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Wie Fotografie wieder eine Branche mit Zukunft wurde

Der Retro-Foto-Trend war erst der Anfang eines neuen Zeitalters der Wertschätzung von professioneller Fotografie in den 2010er und 2020er Jahren. Zwei Experten blicken zurück – eine Utopie.

June O’Sullivan und Levi Zimmermann, beide Ende 30, sind seit gut zehn Jahren im Foto-Business unterwegs. Sie teilen sich ein geräumiges Loft-Büro mit eigenem Atelier und Showroom in den ehemaligen Schlachthöfen im Hamburger Schanzenviertel. Während er sich in seinen Arbeiten auf subjektive Multiplex-Fotografie mit extravaganten Arrangements spezialisiert hat, die seit längerem reißenden Absatz vor allem in der Kunstszene finden, ist sie als Fotoreporterin unter dem Pseudonym „picturecat“ für alle möglichen Online-Nachrichtenangebote der aus dem um sich greifenden Zeitungssterben der 2020er Jahre übrig gebliebenen Großverlage unterwegs. Seit vor einigen Jahren aus den USA mit der fünften iPad-Generation die Slow-Media-Bewegung nach Europa schwappte und neue alternative Geschäftsmodelle für Fotografen erschloss, sind die beiden gut im Geschäft.

Noch während ihres Fotografie-Studiums an der Nikon University of Applied Sciences in Cambridge Mitte der 2010er Jahre sah alles ganz anders aus, denkt June: Sie und Levis Ausbildung schien trotz eines hohen Praxisanteils zunächst ins Nichts zu führen. Es war zu jener Zeit gerade für freiberufliche Fotografie-Studenten schlicht unmöglich, mit den immer kürzer werdenden Innovationszyklen im Bereich der Kamera und Videotechnik Schritt zuhalten. Noch im Oktober 2010 wurde auf der Canon Expo in Paris, nach Photokina und PMA in Las Vegas die weltweit bedeutendste Fachmesse für Foto-Gadgets, eine Hybrid-Foto-Videokamera mit vierfacher HDTV-Auflösung vorgestellt, deren Sensor wegen des so genannten 4K-Formats erstmals Fotos mit Frequenzen von bis zu 60 Bildern pro Sekunde und hochwertige Zeitlupen beim Filmen erlaubte.

Investition im Wert eines Kleinwagens

Weil die Technikdetails für damalige Verhältnisse revolutionär waren – zum Einsatz kam ein 20-fach-Zoom mit einer enormen Brennweite – und ihr nahender Studienabschluss sie bald in die Selbstständigkeit entlassen würde, investierten sie in eine solche Konzeptkamera im Wert eines Kleinwagens, die allerdings schon kurze Zeit später nicht mehr State of the Art war.

Denn schon zwei Jahre später zogen Konkurrenten wie Nikon, Leica, Sony und Hasselblad für nur die Hälfte des Preises mit technisch weiter entwickelten Kameras nach. Ob nun Insekten-Linsen, Hybrid-Technologie, Lichtempfindlichkeit, Megapixelwahn, Multiband-Sensorik, Bildrauschen, Anti-Blooming-Effekte, Auslese-Speed oder Chipgröße – die in immer schnelleren Abständen wiederkehrenden technologischen Schübe und die allgemeine Preistreiberei, die in den Jahren danach einsetzte, waren für die gesamte Branche frustrierend, erinnert sich June: Nicht nur finanziell, auch professionell gesehen fühlten sich viele Fotografen durch die Technisierung ihres Berufs zunehmend überfordert.

Gerade die von Adobe entwickelte Computional Photography, die nicht nur die Dreidimensionalität von Fotos, sondern auch den digitalen Postproduktionsprozess radikal veränderte, verlangte ihnen im Laufe ihrer Karriere immer wieder neue Software- und zuweilen sogar Programmierkenntnisse ab – ein ermüdender Prozess gerade für die älteren unter ihnen, die ihrer Tätigkeit in den späten 1980er Jahren noch aus Leidenschaft nachgegangen waren, ihn aber seit der Jahrtausendwende immer häufiger als schwierigen Überlebenskampf im Wettlauf gegen die Hyper-Synthetisierung der gesamten Lebenswelt erlebten.

Comeback der Retro-Fotografie

Ende der 2010er Jahre brach dann eine Zeit an, die auch Levi und sie noch bewusst als Comeback-Phase der – wie sie es damals gerne liebevoll nannten – „Retro-Fotografie“ erinnern: Die sich in Amerika und Europa formierende Slow-Media-Bewegung, die sich analog zur Slow-Food- oder zur Slow-Art-Bewegung als eine Art Gegenkonzept zum Fast-Food-Medienkonsum durchsetzte, indem sie sich zum Beispiel für nachhaltige Recherchen und Akkuratesse im journalistischen Produktionsprozess stark machte, färbte plötzlich auch auf den Fotojournalismus ab. Das wirkte sich auf die gesamte professionelle Szenerie aus: Immer mehr Mediennutzer schlossen sich der Bewegung an, weil sie inzwischen Premium-Fotoarbeiten konsumieren wollten und sogar bereit waren, dafür auch mehr Geld zu bezahlen.

Retro-Fotografie © Bilder: gingero.us (CC BY-NC-ND 2.0) width=
© Bilder: gingero.us (CC BY-NC-ND 2.0)

Einer der Hauptverfechter der Slow-Media-Bewegung, der britische Medienvisionär Tyler Brûlé, der vor mehr als zwei Dekaden stilbildende Magazine wie „Monocle“ und „Wallpaper Magazine“ erfunden hatte und inzwischen als Herausgeber des renommierten, durch Spenden finanzierten Reportage-Portals „ireporter.net“ amtiert, glaubte damals schon, dass in den Medien ein kulturelles und wirtschaftliches Umdenken stattfinden würde – ähnlich wie zuvor in der Autoindustrie oder im Energiebereich. Er war überzeugt davon, dass immer mehr Menschen früher oder später gesteigerten Wert auf Medienqualität auch in der Fotografie legen, und Zeitungsverlage wie Agenturen auf diesen Wunsch nach einer Entschleunigung im gesamten Medienbereich reagieren würden – zugunsten von Fotografen und Reportern.

Dass Brûlé mit seiner Prognose Recht behalten sollte, wie sich wenig später herausstellte, war aber letztlich das Verdienst einiger potenter Verbände und Initiativen umtriebiger Fotojournalisten, die den Ausverkauf der traditionellen Fotografie öffentlich anprangerten. Mit spontanen, oft sehr hintersinnigen Kampagnen wie dem „Free Foto Day“, an dem 2018 europaweit in fast allen journalistischen Online-Publikationen keine professionellen Nachrichtenbilder erscheinen konnten, weil etliche Fotoreporter und Fotoredakteure in einer konzertierten Protestaktion ihre Zuarbeit verweigerten, wehrten sie sich vehement gegen den schleichenden Realitätsverlust des Visuellen und sensibilisierten Teile der Gesellschaft für das authentische Bild.

Monetarisierung der professionellen Fotografie

Tyler Brûlé war es jedoch, der zu dieser Zeit gemeinsam mit anderen Medienveteranen wie dem Kriegsfotografen James Nachtwey, dem Web-2.0-Vordenker Tim O’Reilly und Ex-„Wired„-Chef Chris Anderson vor einigen Jahren in San Francisco das Kreativ-Lab „mediamaze“ gründete, dass sich zum Ziel setzte, tragfähige Internet-Strategien zu entwickeln, die neben journalistischen Inhalten auch die berufsmäßig betriebene Fotografie in einer durch und durch computerisierten Branche langfristig erhalten und ihre Qualitäten monetarisieren sollte.

Eine der bahnbrechenden Ideen, die auch Levi und sie zum Umdenken veranlasste, war ebenso simpel wie genial: Die Kreativschmiede aus Kalifornien ersann mit Facebook, das seit dem Fincher-Kinohit „The Social Network“ von 2010 nur noch ehrfürchtig TSN genannt wurde, eine für beide Seiten profitable Kooperation.

Das weltumspannende Netzwerk feierte um 2020 herum gerade den zweimilliardsten Nutzer – einen gewissen Wu Xiabo aus Shanghai, der tatsächlich mit dem bekannten chinesischen Regimekritiker Liu Xiabo verwandt ist. Facebook oder genauer gesagt: Mark Zuckerberg hatte 2018 außerdem die „New York Times“, das „Time Magazine“ und einige andere angeschlagene Printverlage übernommen.

Seitdem verfolgte der inzwischen 33-Jährige den Plan, Facebook auch journalistisch zu vermarkten. Die Gründer von „media maze“ wussten von Zuckerbergs Plänen und konnten ihn davon überzeugen, innerhalb von Facebook eine gigantische Closed-Web-Plattform für Journalisten und Fotografen namens „cover.me“ einzurichten, die nach Apples iTunes-Prinzip journalistische Texte, Podcasts, Fotos, Videos und sogar komplette Slideshows an Redaktionen, Agenturen und Unternehmen verkaufte. Für jedes geklickte Bild zahlten Facebook-User nur einen einzigen Cent über Paypal, der direkt an die Urheber zurückfloss, während Zuckerberg mit den Medienpartnern lukrative Abo-Verträge aushandelte – ein gutes Geschäft für alle Beteiligten.

Rasend schneller Kontakt zum Direktabnehmer

Der eigentliche Clou an „cover.me“ war aber nicht das Geschäftsmodell, sondern der Netzwerk- und Blog-Charakter, der es gerade den jungen Nachwuchsfotografen erlaubte, ihre potenziellen Kunden auf direktem Wege zu erreichen, die ihre Zielgruppen dank der drahtlosen Online-Bildübertragung wiederum rasend schnell über mobile Endgeräte versorgen konnten.

Auch Levi und sie gewannen Direktabnehmer, es bildeten sich unter den Nutzern des Portals zuweilen ganze Fan-Gemeinschaften, die beide für ein größeres Qualitätsbewusstsein in der Fotografie begeistern konnten: Die bewusste Darstellung und Interpretation einer Situation oder eines Ortes, also das, was die dokumentarische und konzeptionelle Fotografie seit zwei Jahrhunderten prägte, war wieder zum anerkannten Gütesiegel geworden. Die willkürliche Knipserei nach dem „Bild“-Leserreporter-Prinzip konnte nur wenige Jahre danach noch in der Boulevardpresse reüssieren.

Aber auch ihre Nutzer werden allmählich der nebenbei geschossenen Promi-, Event- und Verkehrsunfall-Bilder überdrüssig. Die meisten Menschen wissen stattdessen wieder die Vorzüge der professionellen Fotografie zu würdigen, mit unverfälschten Bildern starke Geschichten zu erzählen, eine Verantwortung für Berichtenswertes zu entwickeln, das von gesellschaftlicher Relevanz ist und die schönen Dinge des Lebens ästhetisch zu reflektieren.

Überall her und überall hin

Rückblickend hat das Internet den Fotomarkt komplett umgekrempelt, denkt June, vor allem die Produktion und den Konsum: Ein Foto kann heute überall herkommen und überall hingehen, in beliebigen Maßen und Mengen. Fast jeder kann es produzieren, überlegt June, und fast jeder kann es konsumieren. Es kommt aus Scannern, Röntgengeräten und Kernspintomografen, aus iPhones, iPads und aus Überwachungskameras, Laptopkameras, Kompaktkameras, Profigeräten.

Schon als das erste Foto vor 200 Jahren entstanden ist, als die Fotografie noch sperrig und umständlich war, gab es diese Anlage zur Grenzenlosigkeit, aber erst vor 20 Jahren wurde sie so richtig aktiviert. Das Zeitalter der digitalen Fotografie hat diesen Drang um ein Vielfaches verstärkt, glaubt June: Ohne Bilder würde das Netz nicht funktionieren, genauso wenig, wie es ohne Worte funktionieren würde. Levi und sie hatte dieser Wandel letztlich darin bestärkt, sich beharrlich auf die eigene Bildsprache und einen besonderen Blick zu spezialisieren, der sie dann doch noch zu souveränen Navigatoren in den komplexen Bilderfluten machte.

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