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Die neuen Lokalmatadore

Journalismus blüht in den USA dort auf, wo er lokal und experimentierfreudig ist. Gefragt sind Journalisten, die unternehmerisch denken können – ein Patentrezept für die Zukunft?

Springerstiefel, Tränengas, über den Köpfen der Menge kreisende Hubschrauber, Auseinandersetzungen mit der Polizei – im heißen Herbst der Occupy-Bewegung im kalifornischen Oakland waren die jungen Reporter von „Oakland North“ als Beobachter und Berichterstatter mittendrin statt nur dabei. Ausgestattet mit Mobiltelefonen oder kleinen Digitalkameras konnten sie die Distanz zwischen Akteuren und Reportern viel leichter aufheben als die Fernsehteams. Die Reporter von „Oakland North“ berichteten so hautnah und professionell, dass prominente Blogs wie „BoingBoing“ auf diese Berichte verlinkten und ein Team des TV-Senders MSNBC die Reporter interviewte.

„Für einen jungen Journalisten ist mitten im Geschehen zu sein sowohl furchteinflößend als auch lehrreich“, sagt David Cohn. Der Gründer des spendenfinanzierten Journalismus-Portals „Spot.Us“, das im vergangenen November von der Non-Profit-Organisation Public Insight Network übernommen wurde, lehrt mittlerweile am Journalismus-Institut der University of California in Berkeley. Dort betreiben Studenten unter Anleitung jeweils eines Dozenten drei lokale Blogs für die San Francisco Bay. Neben „Oakland North“ sind das „Richmond Confidential“ und „Missionlocal“.

Das Ausprobieren neuer Formen von Lokaljournalismus – Studenten tun dies weitgehend in Eigenregie in Blogs und Webplattformen – gehört inzwischen an mehreren Hochschulen, die Journalismus lehren, zum Programm.

Unabhängige Angebote schließen die Lücken

Der Hintergrund: In den vergangenen zehn Jahren ist in den USA jede fünfte lokale Tageszeitung verschwunden. 1.500 von ihnen gab es auf dem Markt. Und die verbliebenen Redaktionen, einst üppig besetzt, sind heute oft nur noch halb so groß. In der Bay Area von San Francisco war einst der „Chronicle“ das bedeutendste Blatt an der Westküste. Er hat in den vergangenen fünf Jahren seine Auflage halbiert und geriet immer wieder nahe an die Insolvenz. 1.000 Journalisten verloren seit 2007 beim „Chronicle“ und kleineren Medien in der Region ihre Arbeitsplätze.

Doch gerade dort, wo der Kahlschlag am größten ist, versuchen neue unabhängige Angebote die Lücken zu schließen. In der Bay Area ist in der gleichen Zeit eine Vielzahl lokaler und hyperlokaler Blogs entstanden: manche auf kommerzieller Basis, manche als Non-Profit-Projekte oder auch als reines Hobby. Und es gibt größere journalistische Projekte, die von Stiftungen oder mit Spenden finanziert sind.

So gibt es beispielsweise die „San Francisco Public Press“, eine kostenlose Zeitung, die Lokalpolitik auch den Bürger der Region zugänglich macht, die keinen Internetanschluss haben oder kein Zeitungsabonnement – immerhin ein Drittel der Bevölkerung. Und das 1977 gegründete Center for Investigative Reporting (CIR) in Berkeley, geleitet vom ehemaligen „Chronicle“-Redaktionsleiter und Pulitzer-Preisträger Robert Rosenthal, betreibt das „California Watch“. Politik, Behörden und Lobbyisten in Kalifornien sind die Themen dieser Publikation, die als Nachrichtenagentur für hochwertigen regionalen Journalismus  eine wichtige Rolle spielt. Und der „Bay Citizen“, den es vor allem im Netz gibt, veröffentlicht seit 2010 zweimal wöchentlich Beiträge für die Bay-Area-Regionalausgabe der „New York Times“.

Non-Profit-Portale

Das CIR und der „Bay Citizen“ haben jüngst ihre Fusion angekündigt. Es fehle an Plattformen von Belang für die regionale Liga, sagt der kalifornische Medienanalyst Ken Doctor zur Erklärung. Auf nationaler Ebene würden investigative Geschichten mittlerweile schon von Non-Profit-Portalen wie „ProPublica“ recherchiert. Regional könnte nun die neue Organisation mit mehr als 50 erfahrenen Journalisten kritische und unabhängige Berichterstattung für ganz Kalifornien bieten.

In den Bundesstaaten Texas und Minnesota haben die beiden Non-Profit-Portale „Texas Tribune“ und „MinnPost“ einen solchen Rang bereits erreicht.

Doctor geht davon aus, dass angesichts dieser erfolgreichen Beispiele ähnliche Non-Profit-Portale auch in weiteren Bundesstaaten entstehen werden. „Wir reden hier nicht über immens viel Geld“, sagt er. „Mit 50 bis 100 Millionen Dollar Jahresbudget lässt sich schon eine Menge bewirken.“ Eine Lokalzeitung zu halten, die das publizistische Niveau von „MinnPost“ oder „Texas Tribune“ erreicht, wäre auf jeden Fall teurer.

Die Frage nach dem Geschäftsmodell

Wie auf hyperlokaler Ebene Journalismus wirtschaftlich sein kann, das erforscht David Cohn mit seinen Studenten. Die Lokalblogs „Richmond Confidential“, „Oakland North“ und „Missionlocal“ brauchen jeweils ein Geschäftsmodell, um nach dem Auslaufen ihrer Stiftungsfinanzierung 2013 weiterbestehen zu können. Experimentiert wird mit Marktplätzen auf den Blogs, mit verschiedenen Sponsorenmodellen, mit dem Verkauf von Werbeplätzen sowie mit Facebook- und Twitter-Anbindung.

Studenten und Journalisten können anhand dieser Projekte lernen, wie man ein kleines journalistisches Unternehmen führt. „Alle Journalisten sollten ein Grundverständnis haben, wo das Geld herkommt, von dem ihre Gehälter bezahlt werden“, sagt auch Jeremy Caplan. Er lehrt mit Jeff Jarvis Unternehmerjournalismus an der New Yorker City University. Was bislang nur ein Wahlfach war, ist neuerdings ein eigener Studiengang. „Wer im Journalismus arbeitet, weiß, dass sich die wirtschaftlichen Verhältnisse schnell ändern können. Darauf sollten wir vorbereitet sein.“

Nachholbedarf in Deutschland

Auch in der deutschen Medienlandschaft wird die Fähigkeit, journalistisch zu denken und gleichzeitig zu merken, wohin der Markt sich entwickelt, geschätzt. Journalisten, die in eigenen Agenturen oder Netzwerken mit Programmierern kooperieren und Medien-Apps oder datenjournalistische Anwendungen marktreif entwickeln, sind sehr gefragt. Doch gefördert wird Unternehmergeist in der überwiegend verlagsgebundenen Journalistenausbildung in Deutschland kaum.

Die wenigen Unternehmerjournalisten auf dem deutschen Markt haben sich ihre Marktkenntnisse selbst angeeignet; zu ihnen gehören zum Beispiel der Blogger Richard Gutjahr, Hardy Prothmann mit seinem „Heddesheimblog“ oder Michael Wagner mit seinem Fußballportal „FuPa“.

Themenspezifische Projekte

Jenseits des Atlantiks fördern hingegen Stiftungen wie Knight, Ford und McCormick, aber auch viele kleinere Mäzene journalistische Neugründungen durch Wettbewerbe und Ausschreibungen systematisch.

So ist eine Vielzahl innovativer journalistischer Projekte außerhalb von Medienkonzernen entstanden. Neuerdings entstehen vor allem Plattformen für lokale und zugleich themenspezifische Zielgruppen, sagt Caplan, nachdem die hyperlokalen Plattformen und Medien-Apps so erfolgreich sind. „Es gibt mehr Nischenangebote für Nutzer, die nicht in große Schubladen gesteckt werden wollen“, sagt er und nennt fiktive Beispiele: „Ein Krebspatient in New York interessiert sich nicht unbedingt für eine medizinische Hilfeseite, sondern vielleicht speziell für eine, bei der man sich mit anderen New Yorker Patienten vernetzen kann.“ Ein anderes Projekt ist real: Eine seiner Studentinnen mit indianischen Wurzeln entwickelt derzeit eine Journalismus- und Community-Plattform für kanadische Indianer.

Unternehmerjournalisten gefragt

An der New Yorker City University gründen nicht alle Studenten nach ihrem Abschluss ein eigenes Unternehmen, obwohl ein tragfähiges wirtschaftliches Konzept als Abschlussprojekt verlangt wird. Die besten Konzepte werden von der McCormick-Stiftung mit einer Anschubfinanzierung belohnt. Aber auch Unternehmerjournalisten, die lieber eine Festanstellung in einem etablierten Medienunternehmen wollen, haben bessere Chancen, wenn sie unternehmerisch denken können. Caplan sagt: „Es gibt kaum etwas, das attraktiver auf Personalchefs wirkt, als ein Berufsanfänger, der schon seine eigene Webseite aufgebaut, sein eigenes Projekt gestartet hat, mit der Videokamera umgehen und eine Social Media Kampagne durchführen kann.“

Wohin der Journalismus im digitalen Zeitalter steuern wird, das weiß auch in den USA keine Hochschule, kein Start-up und kein Medienkonzern sicher. Doch so viele Experimente dazu, wie er aussehen könnte, hat es nie zuvor gegeben. Wenn sich nur einige der Innovationen als nachhaltig erweisen, wird der Journalismus insgesamt davon profitieren.


Dieser Beitrag erschien ursprünglich bei „Zeit Online“ im Rahmen der Videoreihe über Innoationen aus New York. Mehr in unserem Dossier „Rebooting the News“. Außerdem zum Thema Innovationen aus den USA: „In den Laboren des Journalismus“.

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