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Den digitalen Code knacken: 7 Kriterien für Qualität im Digitalen

Die Digitalisierung verändert sowohl den Journalismus als auch die Kriterien für Qualität von Journalismus. Aber wie lassen sich gute von schlechten Inhalten unterscheiden?

Der Wackelpudding. Vielen, die jemals journalistische Qualität zu erklären versucht haben, dürfte der Vergleich schon mal begegnet sein: Qualität im Journalismus zu definieren, so der Kommunikationswissenschaftler Stephan Ruß-Mohl komme dem Versuch gleich, einen Pudding an die Wand zu nageln. Das war Anfang der 90er Jahre. Obwohl man sich stets bemühte, dem Qualitätsbegriff durch spezifische Merkmalseigenschaften oder empirisch abgeleitete Kriterien Leben einzuhauen, ließ sich der Pudding nicht ohne weiteres fixieren.

Die Digitalisierung mit ihren Neuerungen fordert die Qualitätsforschung und ihre Definitionsversuche nun aufs Neue heraus: Junge Menschen, die andere publizistische Ansprüche und Konsumgewohnheiten haben, verändern die Anforderungen an journalistische Produkte und Angebote grundlegend.

Interaktive Darstellungsformen, mobile Vertriebskanäle und der veränderte Publikumsgeschmack erfordern es, das metrische System dessen, was die Beschaffenheit und Güte – so die eigentliche Bedeutung von „Qualität“ – des Journalismus ausmacht, neu zu bestimmen: Denn was hochwertigen, aber auch was miserablen Journalismus unter digitalen Vorzeichen ausmacht, muss nicht zwangsläufig den Vorstellungen der Nutzer (und Journalisten) von vor 20 Jahren entsprechen.

Im Rückblick der vergangenen Jahrzehnte unterlag der Journalismus, also das Metier und Handwerk, einer stetigen Transformation. Nicht nur in seinen technologischen Ausprägungen und sozialen Verteilsystemen, auch in der öffentlichen Kenntlichkeit seiner Akteure und in seinem Selbstverständnis scheint ein enormes Spektrum neuer Rollenmuster und ökonomischer Abhängigkeiten auf, die den Beruf vor ernsthafte Herausforderungen stellen.

Umso erstaunlicher, wie wenig Aufmerksamkeit den realen Effekten digitaler Technologien auf die journalistische Berufspraxis geschenkt wird. Welche konkreten Auswirkungen die unverwechselbaren Eigenschaften des Internet – Schnelligkeit, Unmittelbarkeit, Interaktivität, grenzenlose Kapazität, globale Erreichbarkeit – auf die Qualität des netzbasierten Journalismus haben, hielt der amerikanische Journalist Michael Massing in einer bemerkenswerten Tour d‘Horizon durch die New Yorker Journalismus-Startup-Szene für die „New York Review of Books“ fest.

Fazit seiner Redaktionsvisite: Trotz ihres stetig wachsenden Einflusses stellen die proprietären Eigenschaften des Netzjournalismus noch keine Qualitätsmerkmale per se dar. Sie legen jedoch die zentralen Grundpfeiler für Innovationsgeist und kreatives Potenzial frei, die das journalistische Handwerk und Leitbild qualitativ revolutionieren können – wenn journalistische Medienangebote sich darauf einlassen, konsequent digital zu denken.

Auch wenn sich die journalistische Aussagenproduktion weitgehend treu geblieben ist, sind jene Arbeitsweisen überholt, die sich an der klassischen Verbreitung in Presse, Nachrichtenagenturen und audiovisuellen Medien orientieren. Das ursprünglich aus dem periodischen Nachrichtenwesen entstandene Berufsbild wurde einstweilen durch zahlreiche technologische, soziale und ökonomische Innovationen beeinflusst.

Doch erst das technologische Potenzial, wie es sich für Journalisten im Übergang zur Digitalen Moderne darstellt, hat sich in einer Dynamik entwickelt, die medienhistorisch einmalig ist: Die Digitalisierung hat dazu geführt, dass sich die journalistischen Kommunikationsebenen und Hierarchien verschieben und sich Eliten aus Politik, Wirtschaft und Kultur neu verflechten.

Damit einhergehen nicht nur besondere Qualifikationsanforderungen an die Journalisten, um eine faire, unabhängige und distanzierte Berichterstattung zu gewährleisten, sondern auch neue Qualitätsvorstellungen seitens des Publikums.

Strittig ist allerdings, ob und wie es Journalisten angesichts der zunehmenden Durchlässigkeit des Pressewesens und eines radikal veränderten Nutzungsverhaltens künftig überhaupt noch gelingen kann, die immer weiter verstreute Publikum mit Informationen, Kommentaren und Analysen regelmäßig zu erreichen.

Disruption fördert neue Qualitätsstandards

Ein anderer Mosaikstein, der zur qualitativen Beurteilung der Publikumsbeziehungen herangezogen werden kann, ist die gesellschaftliche Verortung der kapitalkräftigen Digitalkonzerne. Apple, Facebook, Google, Netflix, LinkedIn oder Twitter besitzen die strategisch wichtigsten sozialen Plattformen zur Verbreitung und Vermarkung journalistischer Inhalte. Es scheint nur ein konsequenter Schritt, dass einige von ihnen dabei sind, eigene journalistische Ressourcen und Kompetenzen aufzubauen.

Zugleich befördern diese Konzerne mit ihrer globalen Netzinfrastruktur im digitalen Raum eine wachsende Kluft zwischen armen Inhalteproduzenten und reichen Datenverwertern. Dass die technologische Evolution den medienöffentlichen Qualitätsdiskurs im Hinblick auf Klassengegensätze, Geschlecht und Herkunft egalitärer und ökonomisch unangreifbarer macht, ist also eine Milchmädchenrechnung. Im Ganzen gesehen passt sich die digitale Sphäre eher einer kommerziellen Verwertungslogik an, die zum Beispiel der Intervention politischer Interessengruppen Tür und Tor öffnet und damit dem journalistischen Versprechen einer möglichst unparteiischen Berichterstattung entgegenwirkt.

Trotz oder gerade wegen solcher Einflussfaktoren hat in den USA die Bereitschaft unter Journalisten stark zugenommen, sich der digitalen Wende bedingungslos zu stellen. Die Macher von Buzzfeed, Vox Media, FiveThirtyEight, The Intercept, Quartz, Storyhunter, Business Insider, Vice, Gawker, Medium, Politico, ProPublica, The Upshot, Re/code und andere digitale Newcomer scheinen in dem Begriff Disruption – Angstwort vieler Traditionalisten – jedenfalls eher einen Neuanfang zu sehen, um neue digitale Qualitätsstandards durchzusetzen.

Journalistische Produkte werden in der amerikanischen Start-up-Szene nach allen Regeln der Kunst durchdekliniert – und vor allem: Sie werden vom Publikum her gedacht. Die Qualitätsfrage ist dabei nicht beliebig, auch keine Frage des persönlichen Geschmacks der Journalisten, sondern orientiert sich an der technologischen Vielfalt, die das Netz zu bieten hat.

Akkuratesse, Authentizität, Aktualität, Ausgewogenheit, Fairness, Faktizität, Glaubwürdigkeit und Transparenz: So lautet in etwa der Qualitätskatalog, den Praktiker hierzulande herunterbeten, wenn sie nach einer Definition des Qualitätsbegriffs gefragt werden – und der nach wie vor Gültigkeit besitzt. Doch hat der professionelle Journalismus in der digitalen Neuzeit längst eine Trendwende erlebt, die sich als qualitätssteigerndes Moment in den Produkten der US-Pioniere bemerkbar macht.

„Anspruchsvoller Journalismus bedeutet heute nicht mehr allein die exzellente Recherche, der starke Artikel, das ganz besondere Angebot“, schrieb Mathias Müller von Blumencron vor etwas mehr als einem Jahr in der FAZ anlässlich des 20-jährigen Bestehens des Online-Journalismus. „Anspruchsvoller Journalismus“, so Müller von Blumencron, „muss sich vor allem auch Gehör verschaffen im kakophonischen Informationslärm der neuen Meinungswelt. Nur so wird es den klassischen Medien gelingen, neue Leser zu gewinnen und die alten zu halten“.

An dieser Sichtweise wird deutlich, warum die Qualitätsofferten des Journalismus weder eindimensional noch monokausal, sondern multiperspektivisch gedacht werden müssen. Vor allem die Debattenqualität der Presse wird sich daran messen lassen, ob es den Journalisten gelingt, das in etliche Teilöffentlichkeiten versprengte Publikum auf gemeinsame Gesprächsangebote zu verpflichten.

So hat sich die ehrwürdige New York Times in ihrem legendären Innovationsreport 2014 selbst gerügt, dass sie trotz der Hochwertigkeit ihrer journalistischen Inhalte noch nicht genügend Energie auf die Kunst und Wissenschaft verwendet hat, wie sie mit ihrem Journalismus möglichst viele Leser erreichen kann: „We have always cared about the reach and impact of our work, but we haven’t done enough to crack that code in the digital era“, heißt es mit neidischem Blick auf die in New York ansässigen Wettbewerber Buzzfeed & Co.

Sieben Qualitätskriterien für die Zukunft

Um den „Code der digitalen Ära“ zu knacken, wie Journalismus in der Digitalität beschaffen sein muss, damit er eine belastbare soziale Bandbreite erreicht, lässt sich ein Set an digitalen Qualitätskriterien benennen, das gleichsam an den traditionellen Wertekanon anschließt:

  1. Movability – Alles wird beweglich: Wandernde Inhalte, die ein Eigenleben im Netz entwickeln, sind gefragt. Die Motivation vieler Verlage, neuerdings bei Facebook Instant Articles zu veröffentlichen, entspricht genau diesem Wunsch, Inhalte möglichst lange durch die soziale Netzwerkwelt mäandern zu lassen, um eine hohe Wahrnehmung möglichst vieler Nutzer zu erreichen. Damit journalistische Beiträge reisetauglich werden, müssen sie in Form und Machart unterschiedliche Zielgruppen ansprechen und eine potenziell hohe Sharing-Quote bei Twitter, Facebook oder WhatsApp aufweisen. Die Selbstvermarktung einzelner Journalisten zum Zwecke der höheren Sichtbarkeit im Netz trägt zur Stärkung der eigenen Follower-Gemeinde und damit zur maximalen Verbreitung und Rezeption wandernder Inhalte bei.
  1. Intermediacy – Einladung zum Mitmachen: Die Funktionalität des Netzes baut zu großen Teilen auf ihren augenblicklichen Interaktionsvorteilen auf – die allerdings von vielen Redaktionen bisher nur peripher angeboten und eigefordert genommen werden. Diese Unmittelbarkeit verspricht neue Optionen für direkte Publikumseinbindung, etwas bei Votings, mit dem die Nutzer an die journalistischen Absender gebunden werden können – Stichwort Mitmach-Kultur. Der aktivierte Rückkanal mit dem Publikum, der etwa durch E-Mail-Newsletter (Morning Briefings), Konferenzen, Open-Newsroom-Sessions oder Workshops konsolidiert werden kann, hilft Journalisten, ihre Nutzer intensiver kennenzulernen und ihre spezifischen Vorlieben besser einzuschätzen, im Idealfall sie sogar in die Erstellung journalistischer Geschichten einzubinden.
  1. Conversational Ability – Einfach verständlich: Eng damit verknüpft ist die Konversationsfähigkeit journalistischer Angebote, die eine hohe Verständlichkeit des Informationsgehalts bei gleichzeitig betonter Anschlussfähigkeit, etwa an aktuelle Debattenthemen, gewährleisten. ProPublica, Business Insider, Vox Media und The Upshot bieten mit ihren Explainer-Journalism-Konzepten schon lange eine Steilvorlage für derlei diskursives Potenzial. Vor allem Vox Media hat mit Angeboten wie dem Newsletter-Format „Vox Sentences“ und „Card Stacks“ bewiesen, dass selbst komplizierte Themen wie die Flüchtlingskrise, Obamacare, die Todesstrafe und die US-Waffengesetzgebung auch für eher uninformierte Zielgruppen heruntergebrochen werden können, ohne wesentlich an Substanz zu verlieren. Die verständliche Ansprache und das Abholen des Nutzers bei seinen Wissenslücken bilden aber nur dann einen qualitativen Mehrwert, wenn die Inhalte nicht allzu vereinfacht werden.
  1. Linkability – Wert der Vernetzung: Eine Wortkreation, die auf die digitalen Möglichkeiten der Quellentransparenz und der Vernetzung miteinander interagierender und aufeinander verweisender Inhalte zurückzuführen ist. Von Links, also den Bindegliedern und Querverweisen zu anderen Web-Inhalten, machen Journalisten schon seit Existenz des Netzes Gebrauch. Doch der wahre Wert einer solchen Verweisstruktur offenbart sich erst, wenn sich wie bei Medium, ProPublica oder Politico innerhalb geschlossener Beiträge zusätzliche Informationstiefen erschließen und Datenschätze heben lassen. Solche Linkverzeichnisse stellen im Idealfall Recherche- und Datenquellen bereit, klären über politische wie wirtschaftliche Machtverbindungen auf, machen eigene Fehler und Beitragschroniken transparent und erlauben Anmerkungen von Nutzern und Machern – und verbessern somit die Güte des journalistischen Produkts insgesamt.
  1. Visual Engagement – Neue Bildsprache: In Erfolgszeiten von YouTube ein naheliegendes Merkmal, das aber in Richtung des klassischen Journalismus gar nicht genügend weitergedacht werden kann. Denn die an audiovisuellen Reizen orientierte jüngere Generation der Mediennutzer erfordert ein Umdenken im Hinblick auf die Visualisierungsoptionen journalistischer Inhalte. Anregend und gewinnend sind Inhalte für viele Nutzer inzwischen erst dann, wenn sie zumindest optische Signale und Elemente wie interaktive Flash-Grafiken, GIFs, animierte Illustrationen und Fotos, Cliparts, Memes und Videos präsentieren. Buzzfeed, Vice oder Gawker sind in dieser Hinsicht vorbildhaft, weil sie nahezu jedem Thema eine eigenständige Bildsprache zuordnen – und sei es nur, um den Nutzer in einen Beitrag hinein zu locken. Zugespitzt gesagt: für Journalisten ist es von vorne herein überlegenswert, ob sie eine Geschichte nicht besser anhand einer aussagekräftigen GIF-Strecke oder Bildergalerie erzählen, bevor sie anfangen zu schreiben.
  1. Remixing – Dramaturgie des Erzählens: Die Verwendung unterschiedlicher Darstellungselemente, mithin das Kombinat aus Text, Audio, Foto, Video, interaktiver Grafik und Animation, hat 2012 dank der mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichneten Webreportage „Snow Fall. The Avalanche at Tunnel Creek“ (New York Times) über mehrere Skiläufer, die in eine tödliche Lawine geraten, ihren Durchbruch erlebt. Die Machart des multimedialen Storytellings wurde seither weltweit kopiert: „Arabellion“ (Rhein-Zeitung), „100 Jahre Tour de France“ (Zeit Online), „Firestorm“ (The Guardian), „Fort McMoney“ (Arte), „Leben und Tod in Texas“ (NZZ), „Geheimer Krieg“ (NDR/Süddeutsche Zeitung) und „Mein Vater, ein Werwolf“ (Spiegel Online) beweisen, dass das digitale Remixing unter Zugriff auf vielfältige Erzählformen in Text, Bild, Ton und Daten dramaturgisch besser funktionieren kann, als dies bisher bei reinen Print- oder TV- Geschichten der Fall war. Eine qualitative Bereicherung ist die Kombination unterschiedlicher Elemente dann, wenn der rote Faden einer Geschichte erkennbar bleibt und das Storytelling nicht überfrachtet wird.
  1. Playfulness – Spielend erleben: Ein großes Erfolgsgeheimnis journalistischer Angebote liegt im menschlichen Spieltrieb – in Zukunft noch mehr als heute. Denn spielerische Elemente erhöhen nicht nur den Interaktionsradius und das Empathievermögen der Nutzer, weil diese einen aktiven Part in einer Geschichte übernehmen. Sie reduzieren durch die Unmittelbarkeit des Rezeptionserlebnisses auch die Komplexität. Bei Web-Stories mit Computerspiel-Charakter, sogenannten Newsgames, zeigt sich, warum eine subjektive Spielerperspektive (mit wechselnden Rollen) eine Qualitätsadaption im Hinblick auf Kurzweiligkeit und Aneignung informativer Angebote bedeutet. Auch wenn viele Spiele noch nicht ausgereift sind, was die publizistischen Ziele angeht, gab es bereits Anfang 2014 mit dem „Project: Syria“ ein Vorzeigeprojekt, das deutlich macht, wie intensiv Nutzer in eine virtuelle Welt eintauchen. Dieser Immersive-Journalism-Ansatz von Syria-Macherin Nonny de la Pena hat in den Gehversuchen im Bereich Virtual Reality des Aktivistenportals Ryot oder den 360-Grad-Dokumentarfilmen der Produktionsfirma Deep Inc. jedenfalls weitere spielerische Nachahmer gefunden. Der qualitative Mehrwert entsteht in allen genannten Beispielen dadurch, dass die Spieler in Gefahrensituationen oder in bestimmte Orte in der Welt eintauchen können, zu denen sie in der Regel keinen Zutritt haben.

Auch wenn die „Internetkommunikation die Schwäche des anonymen und asymmetrischen Charakters der Massenkommunikation auszugleichen scheint“, wie Jürgen Habermas bemerkte, könne das Netz „der zentrifugalen Tendenz nichts entgegensetzen“. In dem 2008 erschienenen Büchlein „Ach, Europa. Kleine politische Schriften“ erinnert der Sozialphilosoph Habermas vor allem an die Schwierigkeiten dieser Zentrifugalkräfte als unmittelbarer Folge des digitalen Strukturwandels, die nun auch den Journalismus auf seine wichtigste Probe stellen: „Vorerst fehlen im virtuellen Raum die funktionalen Äquivalente für die Öffentlichkeitsstrukturen, die die dezentralisierten Botschaften wieder auffangen, selegieren und in redigierter Form synthetisieren.“

Folgt man diesen Gedanken, zeichnen sich Publikationserfolge vor allem dort ab, wo Journalisten erfolgreich gegen soziale Zerfallsprozesse arbeiten. Die unabdingbare Voraussetzung dafür wäre ein digitales Qualitätsverständnis.


 

Dieser Artikel ist zuerst im Journalist 10/2015 erschienen.

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