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„Facebook und all der Scheißdreck“ I: Lesegewohnheiten

Jan Klage wirft einen Blick auf die Digitalisierung unserer Sprache. Im ersten Teil geht es darum, was „Facebook und all der Scheißdreck“ (Günter Grass) mit unseren Lesegewohnheiten machen.

Digitale Medien haben unser Schreib- und Leseverhalten grundlegend verändert. Die Länge einer SMS ist auf 160 Zeichen begrenzt. Die eines Twitter-Beitrags sogar auf 140. Da kann nicht viel um den heißen Brei herumgeredet werden. Eine kreative Herausforderung für alle, die in Zukunft noch gehört werden wollen.

Der englische Schriftsteller Tim Parks glaubt ganz fest daran, dass dem Roman der Zukunft nichts anderes übrigbleiben wird, als sich den veränderten Lesegewohnheiten seiner Leser anzupassen. Er ist überzeugt davon, dass Menschen, die den ganzen Tag hektisch durch den Strom ihrer Mails navigieren und einen Tweet nach dem anderen verfassen, nicht mehr in der Lage sein werden, anspruchsvolle Literatur aufzunehmen. Zu gestresst, um zu lesen … zu hektisch, um zu denken. Andere Textformen, wie der Aphorismus bei Twitter erleben in diesen Zeiten allerdings auch ein Comeback. Und besonders rosig dürfte es von jetzt an wohl um die digitale Zukunft der Glosse bestellt sein. Schließlich bringt sie alles mit, was der latent überforderte Leser künftig brauchen könnte: sie ist kurz, weitgehend gedankenfrei und wimmelt nur so von Wiederholungen.

Mehr als zwanzig Minuten lang wird sich bald niemand mehr auf ein Buch konzentrieren können. Vielleicht braucht der erfolgreiche Roman der Zukunft dann einfach mehr Wiederholungen, um dem Leser den Wiedereinstieg in die Lektüre zu erleichtern. Auch die anspruchvollsten Autoren werden ihre Romane dann in immer kürzere Abschnitte einteilen müssen, um ihren Leser ausreichend Ruhepausen einzuräumen. Nichts Neues unter der Sonne, mag der bibelfeste Leser jetzt einwenden. Schließlich verteilte die Heilige Schrift schon vor mehr als 2.000 Jahren ihre 738.000 Wörter auf 66 Bücher und 1.189 Kapitel. Bevor Sie jetzt den Taschenrechner bemühen: Das sind rund 620 Wörter oder vier Tweets pro Kapitel. Geht doch. Alles kommt wieder.

„Black Box“, der Roman von Pulitzer-Preisträgerin Jennifer Egan ist dann auch gleich in 140-Zeichen-Häppchen erschienen. Die Story wurde getwittert und erschien erst, nachdem die Kurznachrichten gesendet waren, gebündelt im „New Yorker“. Das daraus entstandene Buch hat keine 100 Seiten. Eine längere Fahrt mit der U-Bahn und „Black Box“ ist komplett gelesen. Und genau das war auch Egans Motiv. Wie schreibt man einen Roman, der sich für die Verbreitung über Twitter eignet? Mit Sicherheit nicht, indem man einen langen Text zerstückelt, sondern indem man eine eigenen Form entwickelt. Twitter wurde 2006 gegründet, „Black Box“ erschien 2013. Sieben Jahre brauchte der Literaturbetrieb, um ein erstes Werk herauszubringen, das den neuen Möglichkeiten Rechnung trägt. Ein langer Weg.

Die Literatur wird also kürzer. Das ist aber noch nicht alles. Die Mechanismen des Webs verlangen gleichzeitig auch noch, Leserkommentare ernst zu nehmen, aufzugreifen und sogar zu verarbeiten. Autor und Leser in einer Co-Autorenschaft, wie es Sartre schon vor mehr als 50 Jahren vorschwebte. Ein Pakt mit dem Leser. In der digitalen Welt können nun endlich beide gemeinsam am Text arbeiten. Noch trägt das, was dabei herauskommt, den Namen „Netzliteratur“, denn die Diskussionen darüber, ob es sich dabei auch wirklich um Literatur handelt, oder einfach nur um eine neue Art des Schreibens und Lesens, sind noch nicht abgeschlossen.

Leser, die nach immer kürzer werdenden Texten verlangen und sich dann auch noch in deren Entstehung einmischen. Schöne Aussichten sind das. Für einen Roman kann das vielleicht noch angehen, mag der geneigte Leser mit dem knappen Zeitbudget nun denken. Aber was macht das mit dem Qualitätsjournalismus, den die traditionellen Holzmedien die letzten hundert Jahre beinahe ausschließlich für sich in Anspruch genommen haben und den sie nun am liebsten auch unter Artenschutz stellen lassen möchten? Nichts macht es. Von Bedrohung keine Spur. Das Gegenteil ist der Fall. Qualitätsjournalismus braucht kein Papier und keinen Artenschutz. Das großartige Experiment „Firestorm“ des britischen „Guardian“ ist nur ein Beispiel dafür, wie sich die Text/Foto-Kombination der alten Zeitung in Präsenz, Nähe und Didaktik für sehr lange Geschichten online in eine Form bringen lässt, die dabei sogar noch den Leser in Echtzeit einbindet. Dinge, die es so auf Papier nie geben könnte. Und in den USA probieren Apps wie Cir.ca umgekehrt aus, wie sich aus sehr wenig Text plus Fotos, Landkarten und Zitaten Nachrichtenstücke zusammensetzen lassen, die man auf dem Telefon tatsächlich gern liest, weil sie genau dafür gemacht sind.

Neue Medien befördern nicht nur die Experimentierfreude einzelner Autoren, sie verändern die Literatur insgesamt. Für wen die digitale Welt allerdings nur aus „Facebook und all dem Scheißdreck“ (Günter Grass) besteht, der wird allerdings viele neue Chancen ungenutzt lassen.


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