, denn davon gibt es in Washington reichlich. Elf Millionen Menschen nutzten „politico.com“ bereits zur Wahl von Barack Obama.

Parallel zur Website konzentriert sich die Zeitung „Politico“ mit nur 24 Seiten auf Hintergründe, nicht auf Nachrichten. Die „New York Times“ attestiert, „Politico“ sei kritisch, investigativ, unterhaltsam – und mittlerweile unverzichtbar in der politischen Arena. Je nachdem, ob der Kongress tagt oder nicht, erscheint die Zeitung täglich oder wöchentlich. Auch der Preis variiert: Während Abonnenten 200 Dollar zahlen, wird die Zeitung mit einer Auflage von 34.000 Exemplaren an vielen Ecken in Washington sowie in den Pendlerzügen gratis verteilt.

Mit einem Umsatz von knapp 17 Millionen Dollar und einem Team von rund 100 festen Mitarbeitern ist „Politico“ profitabel. Vermutlich wäre es ohne die gedruckte Ausgabe schon pleite. Aber ohne die Website wahrscheinlich auch, denn dann hätte die Marke niemals ihre große, internationale Bekanntheit erlangt. Doch welchen besonderen Nutzen hat nun Papier für die Leser, den das Internet nicht erfüllen kann?

Sie treffen den Nerv

Immer wieder erscheinen Magazine aus dem Nichts, die den Nerv einer bestimmten Gruppe von Menschen treffen: Zum Beispiel „Premier Guitar“, 2007 von Gitarrenfreaks gegründet. Seine Existenzberechtigung auf Papier liegt wohl in vielen Noten zum Nachspielen und in Postern, die man sich in die Küche, übers Bett und in den Probenraum hängen kann. Es hat heute 650.000 Abonnenten.

Auch dem deutschen Magazin „Landlust“ eines unabhängigen Landwirtschaftsverlags ist es gelungen, einen Nerv zu treffen. Alle großen Verlage haben es mittlerweile kopiert. Es spricht Menschen an, die gerne Kartoffeln züchten, Bauernsuppe kochen oder Holzmöbel renovieren. Auflage: 900.000 Exemplare. Bemerkenswert ist, dass die Redaktion „landlust.de“ zwar besitzt, aber noch nicht einen Cent in digitale Inhalte investiert hat, die über das hinausgehen, was gedruckt wird.

Der kanadische Medienwissenschaftler Marshall McLuhan hat den berühmten Gedanken formuliert: „The medium is the message“ – jedes Medium hat eine bestimmte eigene Bedeutung. Jeder kennt das: Mit den einen kommuniziert man per E-Mail, Facebook oder SMS, mit anderen telefoniert es sich besser, und einigen Kollegen schreibt man Notizen auf Zettel.

Die Haptik von Papier schafft eine Unmittelbarkeit, nach der sich zum Beispiel landlustige Menschen sehnen. Darüber hinaus haben Druckmedien einen enormen Souvenircharakter. Sie schaffen Gefühle von Zugehörigkeit und Entschleunigung, wenn nicht sogar von Unvergänglichkeit.

Viele Leser – wie übrigens auch Werbekunden – halten Print oft für glaubwürdiger als Online. Zwar ist es schwierig zu beweisen, ob diese Annahme berechtigt ist. Doch solange sie existiert, steigert sie den Wert journalistischer Marken, wenn sie gedruckt erscheinen – und sie sich finanzieren lassen.

Dass Online weniger Vertrauen genießt, hat umgekehrt damit zu tun, dass digitale Inhalte keinerlei Souvenirwert haben. Sie werden als flüchtig empfunden, schließlich können sie weder ausgerissen und eingerahmt werden. Doch solange ihre Riesenspeicher nicht gelöscht oder ihre Gestalt manipuliert werden, ist diese Annahme ein totaler Irrtum. Denn in Wahrheit sind gedruckte Inhalte flüchtig: Sie werden nach der Lektüre zerknüllt, zerrissen oder zerknickt und landen im Altpapier. Archiviert wird nach dem Zufallsprinzip – was sich der Leser merkt, also wenig und davon die Hälfte richtig. (Das meiste wird später wieder vergessen.)

Für Unternehmen in Krisen und Politiker in Erklärnöten wäre es ein Segen, wenn über sie – wie früher – nur auf Papier berichtet würde. Keine Blogs. Keine Archive. Kein Google.

So altmodisch wie ein Strickschal

Wer das zu Ende denkt, versteht schnell, dass Print mehr mit Lifestyle und Gefühlen zu tun hat als mit Aufklärung. Wer vom Journalismus verlangt, als vierte Gewalt zu dienen, darf sich ruhig den digitalen Medien zuwenden. Jill Abramson, seit 2011 Chefredakteurin der „New York Times“, betont, wie wichtig gerade die digitalen Methoden der Speicherung und Verbreitung für aufwändig recherchierte Themen sind.

Trotzdem kommt es vielen Menschen so vor, als ginge mit dem Rückschritt von einem neuen in ein älteres Medium ein Qualitätssprung einher – ganz so, als entstehe etwas Höherwertiges. Wie wenn ein Kinofilm in ein Theaterstück, ein Popsong in eine Sinfonie oder ein Comic in einen Roman umgeschrieben wird. Gut möglich, dass manche auch glauben, Wikipedia in lateinischer Sprache (die Vicipaedia) sei von besserer Qualität.

Keine Frage: Eine Zeitung zu lesen, ist genauso altmodisch wie einen Strickschal zu tragen, von der „Mark“ zu sprechen oder von der „Platte“ eines Sängers. Dabei muss man nicht einmal ein altmodischer „Net-Migrant“ sein – hippe „Net Natives“ sind ja auch manchmal Vinyl-Liebhaber.

Druckerschwärze als Zeichen der Distinktion

Wer Print mag, dem geht es vor allem um eine bewusste Haltung – Druckerschwärze als Zeichen der Distinktion. Als Ausdruck eines kulturellen Trends gegen die glatte, perfekte Ästhetik der digitalen Welt, die sich in Apple und jedem Kleinwagen-Cockpit widerspiegelt. Wolfgang Joop und Richard Sennett loben seit Jahren das Handwerk. Und der Versandhandel „Manufactum“ lebt gut davon.

So ist es konsequent, dass auch „Dawanda“, ein im Jahr 2006 gegründeter „Online-Marktplatz für Handgefertigtes“ die Rolle rückwärts macht und einen Katalog druckt: das „Lovebook“. „Dawanda“ bietet viele Millionen Sachen feil, die früher bitte niemals unter den Weihnachtsbaum durften: zum Beispiel ein „Vintage Strickpullunder, Folklore, handgestrickt“ für 20 Euro.

Das Netz als Beta-Version

Im Herbst brachten die Macher der Berliner Website „freundevonfreunden.com“ ein Buch mit ihren besten Fotos heraus. Es zeigt mehr oder weniger Prominente in ihren mehr oder weniger hippen Stadtwohnungen (mit vielen Plattenspielern). Das Internet diente hier nur noch als Beta-Version – als großer Test, dessen schöpferische Vollendung in ein Buch mündete.

Im vergangenen Februar erschien ein Buch, das sich ausgerechnet an die gesamte deutsche Medienbranche richtet und die „Top 100 Medienmacher 2012“ kürt. Gemacht hat es Dirk Manthey, der früher das Magazin „Max“ herausgab und den Verlag Milchstraße führte. 2008 gründete er „meedia.de“, das „Online Medien-Portal“ – und nun gibt es davon das erste Jahrbuch.

Dem Souvenircharakter von Print werden solche Publikationen in ganz besonderer Weise gerecht, weil sie auf die Eitelkeit des Personals bauen – und spekulieren.

Was einst in Stein gemeißelt wurde, kann seit ungefähr 1450 auf Papier gedruckt werden. Seit der Revolution von TCP/IP macht das besonderen Sinn für alles Digitale, das am häufigsten geklickt oder am besten bewertet wird – und sich auch auf Bücherregalen, Nachttischen und Coffeetables gut macht. Das bedeutet: Papier transportiert immer mehr eine Botschaft über unser Verhalten im Netz. Wir werden also noch lange blättern.

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