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Das Versprechen von Solingen

Vor 20 Jahren verlor Mevlüde Genc beim rechtsextremistischen Brandanschlag von Solingen fünf Familienmitglieder. So etwas darf nie wieder passieren. Ein Appell von Cem Özdemir.

Was sagt man einer Frau, die zwei Töchter, zwei Enkelinnen und eine Nichte bei einem rechtsextremistischen Brandanschlag verloren hat? Einer Mutter, die mehr Weisheit und Güte in jedem einzelnen Finger hat, als viele derer, die damals über gescheiterte Integration und mangelnde Integrationsfähigkeit von Deutsch-Türken gesprochen haben, es bis heute gerne und verallgemeinernd tun? Woher nur nimmt Mevlüde Genc die Kraft, nicht nur nicht zu hassen, sondern von Deutsch-Türken und Türken in der Türkei auch noch einzufordern, nicht pauschal über Deutschland oder „die“ Deutschen zu urteilen?

Ich erinnere mich an ein Frühstück mit Mevlüde Genc, ihrer Familie sowie NRW-Bildungsministerin Sylvia Löhrmann. Jeder Satz von Frau Genc war nicht nur druckreif, es steckte darin auch der tiefe Humanismus eines Mevlana, Yunus Emre oder Haci Bektas, Vordenkern eines anatolischen Humanismus und Islam. So wie sie ihre Religion interpretieren und im Alltag lebt, sind Mevlüde Genc, Martin Luther King und Desmond Tutu Geschwister im Geiste. Eine würdigere Trägerin des Bundesverdienstkreuzes, das ihr 1996 verliehen wurde, kann es nicht geben. „Hier ist meine Heimat“, hat sie erst kürzlich wieder erklärt – und das ausdrücklich auf Solingen bezogen. In Solingen hat sie am 29. Mai 1993 durch einen hinterhältigen Brandanschlag fünf Familienmitglieder verloren.

Über Parteigrenzen hinweg haben viele Persönlichkeiten der deutschen Politik Frau Genc regelmäßig besucht und den Kontakt gepflegt. Ich denke dabei etwa an Johannes Rau, den ehemaligen Ministerpräsidenten Nordrhein-Westfalens und späteren Bundespräsidenten, an Armin Laschet, ehemaliger Integrationsminister Nordrhein-Westfalens, oder die bereits genannte Sylvia Löhrmann, die nordrhein-westfälische Schulministerin. Für viele Deutsch-Türken ist die Erinnerung an den Brandanschlag in Solingen immer noch präsent. Ein Besuch der Familie Genc vermittelt auch die Botschaft: „Eure Sorgen und Ängste sind auch unsere, wir werden euch nie allein lassen und ich will auch Euer Vertreter sein, in dem was ich tue.“

Versöhnende Gesten

Für Mevlüde Genc und ihre Familie muss es besonders schmerzhaft gewesen sein, von den NSU-Morden zu erfahren. Ihr Deutschland, für das sie sich trotz des unvorstellbaren Leids, das sie erfahren haben, mit versöhnenden Gesten so sehr eingesetzt haben – es hat erneut versagt. Diesmal waren es nicht einfach „nur“ einige fehlgeleitete Jugendliche, die im Schutze der Dunkelheit ihr Mordwerk verrichteten. Nein, diesmal zog eine rechtsterroristische Gruppe über ein Jahrzehnt mordend und raubend durchs Land, während die Sicherheitsbehörden erschreckend stümperhaft agierten, als hätte es den Brandanschlag in Solingen, aber auch die Anschläge und Ausschreitungen in Mölln, Rostock-Lichtenhagen und Hoyerswerda nie gegeben.

Nach dem Brandanschlag in Solingen hat unsere Gesellschaft der Familie Genc versprochen, dass wir alles tun werden, damit sich nie wieder so etwas in unserem Land wiederholt. Wir haben allen Feinden der Demokratie und des Humanismus den Kampf erklärt. Nach den NSU-Morden sollten wir uns daran erinnern und dieses gesellschaftliche Versprechen erneuern – und wirklich alles tun, damit Rassismus, egal aus welche Ecke und welcher Couleur, in unserem Land tatsächlich keine Chance hat.

Präventionsarbeit stärken

Der Schutz unserer Verfassung ist eine Aufgabe der ganzen Gesellschaft. Auch ist „Erziehung zur Demokratie“, etwa in unseren Kitas und Schulen, kein Selbstläufer. Wir müssen die Bildungs- und Präventionsarbeit insgesamt stärken und zivilgesellschaftliche Organisationen, die sich gegen jegliche Form von Demokratiefeindlichkeit, Gewalt und Menschenverachtung engagieren, auch finanziell besser unterstützen. Auch die Bundeszentrale für politische Bildung kann mit einer verbesserten Ausstattung einen wertvollen Beitrag zur Demokratieförderung leisten.

Das Bundesamt für Verfassungsschutz gehört in seiner bisherigen Form allerdings aufgelöst – wir brauchen eine institutionelle Neugründung mit klar eingegrenzten nachrichtendienstlichen Befugnissen, einem neuem Personalstab und anderem Selbstverständnis, das sich auf die Aufklärung gewaltbereiter Bestrebungen beschränken sollte. Nicht zuletzt sollten sich, ebenfalls als Konsequenz aus dem Scheitern der Sicherheitsbehörden bei der NSU-Mordserie, Bundes- und Landesbehörden künftig wesentlich besser koordinieren. 

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