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Journalisten, warum denkt ihr nicht an eure Nutzer?

Müssen alle Journalisten coden, filmen, schneiden, schreiben und sowieso alles können? Nein, findet Lina Timm. Ausbilder sollten stattdessen ihr und das Augenmerk der Lernenden auf das richten, was noch kommen könnte.

Es gab da mal diese Geschichte, diese eine wahnsinnig gut geschriebene Geschichte, über diesen Mann, der im Himalaya … wie, kennen Sie nicht? Die hat doch JEDER …

Nein. Die hat nicht jeder gelesen. Heutzutage hat nicht mal jeder Böhmermann mitbekommen, weil er keine News-App installiert hat, die ihm jede Nachricht pusht. Oder er nicht drei Mal täglich auf News-Seiten surft. Weil er in seinem Facebook-Feed lieber Posts seines Basketball-Lieblingsvereins folgt. Und weil er nie zuhause ist, wenn die Tagesschau läuft. Vielleicht ist ihm Böhmermann auch einfach egal. Die Griechische Schuldenkrise (war was?) und der Brexit (bitte was?) auch.

Solche Menschen leben da draußen. Menschen, die unsere Texte nicht mehr lesen, unsere Filme nicht mehr sehen und unsere Beiträge nicht mehr hören. Wir erreichen sie nicht mehr mit dem, was wir tun.
Aber auch das sind unsere Nutzer.

Warum? Weil jeder Mensch Nachrichten braucht. Mindestens, um sich mit anderen Menschen darüber zu unterhalten und nicht doof dazustehen. Idealerweise, weil er sich für das Thema wirklich interessiert.

Es gibt für Journalisten heute viele „es reicht nicht mehr …“-Sätze. Ich möchte mich da eigentlich nicht einreihen, weil mit diesen Sätzen auch sehr viel Schwachsinn gefordert wird. Demnach müssten Journalisten eigentlich alles können müssen. Schreiben, schneiden, drehen, recherchieren, coden, designen, managen. Das ist alles Quatsch, niemand muss das alles auf einmal können.

Aber wenn eines heute dem Journalismus tatsächlich nicht mehr reicht, dann ist es, nur schönen Journalismus zu machen. Es muss nicht der gleiche Mensch sein, der den Text schreibt und ihn verkauft. Aber wir müssen unsere Produkte heute verkaufen, weil es Netflix gibt und meine Freunde im Facebook-Stream und all das andere, das durch das Internet rauscht. Wenn wir wollen, dass wir gelesen, gesehen, gehört werden, müssen wir unser Zeug zu den Menschen tragen.

Journalisten brauchen ein Bewusstsein dafür, dass wir nicht nur schönen Journalismus machen, sondern Produkte. Produkte, die Menschen leicht finden und dann unbedingt haben wollen.

Journalisten haben sich darüber bislang keine Gedanken gemacht. Es herrschte oft die Haltung, dass die Menschen sich doch freuen sollen, dass wir unser Wissen über sie ergießen. Weil das heute nicht mehr funktioniert, sollte das schon in der Ausbildung zumindest einmal angerissen werden. Und das funktioniert am besten, wenn Journalisten diese drei Dinge tun: User-first denken, Technologie umarmen und in letzter Konsequenz auch mal darüber nachdenken, ihre Projekte selbst umzusetzen – zum Beispiel mit einem Startup.

Zuerst der Nutzer, dann der Journalist

Erst in den letzten Jahren wurde es überhaupt möglich, nicht nur über Inhalte, sondern auch über ihre Auslieferung nachzudenken. Vorher gab es eben Radio und Fernsehen, Zeitungen und Magazine. Das brauchte alles einen riesigen Apparat, Experimente waren teuer. Heute kann man experimentieren – und zwar nicht nur mit dem Inhalt, sondern auch mit seiner Form. Was ist eigentlich die beste Form, Nachrichten auszuliefern? Das Internet bietet alle Möglichkeiten, es ist nahezu alles programmierbar, mit Daten lassen sich Nutzerinteressen auswerten, Tools helfen der Arbeit in den Newsrooms.

Wie will der Nutzer dieses Stück Journalismus eigentlich haben? Roh, mit ein paar Sätzen? Medium, als Fünfminüter? Oder well-done als Lesestück mit zusätzlicher Bilderstrecke und einem Audio-Interview, das er auf dem Weg zur Arbeit noch hören kann? Und wo eigentlich erreicht ihn dieser Journalismus? Morgens im Badezimmer? Mittags bei der Arbeit? Oder abends auf der Couch? Journalisten haben sich darüber bislang wenig Gedanken gemacht.

Startups zum Beispiel, die arbeiten anders. Sie schauen sich den Markt an, die Leute da draußen, und sehen, dass die ein Problem haben. Dann bauen sie eine Lösung für dieses Problem und die wird sich verkaufen. Warum? Weil das Startup schon weiß, dass es Leute gibt, die nach dieser Lösung suchen.

Was hält eigentlich Journalisten davon ab, sich einmal anzuschauen, was die Leute da draußen denn möchten? Auf welchem Weg sie es bekommen möchten, in welcher Form? Wie, die wollen dann nur Katzenbilder? Come on. Natürlich wollen sie Katzenbilder. Zwischendurch, zur Ablenkung. Aber genauso wollen sie Journalismus zu Themen, die sie interessieren und zu denen, die sie nicht interessieren, bei denen man in der Mittagspause aber mitreden können muss.

Embrace Technology

Mit Text, Video, Audio, lange Stücke, kurz, mit GIFs, als Listicle oder Erklär-Karten. Es gibt so viele Formen, die das Digitale bespielen kann – und es bietet noch mehr. Technologie kann den Journalismus nicht nur unterstützen, sondern ihn auf neue Ebenen heben. Mit Daten finden wir heraus, was unsere Leser wann möchten, pushen ihnen über die App dann das Richtige zum richtigen Zeitpunkt.

Das alles geht, aber man muss offen dafür sein. Technologie umarmen, statt vor ihr wegzulaufen. Dafür muss jetzt kein Journalist coden lernen. Das ist völliger Quatsch, dann müssten ja auch jeder Coder, der im Newsroom arbeitet, lernen, Geschichten zu erzählen. Aber wir müssen uns verständigen können.

Dazu gehört, zumindest mal die Worte HTML und CSS gehört zu haben und grob einordnen zu können. So muss der Coder nicht immer wieder komplett von vorn anfangen, wenn er uns etwas erklärt. So wie es hilft, einmal einen Fernsehbeitrag gemacht zu haben, um zu wissen, dass Treatment, Drehen, Schneiden, Texten und Vertonen länger braucht, als nur einen Text herunterzuschreiben, hilft es auch, grob zu wissen, wie Entwickler arbeiten.

Setzt eure Ideen selbst um, statt auf die Chance zu warten!

Das Digitale hat übrigens noch einen Vorteil: Ich brauche keine Druckerpresse, um ein Magazin zu produzieren. Ich brauche keinen Fernsehsender, um ein Video zu publizieren. Ich brauche nur eine Idee und ein Team. Ich brauche nicht einmal eine gute Idee, die wird schon besser, je mehr Feedback ich dafür bekomme. Journalisten können ihre Ideen heute einfach umsetzen, ohne auf den einen Platz in der Entwicklungsredaktion zu warten. Oder im großen Haus eine Idee vorzustellen, die dann in vier Konferenzrunden zerredet wird.

Wer als Journalist auf Meetups geht oder an Hackathons teilnimmt, kann dort Menschen suchen, die auch Lust auf Innovation und neue Produkte haben. Die coden und designen können und in denen der Journalist mehr zum Produktmanager wird, der Typ, der die Branche kennt, sie liebt und verbessern will. Das ist sicherlich nichts für Leute, die Edelfedern sein wollen. Die brauchen wir auch, irgendwer muss ja die Inhalte schreiben. Aber Journalismus bietet heute mehr als reine Autorschaft.

Die Idee, ein Startup zu gründen, ist für Deutschland neu, für den Journalismus umso mehr – aber es geht. Ein Startup bist übrigens nicht du als freier Journalist. Ein Startup ist eine Firma, die eine innovative Lösung geschaffen hat und schnell wachsen will. Für ein Startup braucht man ein Team und ja, ein Startup gründet sich nicht einfach so. Und ist in vielen Fällen vielleicht auch nicht der richtige Weg. Aber es ist einer, den Journalisten heute gehen können. Es ist der richtige Weg für alle, die Lust auf neue Ideen und eine schnelle Umsetzung haben, auf Technologie und Teams.

Was heißt das für die Ausbildung?

Den ersten Satz, den ich an der Journalistenschule gehört habe, war: “Probiert euch aus”. Leider galt das nur für Schreiben, Radio und Fernsehen. So weiß ich, dass Radio echt nicht meins ist, Video dafür umso mehr. Was ich leider nicht durch die Journalistenschule wusste: Welche Jobmöglichkeiten es im Digitalen gibt. Was ein Social-Media-Redakteur macht und dass momentan ungefähr jede Redaktion einen sucht. Dass eine simple Scrollytelling-Reportage schön aussieht, aber einiges an Coding braucht und bei der Datenauswertung herauskommt, dass niemand sie liest. (Wirklich. Niemand.)

Das Digitale hat so viele neue Zweige für Journalisten offenbart, in die sie gehen können. Es muss nicht jeder alles machen wollen. Aber es muss jeder alles mal gesehen haben, um sagen zu können: “Nö, das ist nicht meins.” In der Ausbildung ist der beste Zeitpunkt dafür, Dinge auszuprobieren, damit jeder den Teil im Job des Journalisten findet, der ihm wirklich Spaß macht.

Ein anderer Satz von der Journalistenschule: “Du weißt doch, wie es ist. Die wollen bei uns alle nur die Seite 3 schreiben.” Das alte Katzenbilder-Argument, nur anders herum? Really? Wenn wir den Menschen zeigen, dass es auch anderes als Katzenbilder gibt, warum zeigen wir Journalisten dann nicht, dass es auch anderes als die Seite 3 gibt?

Ausbildung sollte einem alles vorsetzen, was gerade nur irgendwie möglich ist im Beruf. Und in diesen digitalen Zeiten macht sie junge Journalisten idealerweise auch hungrig auf das, was noch nicht möglich ist, aber bald möglich sein wird.


In der kommenden Woche diskutieren wir an dieser Stelle mit Jörg Sadrozinski (Deutsche Journalistenschule) und Professor Frank Lobigs (TU Dortmund) darüber, ob die einzelnen Ausbildungsmodelle angemessen auf den digitalen Wandel reagieren – und welche Modelle Zukunft haben.

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