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Der Heimvorteil des digitalen Lokaljournalismus

Um eine digitale Überlebensstrategie zu entwickeln, muss der Lokaljournalismus bereit sein, die Kompetenzen und Qualitäten, über die er ohnehin verfügt, weiter ausbauen, verfeinern und den neuen Umgebungen anpassen.

„4,8 Millionen Menschen in Nordrhein-Westfalen haben keine Wahl mehr zwischen verschiedenen Regionalzeitungen“ – so lautete neulich die Schlagzeile des Branchendienstes „Meedia“, der über ein aktuelles Gutachten des Formatt Instituts im Auftrag der NRW-Landesregierung berichtete: Das sind über ein Viertel – genauer gesagt: 26,8 Prozent – aller NRW-Bürger, die nur noch auf eine einzige Regionalzeitung zugreifen können. Vor 20 Jahren waren es laut Studie noch über 90 Prozent, die zwischen verschiedenen Titeln wählen konnten, ein Viertel der Bürger sogar zwischen drei verschiedenen. Obwohl das Angebot an lokaljournalistischer Berichterstattung im Netz beständig wachse, auch das bestätigt diese Studie, habe sich die Medienvielfalt im Vergleich zu 1992 jedoch dramatisch verschlechtert.

Ein weiterer Weckruf zum Zustand des Lokalen, den man nicht überhören sollte, stammt von dem amerikanischen Digitalguru Jeff Jarvis, der vor kurzem einen Blogeintrag veröffentlichte. Darin verdeutlich Jarvis, vor welchen Herausforderungen der Lokaljournalismus momentan steht: „Ein weiteres hyperlokales Unternehmen kämpft ums Überleben und jedes Mal, wenn das passiert, habe ich die Befürchtung, dass hyperlokaler Journalismus immer mehr von Läusen befallen wird. Aber ich weigere mich, die Hoffnung aufzugeben, weil es für jedes Scheitern einen Grund gibt, noch so vieles getan werden kann und es noch nicht zu spät ist.“

Bestandteil des Gemeinwesens

Jarvis, das muss man wissen, ist Fürsprecher einer Generation von experimentierfreudigen Jungjournalisten, die kräftig an das Hyperlokale im Digitaljournalismus glaubt. Und deshalb ist das, was er in seinen luziden Analysen feststellt, häufig wegweisend für das Überleben des Lokalen im Netz. Jarvis zufolge liegt das Erfolgsrezept des lokalen Digitaljournalismus – ob in einer Region, einer Stadt oder einem Stadtteil praktiziert – in drei einfachen Zutaten:

  1. Die Angebote sind klein (und haben nicht zu früh bzw. unnötig expandiert),
  2. Sie sind das Produkt einer ganzen Menge harter Arbeit von sehr hingebungsvollen Journalisten und Verlegern,
  3. Sie sind wesentlicher Bestandteil ihres Gemeinwesens (was auch verhindert, dass x-beliebige Absolventen der Journalistenschulen dort beginnen könnten – und seien sie noch so gut).

Je nachdem, wem man also zuhört, erhält man vollkommen andere Antworten auf die Frage zum Zustand des Lokaljournalismus. Und so unterschiedlich lokale und regionale Medien sind, so unterschiedlich sind auch die Prognosen zu deren Zukunftsaussichten: Mal werden die Versäumnisse des Lokalen bitter beklagt, mal seine immensen Potenziale beschworen.

„Out of the ordinary“

Vor allem Ratschläge, wie sich das Lokale verbessern könnte, um unter digitalen Vorzeichen zu prosperieren, gibt es inzwischen zuhauf: Die Lokalberichterstattung müsse, so heißt es, weniger Redundanzen zu den überregionalen Blättern erzeugen, und stattdessen stärker hyperlokale Themen setzen. Sie solle die Wünsche ihrer Leser intensiver berücksichtigen und Social Media bedienen. Und sie müsse stärker zur publizistischen Kraftquelle und zum innovativen Hotspot werden, indem sie mit neuen Formen und Formaten experimentiert.

Es mag stimmen, dass gerade das Lokalressort der Globalität des Internet etwas Wirksames entgegensetzt, oder sagen wir besser: dass das Internet dem Lokalen eine neue Wertigkeit verleiht. Es ist auch sicher richtig, dass das bisherige lokaljournalistische Motto „more of the same“ gegen ein selbstbewusstes „out of the ordinary“ ausgetauscht werden muss – nur: Wenn wir auf Konferenzen und Tagungen immer wieder darüber debattieren, was den Charme des Lokalen in Zeiten der Digitalisierung ausmacht, müssen wir vor allem darüber nachdenken, wie uns seine große Nähe zum Publikum als Innovationsquelle dienen kann.

Wir müssen die Zukunft des Lokalen daher stärker vom Zuschauer, Zuhörer und Leser her denken, wenn wir herauszufinden wollen, ob das Neue und Experimentelle auch wirklich funktioniert – frei nach der wahren Bemerkung von Hans Leyendecker: „Nichts ist schwerer als der Lokaljournalismus, denn das, was sie machen, ist von den Lesern überprüfbar.“

Wenn es also um Strategien und Perspektiven für lokale und regionale Angebote in einer digitalisierten Medienwelt geht, müssen wir uns auf die besonderen Vorzüge, mithin die Alleinstellungsmerkmale des Lokaljournalismus konzentrieren – statt den regionalen Zeitungsverlegern und Fernsehunternehmen ständig ihre Defizite und Verfehlungen vorzuwerfen. Denn die Phase des Lamentos haben wir schon lange überschritten – und wer das noch nicht begriffen hat, ist der eigentliche Neandertaler in der Digitalisierungsdebatte.

Noch immer wird viel zu viel geschimpft und gemeckert über die Qualität der Lokalmedien. Davon ist einiges berechtigt. Aber nicht alles ist schlecht, was da in den vergangenen Jahren vorangebracht worden ist: Denn es wird weitaus mehr experimentiert, mehr ausprobiert und mehr gewagt, als das in der breiten Öffentlichkeit wahrgenommen wird. Online wird in der Medienbranche längst als Innovationstreiber akzeptiert, die Krisenstimmung ist schon vor längerer Zeit in eine Aufbruchsstimmung umgeschlagen. Und der Wille, sich in diesem Beruf neu aufzustellen, sich also auch ein Stück weit neu zu erfinden, ist erheblich gestiegen.

Ruck durch die Redaktionen

Das Ende vom Anfang der digitalen Revolution, das bestätigen aktuelle Studien, ist in den Köpfen der meisten Lokaljournalisten angekommen – ob sie im Hörfunk, beim Fernsehen, für Print oder Online arbeiten. Doch jetzt muss ein Ruck durch die Redaktionen gehen, um den nächsten Schritt zu gehen. Wir sind nämlich an einem Punkt, wo wir uns – nach all den hinter uns liegenden Stationen der Katharsis und Selbstläuterung – fragen müssen, wohin die Reise des Lokaljournalismus genau gehen soll und wie der strategische Plan dorthin aussehen kann. Wir als Gesamtgesellschaft müssen Zeitungsverleger und Magazinmacher, Inhaber von Radiowellen und Lokalfernsehsendern davon überzeugen, dass es nicht sein darf, dass sie den Journalismus plötzlich aufgeben, weil er sich nicht mehr lohnt. Wir dürfen nämlich nicht vergessen, dass private Medienmacher in erster Linie Unternehmer sind – und ein kluger Unternehmer wird seine Produkte immer abstoßen, wenn sie längere Zeit defizitär sind. Insofern genießen Verleger und private Rundfunkanbieter zwar unser volles Vertrauen als Gralshüter des Qualitätsjournalismus – aber natürlich nur solange, wie er profitabel ist.

Natürlich hat sich die Krise auch in der Wahrnehmung vieler privater Medienunternehmer enorm zugespitzt. Und es frustet sie, dass die digitale Umarmungsstrategie nicht immer aufgeht, vor allem was die Finanzierungsfrage betrifft. Es frustet sie außerdem, dass der digitale Strukturwandel, der so viel Hoffnung auf so viele Chancen und Möglichkeiten macht, nun mit der Frankfurter Rundschau und der Westfälischen Rundschau auch in Deutschland seine ersten Opfer gefordert hat. Und es frustet uns natürlich alle, dass wir der Macht der Weltkonzerne wie Google und Facebook, die dem Journalismus nicht nur Aufmerksamkeit bringen, sondern vor allem auch Zeit und Geld stehlen, immer noch nicht gewachsen sind.

Digitale Überlebensstrategie

Doch es gibt – Stichwort „Zeitungssterben“ – für fast alles Erklärungen. Es gibt – Stichwort: „Kostenloskultur“ – für vieles Ursachen. Und es gibt – Stichwort „Google“ – für manches pragmatische Lösungen. Denn die lokalen Medien sind gerade dort im sprichwörtlichen Heimvorteil, wo es um lokale Kompetenzen und Ortskenntnisse geht. Um die brachen Felder der Digitalisierung zu bestellen, müsste er jedoch seinen Pioniergeist neu entdecken und dabei strukturierter und strategischer vorgehen. Konkret gesprochen, bestehen diese Heimvorteile der meisten lokalen und regionalen Medienangebote vor allem darin, dass sie:

  1. in ihrer Region, ihrer Gemeinde oder ihrem Stadtteil absolut unverzichtbar sind: Ein traditionelles Lokal- und Regionalmedium – ob Zeitung, Fernsehen, Hörfunk oder Online – ist immer auch ein Stück Heimatgefühl. Und diesen Standortvorteil kann und wird ihnen kein überregionales Medienangebot jemals streitig machen können.
  2. hautnah an ihren Bürgerinnen und Bürgern dran sind: Nähe bedeutet im Idealfall Vertrauenswürdigkeit, vielleicht sogar bedingungslose Solidarität – die funktioniert allerdings nur in beide Richtungen; wir brauchen also künftig verlässliche, kritische Lokalmedien, die für die Interessen ihrer Gemeinschaft einstehen – und umgekehrt.
  3. Communities aufbauen können und diese in ihre redaktionelle Arbeit einbinden: das Integrationspotenzial der Digitalisierung weitergedacht, ist es für Lokalangebote nur konsequent, ihre treuen User über soziale Netzwerke zur Interaktion zu bewegen und sie unmittelbar am Entstehungsprozess der Berichterstattung teilhaben zu lassen. Kein Bündnis ist nachhaltiger als eine Gemeinschaft aus Freunden und Fans.
  4. regionale, lokale und hyperlokale Akzente setzen können: Ein guter Lokaljournalist wird in seiner Berichterstattung komplexe Themen stets herunterbrechen und sie durch eine regionale oder lokale „Brille“ betrachten – ob es um die Eurokrise, den Bundeswehreinsatz in Afghanistan oder die Papstwahl geht: Es gibt für fast jede Nachricht immer auch eine (hyper-)lokale Bezugsgröße – man muss sie nur suchen.  
  5. Alltagserlebnisse und -erfahrungen in ein publizistisches Gesamtkonzept einbetten: Gerade die Ordnung und Kontextualisierung eines regionalen Geschehens – also die Bereitstellungsqualität einer Zeitung oder Magazinsendung – machen das Lokale so wertvoll; erst wenn ein Ereignis redaktionell gerahmt, journalistisch gedeutet und inhaltlich bewertet wurde, ergibt es für uns Bürgerinnen und Bürger einen Sinn.
  6. Erheblich mehr Spielraum für Experimente und Innovationen haben: Diesen letzten Punkt muss man wörtlich verstehen, denn er bedeutet, dass der Lokaljournalismus noch spielerischer, experimentierfreudiger mit innovativen Darstellungsformen, der Einbindung des Publikums, neuen Geschäftsmodelle oder Location-Based-Services umgehen kann, als es die oft schwerfälligen überregionalen Flaggschiffe je könnten.

Wer diese Heimvorteile für Selbstverständlichkeiten hält, den belehrt die Realität oft eines Besseren. Es klingt paradox, aber um eine digitale Überlebensstrategie zu entwickeln, muss der Lokaljournalismus lediglich bereit sein, die Kompetenzen und Qualitäten, über die er ohnehin verfügt, weiter ausbauen, verfeinern und den neuen Umgebungen anpassen. Der journalistische Erfolg stellt sich dann ganz von selbst ein.

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