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Stephen Engelberg: „Unsere News-App ist der Archetypus eines neuen Journalismus“

Was der Pulitzer-Ruhm bewirkt hat, warum eine News-App journalistisch ist und wie „ProPublica“ ein plattformübergreifendes Denken etabliert – Chef vom Dienst Stephen Engelberg im VOCER-Interview.

Das 2008 gestartete renommierte amerikanischen Onlineportal „ProPublica“ ist in vielerlei Hinsicht besonders: Es finanziert nicht sich durch Werbung, sondern durch Stiftungsgelder und private Spenden. Es ist das bisher einzige Onlinemedium, das zwei Mal einen Pulitzerpreis errang. Und es glänzt mit innovativen datenjournalistischen Anwendungen, die anderen Medien zur Verfügung gestellt werden. Chef vom Dienst Stephen Engelberg erläutert, wie „ProPublica“ arbeitet.


VOCER: Wie entscheiden Sie, welche Geschichten es wert sind, aus dem spendenfinanzierten Budget von ProPublica finanziert zu werden?

Stephen Engelberg: Unsere Aufgabe ist es, Geschichten zu veröffentlichen, welche einen Machtmissbrauch und einen Verrat an der Allgemeinheit ans Licht bringen. Wir denken also sehr stark darüber nach, welche Themen dieser Bedingung genügen, die nicht schon von anderen Medien abgedeckt werden und zugleich ein maximal großes Publikum erreichen. Es gibt Fälle, wo wir ebenfalls berichtet haben, obwohl ein Thema schon von vielen anderen Medien veröffentlicht wurde. Aber das machen wir nur, wenn wenn wir glauben, dass wir einen neuen Ansatz entdeckt haben, über den noch nicht berichtet wurde. Zum Beispiel bei der Explosion einer BP Bohrinsel im Golf von Mexiko. Wir hatten einen Reporter vor Ort, der vorher bereits für andere Medien über das Thema berichtet hatte. Er sah die Ereignisse als symptomatisch an für den generellen Umgang mit dem Aspekt Sicherheit bei BP. Deshalb haben wir eine Reihe von Berichten zu diesem Aspekt veröffentlicht, welche das konkrete Ereignis in einen größeren Zusammenhang stellten. Aber im Allgemeinen suchen wir uns lieber Themen, an denen nicht schon viele andere Medien dran sind.

Ist die Zusammenarbeit mit anderen Medien ein Weg, um eine Hebelwirkung für knappe Stiftungsgelder zu erzielen?

Ja. Unsere Zusammenarbeit mit anderen Medien bezieht sich zwar mehr auf die Verbreitungsplattformen. Aber wir kollaborieren auch bei der Recherche und Produktion. Wir haben mit dem öffentlich-rechtlichen Radiosender National Public Radio (NPR) bei einer Geschichte über traumatische Hirnverletzungen bei Soldaten in den Kriegen im Irak und in Afghanistan zusammengearbeitet. Wir haben Leistungen und Einsichten von einem sehr talentierten NPR-Reporter bekommen und umgekehrt hat NPR in gleicher Weise von uns profitiert. Beide Partner konnten dadurch etwas erreichen, was sie alleine wahrscheinlich aus Zeitmangel nicht geschafft hätten. Kollaboration kann also beides bewirken – die Verbreitung unserer Geschichten an ein möglichst großes und auch möglichst einflussreiches Publikum und eine Hebelwirkung für unsere knappen Ressourcen. Wir haben insgesamt nur 20 Reporter. Obwohl viele große Redaktionen in den USA Redakteure entlassen mussten, sind sie immer immer noch viel größer als wir.

Mit wem arbeiten Sie sonst noch zusammen?

Wir haben eine Reihe von Berichten in Zusammenarbeit mit der „Washington Post“ veröffentlicht, wir hatten Berichte in der „New York Times“ und eine sehr fruchtbare Zusammenarbeit mit der Lokalzeitung in New Orleans, „The Times Picayune„, die zu mehr als einem Jahr Recherche über das Fehlverhalten der lokalen Polizeibehörden führte, das haben wir gemeinsam mit mehreren guten Reportern von „The Times Picayune“ als auch der öffentlich-rechtlichen TV-Sendung „Frontline“ gemacht. Wir haben außerdem mit den Websites „Politico„, „Slate“ und „Salon“ kollaboriert. Wir glauben, dass manche Geschichten am besten im Radio erzählt werden sollten, andere eher visuell, und manchmal funktioniert beides.

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Wie reagieren Redaktionen, die normalerweise nach exklusiven Stories streben, wenn sie mit anderen Medien teilen sollen?

Das hängt vor allem von den persönlichen Beziehungen zu den beteiligten Personen ab. Wenn man die Institutionen betrachtet, ist es verständlich, dass ein führendes Traditionsmedium uns gegenüber Skepsis hegt. Wenn wir aber ein wirklich gutes Thema mit wichtigen Dokumenten oder Daten auf den Tisch legen, dann schmelzen die Bedenken dahin, und die Leute haben Spaß daran, an einer guten Geschichte gemeinsam zu arbeiten. Es ist uns in den vier Jahren unseres Bestehens bisher sehr selten passiert, dass wir aufstehen und gehen mussten, weil wir uns einfach nicht einigen konnten.

Spielt es eine Rolle, dass „ProPublica“ inzwischen zwei Pulitzerpreise gewonnen hat?

Es ist auf jeden Fall besser, als wenn wir sie nicht gewonnen hätten. Es hat uns generell bei den Stiftungen geholfen, und es hat unsere Glaubwürdigkeit bei potenziellen Kooperationspartnern erhöht. In der amerikanischen Medienlandschaft signalisiert dieser Preis auf vielfältige Weise, dass jemand die höchste Stufe im Wettbewerb erreicht hat. Jede Redaktion in den USA reicht Beiträge und Serien beim Pulitzerpreis-Gremium ein, aber nur drei oder vier Wettbewerber in jeder Kategorie werden nominiert und nur einer davon geht jeweils als Sieger hervor. Es ist also sehr schwierig, überhaupt jemals einen Preis zu bekommen. Wir fühlen uns geehrt, dass wir zwei haben, und ich glaube, das hat uns geholfen.

Eine der bekanntesten und einflussreichsten Anwendungen, die „ProPublica“ bisher produziert hat, ist die im Herbst 2011 veröffentlichte Newsapp „Dollars for Docs„. Was war der Anlass dafür, und wie funktioniert die App?

In den USA gibt es die für Europäer sicherlich reichlich merkwürdig anmutende Unsitte, dass Pharmaunternehmen Ärzte dafür bezahlen dürfen, dass sie vor ihren Kollegen Vorträge über verschreibungspflichtige Medikamente halten. Der Interessenkonfikt liegt auf der Hand. Wer Tausende und Abertausende von Dollar von einem Pharmaunternehmen mit bestimmten Medikamenten im Sortiment erhält, wird eine gewisse Loyalität empfinden. Öffentliche Informationen über diese Abhängigkeiten gab es früher nicht, aber einige Pharmaunternehmen taten dabei außerdem etwas Illegales. Sie brachten Medikamente in Umlauf, für die sie noch keine Zulassung hatten, und 14 von ihnen wurden im Rahmen von Vergleichen dazu verurteilt, im Internet die Namen der Ärzte anzugeben, denen sie Geld bezahlten hatten und wieviel sie ihnen bezahlt hatten. Das taten sie auch. Allerdings in einer Weise, die es sehr schwer machte, aus den Daten schlau zu werden. Unsere Journalisten, die dieses Thema verfolgen, und unsere Datenjournalisten, die darauf spezialisiert sind, Datensätze auszuwerten und Datenbänke zu erstellen, gaben die Namen der Ärzte in eine zentrale Datenbank ein. Jetzt kann jeder im ganzen Land den Namen seines Arztes eingeben und nachschauen, ob und wieviel Geld er von Pharmaunternehmen bekommt.

Was ist daraufhin passiert?

Die App ist revolutionär, sowohl für Patienten als auch für medizinische Fakultäten und Universitätskliniken, weil sie die Annahme von Geldern verboten, aber bisher keine Mittel hatten, um die Einhaltung des Verbots zu kontrollieren. Jetzt benutzen sie unsere „Dollars for Docs“-App, um festzustellen, was ihre Fakultätsmitglieder treiben, und in einigen Fällen haben sie festgestellt, dass Leute Geld von der Pharmaindustrie angenommen hatten, die das nicht hätten tun dürfen. Es ist ein sehr mächtiges Werkzeug. Wir haben mehr als vier Millionen Seitenaufrufe mit dieser App, es ist die beliebste Anwendung, die wir jemals veröffentlicht haben, und sie läuft immer noch fantastisch. Täglich geben Tausende von Nutzern die Namen ihrer Ärzte ein. Wir glauben, dass diese Anwendung der Archetypus eines neuen Journalismus ist, der nicht nur einen Missstand aufdeckt, sondern auch den Nutzern Werkzeuge an die Hand gibt, um sie zum Handeln zu befähigen.

Nutzen Medien ebenfalls Informationen aus der Datenbank?

Auf jeden Fall. Eine Lokalzeitung kann einen Bericht schreiben, der nur auf Daten über Ärzte aus beispielsweise Des Moines, San Francisco oder Boston beruht. In die offene Datenbank kann man eine Postleitzahl eingeben, und dann erscheinen die Namen aller Ärzte in nur diesem Bezirk. Bisher haben mehr als 100 lokale Medienunternehmen Berichte veröffentlicht, die auf Daten aus unserer Datenbank beruhen.

Wie messen Sie Ihre Reichweite? Vor allem auch die Reichweite auf Partnerseiten?

Dafür haben wir mehrere Methoden. Wir nutzen natürlich intensiv die Metriken von Google und andere Werkzeuge, um festzustellen, wo und wann unser Name auftaucht, oder eine Website eine App wie „Dollars for Docs“ verwendet. Wir nutzen aber auch Code. Wir sind eine Creative-Commons-Website. Das bedeutet, dass man unsere Inhalte kostenfrei publizieren darf, solange man sie in Gänze veröffentlicht. Wir bauen aber ein Stück Code ein, der uns jedes Mal mitteilt, wenn der Inhalt woanders aufgerufen wird. Wir erzielen erheblichen Traffic über fremde Websites.

Auf welchen weiteren Plattformen veröffentlichen Sie Ihre Inhalte?

Wir haben eine Vielzahl von Ebooks veröffentlicht. Sie handeln von ganz unterschiedlichen Themen von Hauskrediten bis zu dem Fall eines jungen Flüchtlings aus Guatemala. Wir arbeiten aktuell an einem Ebook über den Immobilienmarkt. Ebooks inklusive Kindle Singles sind für uns ein sehr geeigneter Weg, um längere Berichte zu verbreiten. Wir haben außerdem eine Partnerschaft mit der Publishing-Plattform „Open Roads„. Radio ist für uns ein weiterer effektiver Verbreitungsweg. Wir kooperieren sehr eng mit NPR, zum Beispiel mit der Sendung „This American Life„, die wöchentlich jeweils einstündige Features ausstrahlt. Wir waren dort schon mit mehreren großen Geschichten vertreten, die eine große Wirkung erzielten. Wir sind Plattform-agnostisch. Wir sind bereit, mit nahezu jeder Plattform zu kooperieren, wenn wir glauben, dass wir dadurch mehr Nutzer erreichen.

Glauben Sie, das stiftungsfinanzierter Journalismus künftig eine größere Rolle spielen wird?

Es scheint auf jeden Fall so. Ich glaube, dass zwei Trends zusammenkommen. Das Geschäftsmodell der traditionellen Presselandschaft steht weiterhin unter Druck. Die Entlassungswellen bei den amerikanischen Zeitungen dauern an, aber die Stiftungen gehen inzwischen größere finanzielle Verpflichtungen ein als vor vier oder fünf Jahren. Die Ford Stiftung unterstützt eine kommerzielle Zeitung, die „Washington Post“. Die Medien sind eine Branche, die wertvoll für unsere Demokratie und es deshalb wert ist, unterstützt zu werden. Ich glaube deshalb, dass stiftungsfinanzierter Journalismus künftig eine größere Rolle spielen wird.


Crossposting mit freundlicher Genehmigung unseres Medienpartners:
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