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Die Zeitschrift der Straße: „Wir wollen kein Mitleidskauf sein“

Die Zeitungen stecken in der Krise. Verlage stehen vor der Frage, wie sie Geld mit ihren Inhalten verdienen sollen, wenn es im Web kostenlosen Content zuhauf gibt. Da soll man mit einem Printprodukt etwas Gutes tun? Einige glauben daran – unter anderem die Macher der „Zeitschrift der Straße“ aus Bremen.

Andreas Kuhlmann steht vor der Stadtbibliothek in der Bremer Innenstadt, einen Packen Zeitschriften in der Hand. An einem kalten, regnerischen Tag wie diesem wird er nur eine Handvoll Exemplare los, an anderen Tagen läuft es besser. Kuhlmann ist einer von rund 30 aktiven Verkäufern der „Zeitschrift der Straße“, einem Projekt für Menschen in sozialen Notlagen in Bremen.

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Die Idee, eine solche Zeitschrift ins Leben zu rufen, hatte Michael Vogel, Professor für BWL und Kreuzfahrttourismus an der Hochschule Bremerhaven. Straßenzeitschriften hat er schon immer gerne gekauft, egal ob in London, Paris oder Hannover. Seine Studierenden sollen bei sozialen Projekten daran erinnert werden, dass das Leben nicht nur aus Urlaub besteht, sondern durchaus auch unangenehme Seiten hat.

Auch Bertold Reetz, der sich beim Verein für Innere Mission in Bremen um die Wohnungslosenhilfe kümmert, hatte schon länger überlegt, ein solches Projekt anzustoßen. Mit vereinten Kräften gelang es schließlich Anfang 2011. Studierende der Bremer Hochschule für Künste entwickelten das Konzept für das Magazin und kümmern sich um die Gestaltung, Studierende der Hochschule Bremerhaven besorgen das Marketing, die Texte stammen ebenfalls aus studentischer Feder. So haben beide Seiten etwas davon: Die Studierenden können sich ausprobieren und Praxiserfahrung sammeln, die Verkäufer können sich etwas zum Lebensunterhalt dazuverdienen.

Aufgeräumt und individuell: Das von HfK-Studenten kreierte Cover-Design der „Zeitschrift der Straße“.

Und die Idee ist aufgegangen: „Wir wollen kein Mitleidskauf sein“, sagt Redaktionsleiter Armin Simon. „Die Zeitschrift soll so attraktiv sein, dass die Leute sie gerne kaufen.“ Die „Zeitschrift der Straße“ unterscheidet sich mit ihrem hyperlokalen Konzept von anderen Straßenmagazinen. Im Mittelpunkt jeder Ausgabe steht ein ausgewählter Ort in Bremen oder Bremerhaven. Aus Beobachtungen des alltäglichen Geschehens entwickeln sich später die Heftinhalte. Die können die Form von Essays, Reportagen, Interviews, Features oder Bilderstrecken annehmen. So entstehen Porträts wie das des Pensionärs, der eifrig die Bremer Geschichte auf Wikipedia aufarbeitet oder das der Resteverwerter der Vergnügungskultur, der Flaschensammler vom Werdersee, oder ein Artikel über eine Bürgerinitiative, die sich erfolgreich gegen einen Nazi-Geschäft in ihrem Viertel zur Wehr setzt.

Inhaltlich sind die Ausgaben nur an den jeweiligen Ort gebunden, ansonsten sind sie zeitlos. Das hat den praktischen Vorteil, das auch ältere Ausgaben parallel zu neueren verkauft werden können. Auch äußerlich kann die „Zeitschrift der Straße“ überzeugen. Ihr individuelles Design, aufgeräumt, aber unkonventionell, ist mehrfach mit internationalen und nationalen Preisen ausgezeichnet worden. Klare Linien lassen die großformatigen Bildern gut zur Geltung kommen und die unaufgeregte Farbgebung lenkt die Aufmerksamkeit beim Lesen nicht unnötig ab.

Und auch viele der Bremer Bürgerinnen und Bürger konnte die Zeitschrift schon für sich gewinnen. Eine ältere Dame kommt direkt auf Kuhlmann zu. Sie erkundigt sich nach einem seiner Kollegen und sucht in Kuhlmanns Angebot nach einer Ausgabe, die sie noch nicht kennt. Sie ist Sammlerin und kauft jede Ausgabe. „Das machen so einige“, weiß Kuhlmann, der viele seiner Kunden regelmäßig trifft und immer Zeit für einen Schnack zwischendurch hat. Die ältere Dame entdeckt zwar keine Ausgabe, die ihr noch fehlt, sie kauft aber trotzdem zum zweiten Mal die Nr. 21 mit Berichten aus dem Stephaniviertel.

Lieber verkaufen als betteln

Für Kuhlmann ist der Verkauf eine Möglichkeit, Struktur in seinen Alltag zu bringen und sich etwas zum Geld vom Amt dazu zu verdienen. Wie viele Verkäufer von Straßenzeitschriften ist Kuhlmann nicht obdachlos. Nach persönlichen Schicksalsschlägen geriet der 49-Jährige in einen Strudel von Krankheit, Suchtproblemen und Isolation. Er fing er an, „Sitzung zu machen“ – er ging am Hauptbahnhof betteln. „Das war mir aber immer unangenehm. Und dann habe ich einen gesehen, der diese Zeitschrift verkauft hat.“ Seitdem er Verkäufer ist, bettelt er nicht mehr, stattdessen kamen andere und wollten von ihm einen Euro von seinen Einnahmen abhaben, für Brot. „Solche Märchen wollte ich selbst nicht mehr erzählen.“ Er suchte sich einen anderen Verkaufsplatz.

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Hanseatisch schlicht präsentiert sich das Artikellayout

Aber die Verkäufer bekommen vom Projekt keine Almosen. Als Einsteiger bekommen sie zehn Ausgaben kostenlos als Startkapital, jede weitere müssen sie der Inneren Mission für 90 Cent abkaufen. Von dem Verkaufspreis von 2 Euro bleiben ihnen also 1,10 Euro Gewinn. „Für Menschen, die Schwierigkeiten haben, sich an normale Tagesabläufe zu halten, ist das eine Möglichkeit, Struktur zu bekommen“, sagt Reetz. Schließlich müssten die Verkäufer planen, wie viel Zeit und Geld sie investieren wollen. Eine feste Quote gibt es nicht, aber auch keinen garantierten Umsatz. Jeder muss für sich selbst entscheiden, wie viel er verkaufen kann und möchte.

Unter den Betroffenen hat sich das Projekt von selbst herumgesprochen, rekrutiert wird niemand. Eine Zeitschrift zu verkaufen, ist würdevoller als zu betteln, findet Reetz. Viele der Verkäufer wollten lieber arbeiten für ihren Lebensunterhalt. Während der Spargelernte sei ein Teil von ihnen deshalb auf den Feldern beschäftigt. Allerdings, räumt er ein, gebe es auch solche, die feststellten, dass sie mit Betteln leichter mehr verdienen als mit dem Magazinverkauf.

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Andreas Kuhlmann ist einer von rund 30 Verkäufern der „Zeitschrift der Straße“.

Kuhlmanns Leidenschaft ist das Theater. Er stand schon bei verschiedenen Projekten in Bremen auf der Bühne und hat dabei seine Liebe zur Schauspielerei entdeckt. Im Bremer Geschichtenhaus trat er als Heini Holtenbeen auf. Die Figur des Stadtstreichers aus dem 19. Jahrhundert nutzt er auch jetzt noch, um Passanten und Touristengruppen auf sich aufmerksam zu machen.

„Mein Ziel ist es, so autark wie möglich zu werden“, erklärt er. Als Verkäufer trifft er oft alte Bekannte, die ihn zu neuen Projekten einladen, und kann zusätzlich neue Kontakte knüpfen. Nicht zuletzt macht ihm die Mitarbeit bei der „Zeitschrift der Straße“ auch Spaß. Seit kurzem schreibt er für das neue Blog des Magazins und in der übernächsten Ausgabe des Hefts erscheint sein erster eigener Artikel.

Raus aus dem Obdachlosenmilieu

Kuhlmanns Ablehnung des Bettelns ist nicht untypisch für andere Verkäufer. Als die Zeitschrift noch am Jakobushaus, einer Notunterkunft der Inneren Mission, ausgegeben wurde, war das vielen Verkäufern unangenehm. Um aus dem Obdachlosenmilieu herauszukommen, wurde vor kurzem die zentrale Ausgabestelle in die Bremer Innenstadt verlegt. Die Räume in der Passage am Lloydhof dienen zusätzlich als Veranstaltungsräume und als Büro für Redaktionssitzungen. Für Verkäufer ist es außerdem ein Treffpunkt, um sich auszutauschen oder einfach nur bei einer Tasse Kaffee auszuruhen. Interessierten steht das Büro auch offen, im Moment meistens nur halbtags, aber mit zusätzlichem Engagement hofft Reetz, durchgängig von 10 bis 18 Uhr eine offene Anlaufstelle bieten zu können.

Immerhin hat das Magazin in den drei Jahren seit der Gründung seinen Rhythmus und seine Stimme gefunden, auch wenn es schwierig sei, einen festen Verkäuferstab zu bilden, und die Köpfe des Projekts manchmal am Rande der Selbstausschlachtung arbeiten, wie Vogel eingesteht. Motivation weiterzumachen zieht er vor allem aus den kleinen Momenten. „Ich freue mich immer wieder, wenn ich sehe, wie ein Verkäufer das Produkt gut präsentiert und mit den Menschen ins Gespräch kommt, oder wenn die Studenten von gelungenen Aktionen berichten.“

Noch hat das Projekt das Ziel, sich selbst tragen zu können, nicht erreicht, dazu müssen noch mehr Ausgaben und mehr Werbeanzeigen verkauft werden. Derzeit werden innerhalb des achtwöchigen Erscheinungsintervalls ca. 8.000 Exemplare abgesetzt. Noch ist man auf zusätzlich Spenden angewiesen. Reetz blickt trotzdem optimistisch in die Zukunft: Er wünscht sich, dass die „Zeitschrift der Straße“ sich als fester Kulturbaustein in Bremen etabliert. Vielleicht könne man später sogar eine Festanstellung für Verkäufer anbieten.


Artikel aus dem Magazin sowie Spendeninfos zur „Die Zeitschrift der Straße“ finden sich auf der Website. Das Magazin kann bei Verkäufern vor Ort, im Online-Shop oder als Abonnement bezogen werden.

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